Eier, Schinkenspeck, Würstchen, Tomaten, Pilze - und waren das etwa Nierchen? Kincaid schob die fraglichen Fleischstückchen mit der Gabelspitze auf die Seite. Nieren zum Abendessen, das konnte er verkraften, aber zum Frühstück - das war denn doch des Guten zuviel. Sonst jedoch hatte man sich im Chequers wahrhaftig nicht lumpen lassen. Er betrachtete das üppige Frühstück, das blütenweiße Tischtuch, die Vase mit den bunten Löwenmäulchen und sagte sich, er sollte vielleicht dankbar dafür sein, daß Sir Gerald Asherton solchen Einfluß genoß. Wenn er sonst dienstlich außerhalb zu tun hatte, war er selten so komfortabel untergebracht.
Da er spät aufgestanden war, hatten die tugendhafteren Frühaufsteher ihr Frühstück längst beendet, als er kam, so daß er den Speisesaal für sich allein hatte. Beim Essen blickte er durch das Fenster in den feuchten, windigen Morgen hinaus und genoß die ungewohnte Muße. Der Wind trieb in Wirbeln die Herbstblätter vor sich her, deren Gold- und Rosttöne einen leuchtenden Kontrast zum noch grünen Gras des Kirchhofs bildeten. Die ersten Kirchgänger trafen zum Morgengottesdienst ein, und bald waren die Straßen rund um die Kirche von einem Ende zum anderen mit parkenden Autos gesäumt.
Er fragte sich, weshalb eine Kirche in einem so kleinen Dorf wie Fingest eine solche Menschenmenge anzog, und bekam plötzlich Lust, das selbst zu ergründen. Er stopfte sich den letzten Bissen Toast in den Mund und rannte noch kauend die Treppe hinauf, holte sich eine Krawatte aus seinem Zimmer und knotete sie hastig auf dem Rückweg nach unten.
Die Kirchenglocken begannen zu läuten, als er sich in die letzte Bankreihe schob. Die Anschläge im Vestibül hatten ihm rasch Antwort auf seine Frage gegeben - diese Kirche war für den gesamten Sprengel da, nicht nur für das Dorf. Höchstwahrscheinlich war es auch die Kirche der Ashertons. Sicher kannten viele hier die Familie, und manche waren vielleicht nur aus Neugier gekommen, um sie zu sehen.
Von den Ashertons jedoch erschien niemand, und eingelullt vom geordneten Ablauf des Gottesdienstes, kehrte er in Gedanken zu den Ereignissen des vergangenen Abends zurück.
Er hatte ein paar Minuten gebraucht, um sie soweit zu beruhigen, daß sie ihm ihren Namen sagte - Sharon Doyle -, und selbst das hatte sie erst getan, nachdem er ihr seinen Dienstausweis übergeben und sie ihn so angestrengt studiert hatte, als bereite ihr Lesen und Schreiben große Mühe.
»Ich wollte nur meine Sachen holen«, sagte sie, als sie ihm den Ausweis zurückgab. »Ich hab schließlich ein Recht drauf. Da kann einer sagen, was er will.«
Kincaid wich bis zum Sofa zurück und setzte sich. »Wer würde denn sagen, daß Sie dieses Recht nicht haben?« fragte er leichthin.
Sharon Doyle verschränkte die Arme über der Brust. »Sie!«
»Sie?« wiederholte Kincaid, der sich schon damit abgefunden hatte, daß hier Geduld gefragt war.
»Na, Sie wissen schon. Seine Frau. Julia«, sagte sie, spöttisch eine Aussprache nachäffend, die kultivierter war als ihre eigene. Nach dem ersten Schrecken schien die Feindseligkeit die Oberhand gewonnen zu haben, dennoch kam sie nur ein paar Schritte näher an ihn heran und blieb dann mit gespreizten Beinen in Abwehrhaltung stehen.
»Sie haben einen Schlüssel«, bemerkte er mehr in feststellendem als in fragendem Ton.
»Con hat ihn mir gegeben.«
Kincaid musterte das weiche, rundliche Gesicht, sehr jung noch hinter der Fassade von Make-up und Dreistigkeit. Behutsam sagte er: »Woher wissen Sie, daß Connor tot ist?«
Mit zusammengepreßten Lippen starrte sie ihn an. Dann fielen ihre Arme herab, und ihr Körper sank in sich zusammen. »Ich hab’s im Pub gehört«, antwortete sie so leise, daß er sie kaum hörte.
»Setzen Sie sich doch.«
Sie ließ sich in den Sessel ihm gegenüber sinken, als wäre sie sich ihres Körpers gar nicht bewußt, und sagte: »Gestern abend. Ich bin ins George rübergegangen. Er hatte nicht angerufen, wie er es versprochen hatte, und da hab ich mir gedacht, also ich hock bestimmt nicht allein zu Hause rum und dreh Däumchen. Ich find schon einen, der mir einen Drink spendiert - soll Con mir doch gestohlen bleiben. Das hab ich gedacht.« Ihre Stimme geriet ins Schwanken, und sie hielt einen Moment inne. Flüchtig leckte sie sich mit der Zungenspitze die Lippen. »Im Pub haben sie alle nur davon geredet. Am Anfang hab ich gedacht, sie wollen mich verschaukeln.« Sie schwieg und wandte ihren Blick von ihm ab.
»Aber dann haben sie Sie überzeugt?«
Sharon nickte. »Ja, dann kam einer von den Stammgästen rein, er ist Constable. Und die andern haben gesagt, frag Jimmy, der wird’s dir bestätigen.«
»Und haben Sie ihn gefragt?« hakte Kincaid nach, als sie wieder in Schweigen versank.
Sie saß zusammengekrümmt in ihrem Sessel, die Arme wieder über der Brust verschränkt, und als er sie musterte, glaubte er einen schwachen bläulichen Schimmer um ihre Lippen zu entdecken. Er stand auf und ging zu dem Servierwagen mit den Getränken, den er bei seiner früheren Inspektion des Zimmers gesehen hatte. Er nahm zwei Sherrygläser vom oberen Tablett und füllte sie aus einer Sherryflasche, die er darunter fand.
Er sah, daß im offenen Kamin Holz für ein Feuer aufgeschichtet war, zündete es mit einem Streichholz aus der Schachtel auf dem Sims an und wartete, bis die Flammen hell zu lodern begannen.
»Da wird Ihnen gleich ein bißchen wärmer werden«, sagte er, als er zu Sharon zurückkehrte und ihr den Sherry anbot. Sie sah mit stumpfem Blick zu ihm auf und hob die Hand, doch das Glas kippte, als sie es entgegennahm, und etwas von der blaßgoldenen Flüssigkeit schwappte über den Rand. Als er ihre starre Hand nahm, um sie fester um das Glas zu legen, spürte er, daß sie eiskalt war.
»Sie frieren«, sagte er. »Hier, nehmen Sie meine Jacke.« Er schlüpfte aus seinem Tweedsakko und legte es ihr um die Schultern, dann ging er auf der Suche nach dem Thermostat für die Zentralheizung durch das Zimmer. Die großen Fenster und der nach südländischer Art geflieste Boden waren zwar gefällig, aber für das englische Klima nicht allzu geeignet.
»So ist es richtig.« Er setzte sich wieder und führte sein eigenes Glas zum Mund. Sie hatte etwas von ihrem Sherry getrunken, und er meinte, eine schwache Röte in ihren Wangen zu sehen. »Prost«, fügte er hinzu und nahm einen Schluck. Dann sagte er: »Ich kann mir denken, daß es Ihnen seit gestern abend sehr schlecht geht. Haben Sie denn den Constable nach Connor gefragt?«
Sie trank noch einen Schluck, dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Er hat gesagt >Warum wollen Sie das denn wissen?< und hat mich mit so einem kalten Blick angesehen. Da hab ich gewußt, daß es wahr ist.«
»Und haben Sie ihm gesagt, warum Sie es wissen wollten?«
Sharon schüttelte den Kopf. »Ich hab nur gesagt, daß ich ihn eben kenn. Dann haben sie angefangen, sich drüber zu streiten, wer die nächste Runde zahlen müßte, und ich bin durch die Hintertür raus.«
Ihr Überlebensinstinkt hatte, fand Kincaid, selbst im Schock gut funktioniert, ein Hinweis darauf, daß sie hinreichend Erfahrung darin hatte, für sich selbst zu sorgen.
»Und was haben Sie dann getan?« fragte er. »Sind Sie hierhergekommen?«
Es dauerte einen Moment, ehe sie nickte. »Ich hab stundenlang draußen rumgestanden. Es war eiskalt. Aber ich hab immer noch gedacht, wissen Sie, daß er vielleicht...« Sie drückte rasch beide Hände auf ihren Mund, doch er hatte das Beben ihrer Lippen gesehen.
»Sie hatten doch einen Schlüssel«, sagte er. »Warum sind Sie nicht einfach hineingegangen und haben hier gewartet?«
»Ich hab ja nicht gewußt, ob nicht vielleicht noch jemand kommt. Dann hätt ich vielleicht zu hören gekriegt, daß ich kein Recht hab, hier zu sein.«
»Aber heute haben Sie den Mut gefunden.«
»Ich brauch doch meine Sachen«, erwiderte sie, aber sie wandte sich ab, und Kincaid hatte den Verdacht, daß mehr als das dahintersteckte.
»Und warum sind Sie noch gekommen, Sharon?«
»Das würden Sie doch nicht verstehen.«
»Versuchen Sie’s mal.«
Sie sah ihm in die Augen und schien eine Möglichkeit des Verständnisses in ihnen zu finden, denn nach einer kleinen Pause sagte sie: »Ich bin jetzt ein Niemand, verstehen Sie? Ich hab mir gedacht, daß ich nie wieder einfach hier sein kann wie ... Wir haben es oft sehr schön hier gehabt, Con und ich. Ich wollte mich erinnern.«
»Glaubten Sie nicht, Con könnte Ihnen die Wohnung hinterlassen haben?« fragte Kincaid.
Sie blickte in ihr Glas hinunter und schwenkte es leicht hin und her. »Das hätte er gar nicht gekonnt«, sagte sie so leise, daß er sich vorbeugen mußte, um sie zu hören.
»Wieso nicht?«
»Sie gehört ihm nicht.«
Der Sherry hatte sie nicht sehr gesprächig gemacht. Es war mehr als mühsam, etwas aus ihr herauszubekommen. »Wem gehört sie denn?«
»Ihr.«
»Connor hat in Julias Wohnung gewohnt?« Er fand die Vorstellung äußerst merkwürdig. Warum hatte sie ihn nicht hinausgeworfen und war selbst geblieben, anstatt zu ihren Eltern zurückzukehren? Dies schien ihm für zwei Menschen, die angeblich nichts mehr miteinander hatten zu tun haben wollen, ein viel zu freundschaftliches Arrangement.
Es ist natürlich möglich, sagte er sich, während er die junge Frau betrachtete, die ihm gegenübersaß, daß es gar nicht stimmt. Vielleicht hatte Connor nur eine praktische Ausrede gebraucht.
»Ist das auch der Grund, weshalb Connor nicht wollte, daß Sie mit ihm zusammenziehen?«
Sein Jackett glitt von Sharons Schultern, als sie die Achseln zuckte. »Er hat gesagt, es war einfach nicht recht, weil die Wohnung doch Julia gehört.«
Kincaid hatte sich Connor Swann eigentlich nicht als einen Mann mit moralischen Skrupeln vorgestellt, doch es war ja nicht die erste Überraschung, die er in bezug auf diesen Menschen erlebte. Mit einem Blick zur Küche fragte er: »Kochen Sie?«
Sharon sah ihn an, als sei bei ihm eine Schraube locker. »Natürlich kann ich kochen. Wofür halten Sie mich?«
»Nein, so meinte ich das nicht. Ich wollte wissen, wer hier gekocht hat, Sie oder Connor?«
Sie schob schmollend ihre Unterlippe vor. »Er hat mich überhaupt nicht in die Küche reingelassen, als wär’s eine Kirche oder so was. Reste essen wären barbarisch, hat er gesagt, und in seiner Küche würden höchstens Eier und Wasser für die Nudeln aufgewärmt.« Mit dem Glas in der Hand stand sie auf und ging zum Eßtisch hinüber. Während sie mit einem Finger langsam über die Platte strich, sagte sie: »Aber er hat für mich gekocht. Das hat noch nie einer getan. Für mich hat überhaupt noch nie jemand gekocht außer meiner Mutter und meiner Großmutter.« Sie blickte auf und starrte Kincaid an, als sähe sie ihn zum erstenmal. »Sind Sie verheiratet?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich war mal verheiratet, aber das ist lange her.«
»Was ist passiert?«
»Sie ist gegangen. Sie hatte einen anderen kennengelernt.« Er sprach die Worte ganz ohne Ausdruck, mit der Gelassenheit jahrelanger Übung, und dennoch erstaunte es ihn immer noch, daß zwei so schlichte Sätze so tiefen Verrat beinhalten konnten.
Sharon ließ sich das durch den Kopf gehen und nickte dann. »Con hat oft für mich gekocht. Besonders abends. Ein richtiges Diner, wie er immer gesagt hat. Mit Kerzen und gutem Porzellan. Ich mußte am Tisch sitzen bleiben, und er hat mir serviert - Versuch das mal, Shar, versuch dies mal, Shar.< Oft war er richtig komisch.« Sie lächelte Kincaid an. »Manchmal bin ich mir vorgekommen wie ein Kind, das feine Dame spielt. Würden Sie so was für eine Frau tun?«
»Es ist schon vorgekommen. Aber Cons Standard würde ich sicher nicht erreichen - meine Kochkünste beschränken sich mehr auf Omelettes und Käsetoast.« Er fügte nicht hinzu, daß er niemals Lust gehabt hatte, Pygmalion zu spielen.
Die flüchtige Fröhlichkeit, die Sharons Gesicht erhellt hatte, erlosch. Langsam kehrte sie zu ihrem Sessel zurück und sagte mit kleiner Stimme: »So was erleb ich bestimmt nie wieder.«
»Ach was, das bilden Sie sich nur ein«, schalt er und hörte zugleich die falsche Jovialität in seiner Stimme.
»Nein, so wie mit Con wird’s nie wieder.« Kincaid direkt ansehend, fügte sie hinzu: »Ich weiß, daß ich keine Frau bin, für die Männer wie er was übrig haben - ich hab mir immer gesagt, es ist zu schön, um wahr zu sein. Ein Märchen.« Sie rieb sich die Augen, als schmerzten sie von unvergossenen Tränen. »In der Zeitung hat noch nichts gestanden. Wissen Sie, ... wann die Beerdigung ist?«
»Es hat niemand von der Familie Sie angerufen?«
»Mich angerufen?« Ein Teil ihrer früheren Aggressivität kehrte zurück. »Was, zum Teufel, glauben Sie denn, wer mich anrufen sollte?« Sie rümpfte die Nase und fragte dann spöttisch: »Julia? Dame Caroline?«
Kincaid erwog die Frage in allem Ernst. Julia schien entschlossen, so zu tun, als hätte es ihren Mann nie gegeben. Und Caroline? Er konnte sich vorstellen, daß sie es auf sich nehmen würde, eine unangenehme, aber notwendige Pflicht zu erfüllen. »Vielleicht, ja. Wenn sie von Ihnen gewußt hätten. Ich vermute, sie wußten nichts?«
Sie senkte ihren Blick und sagte ein wenig trotzig: »Woher soll ich wissen, was Con ihnen erzählt hat - ich weiß nur, was er zu mir immer gesagt hat.« Sie schob sich mit kurzen Fingern das Haar aus dem Gesicht, und Kincaid bemerkte, daß der Nagel an ihrem Zeigefinger abgebrochen war. Als sie wieder sprach, hatte ihr Ton nichts Trotziges mehr. »Er hat gesagt, er würde für uns sorgen - für Hayley und mich.«
»Hayley?« sagte Kincaid verwirrt.
»Das ist meine kleine Tochter. Sie ist vier. Sie hat letzte Woche Geburtstag gehabt.« Zum erstenmal lächelte Sharon.
Diese Wendung hatte er nicht erwartet. »Ist sie auch Cons Tochter?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ihr Vater hat sich aus dem Staub gemacht, sobald er gehört hat, daß ich schwanger bin. Ein mieses Schwein. Seitdem hab ich kein Wort mehr von ihm gehört.«
»Aber Con wußte von ihr?«
»Na klar. Wofür halten Sie mich, für ein Flittchen vielleicht?«
»Natürlich nicht«, entgegnete Kincaid beschwichtigend und stand auf, um die Sherryflasche zu holen. »Hat Con Ihre kleine Tochter gemocht?« fragte er, während er ihr und sich noch einmal von dem Sherry eingoß.
Als sie nicht antwortete, fürchtete er schon, er habe ihr zuviel Sherry eingeflößt, doch nach einem Moment des Schweigens sagte sie: »Manchmal hab ich mich gefragt ... ob es ihm nicht in Wirklichkeit um Hayley geht und gar nicht um mich. Schauen Sie.« Sie kramte in ihrer Handtasche und zog ein abgegriffenes Lederetui heraus. »Das ist Hayley. Sie ist doch süß, nicht?«
Es war eine billige Porträtaufnahme, aber selbst die künstliche Pose konnte der Schönheit des kleinen Mädchens keinen Abbruch tun. Blond, mit kleinen Lachgrübchen in den Wangen und einem zarten, herzförmigen Gesicht. »Ist sie so brav, wie sie aussieht?« fragte Kincaid mit hochgezogener Braue.
Sharon lachte. »Nein, aber sie sieht wirklich aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben, stimmt’s? Con hat sie immer seinen kleinen Engel genannt. Er hat immer so viel Spaß mit ihr gemacht.« Zum erstenmal wurden ihre Augen feucht. Sie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Julia wollte keine Kinder. Deshalb wollte er sich scheiden lassen, aber Julia war nicht einverstanden.«
»Julia wollte sich nicht von Connor scheiden lassen?« fragte Kincaid, der nach seinen Gesprächen mit Julia und ihren Eltern einen ganz anderen Eindruck gewonnen hatte, obwohl die Frage selbst nie berührt worden war.
»Er wollte sich gleich scheiden lassen, wenn die zwei Jahre um gewesen wären - solang dauert das nämlich, wenn man sich ohne die Zustimmung des andern Partners scheiden lassen will.« Aus der Art, wie sie sich ausdrückte, gewann Kincaid den Eindruck, daß sie diesen Satz auswendig gelernt hatte, vielleicht, um sich selbst zu trösten, daß sie etwas wiederholte, was Connor ihr gesagt hatte.
»Und Sie wollten auf ihn warten? Das hätte doch noch ein ganzes Jahr gedauert, nicht wahr?«
»Warum hätte ich nicht warten sollen?« entgegnete sie mit anschwellender Stimme. »Con hat mir nie Anlaß gegeben zu glauben, daß er es nicht ernst meint.«
Ja, warum nicht? dachte Kincaid. Hätte sie denn bessere Aussichten gehabt? Er sah sie nachdenklich an. Ein wenig zurückgelehnt saß sie in ihrem Sessel, die Unterlippe streitlustig vorgeschoben, beide Hände um ihr Sherryglas gelegt. Hatte sie Connor Swan wirklich geliebt, oder hatte sie ihn nur als guten Versorger gesehen? Und wie war diese sonderbare Beziehung überhaupt zustande gekommen? Er bezweifelte, daß die beiden sich in den gleichen gesellschaftlichen Kreisen bewegt hatten.
»Sharon«, sagte er vorsichtig, »wie haben Sie und Connor sich eigentlich kennengelernt?«
»Im Park«, antwortete sie mit einer Kopfbewegung zum Fluß hin. »Gleich da draußen, in den Themseauen. Man kann es von der Straße aus sehen. Es war im Frühling. Ich hab Hayley beim Schaukeln angeschubst, und sie ist rausgefallen und hat sich das Knie aufgeschlagen und fürchterlich geschrien. Da ist Con rübergekommen und hat mit ihr geredet, und ruckzuck hat sie wieder gestrahlt und ihn angelacht.« Sie lächelte bei der Erinnerung. »Er konnte sie um den Finger wickeln. Er hat uns dann mit hierhergenommen und ihr Knie verarztet.« Als Kincaid eine Augenbraue hochzog, fügte sie eilig hinzu: »Ich weiß, was Sie denken. Erst hab ich auch ein bißchen Angst gehabt, daß er - na ja, Sie wissen schon, irgendwie komisch ist. Aber so war es überhaupt nicht.«
Sharon wirkte jetzt entspannt, die innere Kälte schien gewichen zu sein. Die Beine mit den unglaublichen Schuhen vor sich ausgestreckt, saß sie bequem in ihrem Sessel, das Sherryglas in ihrem Schoß haltend.
»Wie war es denn?« fragte Kincaid leise.
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Die dunkel getuschten Wimpern legten Schatten auf ihre Wangen, während sie mit gesenktem Blick in ihr Glas starrte. »Komisch. Ich mein, mit seinem Job und so hat Con einen Haufen Leute gekannt. Immer war er mit irgend jemand zum Mittagessen oder zum Abendessen verabredet, oder auch zum Golfspielen. Dauernd in Aktion, lauter wichtige Sachen.« Sie hob den Blick und sah Kincaid an. »Ich glaube, er war einsam. Zwischen den vielen Verabredungen und Terminen hat’s gar nichts gegeben.«
Kincaid dachte an den Terminkalender mit der unendlichen Zahl von Einträgen. »Sharon, was hatte Con denn für einen Job?«
»Er war in der Werbebranche.« Sie zog die Brauen zusammen und sagte: »Blakely, Gill... ich weiß nicht mehr, ich kann mich nicht erinnern. Es war jedenfalls in Reading.«
Dann war es kein Wunder, daß er so viele Termine gehabt hatte. Kincaid erinnerte sich des Namens im Scheckverzeichnis und sagte: »Blackwell, Gillock und Frye.«
»Genau.« Sie nickte strahlend.
Kincaid rief sich das Scheckverzeichnis noch einmal ins Gedächtnis. Wenn Connor Sharon finanziell unterstützt hatte, so hatte er ihr Bargeld gegeben - ihr Name war nirgends eingetragen gewesen. Es sei denn, er hatte ihr das Geld über eine dritte Person zukommen lassen. Wie beiläufig fragte er: »Kennen Sie jemanden namens Hicks?«
»Ach, dieser Kenneth!« sagte sie wütend und setzte sich mit einem Ruck auf. »Ich hab gedacht, Sie wären er, als ich vorhin reinkam und Sie oben gehört hab. Ich hab gedacht, er wär hergekommen, um sich zu holen, was er kriegen kann, dieser Aasgeier.«
War das der Grund, weshalb sie so erschrocken gewesen war?
»Wer ist dieser Mann, Sharon? Was für eine Verbindung hatte er zu Con?«
»Ach, wissen Sie, Con hatte eine Schwäche fürs Pferderennen«, antwortete sie in nachsichtigem Ton. »Und dieser Kenneth hat bei einem Buchmacher gearbeitet und für Con die Wetten plaziert. Er klebte dauernd an Con dran, und mich hat er behandelt wie Dreck.«
Wenn das zutraf, mußte Connor Swann ein echter Spieler gewesen sein. »Wissen Sie, bei welchem Buchmacher dieser Kenneth Hicks arbeitet?«
Sie zuckte die Achseln. »Bei irgendeinem hier in der Stadt. Wie ich schon gesagt hab, er war immer irgendwo in der Nähe.«
Kincaid, dem die vielen Termine im Red Lion in Connor Swanns Terminkalender einfielen, fragte sich, ob dies der regelmäßige Treffpunkt der beiden Männer gewesen war. »War Con oft im Red Lion Hotel? Ich meine das neben der Kirche, das -«
Sie unterbrach ihn kopfschüttelnd. »Das ist doch eine Touristenfalle. Eine aufgedonnerte Hure, hat Con immer gesagt, wo man nicht mal ein anständiges Bier kriegen könnte.«
Sie hatte entschieden schauspielerisches Talent und ein gutes Gedächtnis für Dialoge. Wenn sie Connor Swann zitierte, konnte Kincaid den Tonfall seiner Stimme hören, selbst den leichten Anklang eines irischen Akzents.
»Nein«, fuhr sie fort, »er ist immer ins Red Lion in Wargrave gegangen. Das ist ein richtiges Pub mit anständigem Essen zu anständigen Preisen.« Sie lächelte, und in ihren Wangen bildeten sich Grübchen, die an ihre Tochter erinnerten. »Das Essen war das Wichtige, wissen Sie - Con ist nie irgendwo hingegangen, wo ihm das Essen nicht geschmeckt hat.« Sie setzte ihr Glas an den Mund und leerte es bis auf den letzten Tropfen. »Mit mir ist er da auch ein paarmal hingegangen, aber am liebsten war er zu Hause.«
Kincaid konnte über diese Widersprüchlichkeiten nur den Kopf schütteln. Der Mann hatte allen Berichten zufolge ein äußerst flottes Leben geführt, getrunken und gespielt, aber am liebsten war er mit seiner Geliebten und deren Kind zu Hause gewesen. Er hatte ferner, wie das aus seinem Terminkalender hervorging, das ganze letzte Jahr jeden Donnerstag mit seinen Schwiegereltern zu Mittag gegessen.
Kincaid dachte an das Ende seiner eigenen Ehe zurück. Obwohl Vic ihn verlassen hatte, war es ihren Eltern irgendwie gelungen, ihn in die Rolle des Bösewichts zu drängen, und er hatte nie wieder von ihnen gehört. Nicht einmal zu einer Weihnachts- oder Geburtstagskarte hatte es gereicht.
»Wissen Sie, was Con donnerstags immer gemacht hat, Sharon?« fragte er.
»Wieso? Das gleiche wie an allen anderen Tagen, soviel ich weiß«, antwortete sie stirnrunzelnd.
Sie hatte also von den regelmäßigen Mittagessen bei den Schwiegereltern nichts gewußt. Was sonst hatte Connor ihr bequemlichkeitshalber verschwiegen?
»Und am letzten Donnerstag, Sharon, an dem Tag, an dem er gestorben ist? Waren Sie da mit ihm zusammen?«
»Nein. Er ist nach London gefahren. Aber ich glaube, ursprünglich hat er das gar nicht vorgehabt. Als ich Hayley abends gefüttert hatte, bin ich rübergekommen, und da war er gerade erst nach Hause gekommen. Total aufgedreht, er konnte kaum ruhig sitzen.«
»Und hat er Ihnen gesagt, wo er gewesen ist?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Er hat nur gesagt, er müßte noch mal ein Weilchen weg. Er hätte noch was zu erledigen.«
»Und er hat Ihnen nicht gesagt, wohin er wollte?«
»Nein. Er hat gesagt, ich soll nicht gleich ausflippen, er wär ja bald wieder da.« Sie streifte ihre hochhackigen Schuhe ab, zog die Beine hoch und rieb sich plötzlich angestrengt die Zehen. Als sie aufsah, waren ihre Augen feucht. »Aber ich konnte nicht bleiben, weil meine Großmutter Donnerstag abends immer Bridge spielt und ich nach Hayley sehen mußte. Ich konnte nicht ...« Sie schlang ihre Arme um die angezogenen Beine und drückte ihr Gesicht auf ihre Knie. »Ich hab ihm nicht mal einen Kuß gegeben«, flüsterte sie, »als er gegangen ist.«
Sie war also gekränkt gewesen, hatte geschmollt und auf kindliche Weise versucht, ihn zu bestrafen. Eine kindliche Reaktion, ein Verhalten, wie es zwischen Liebenden nichts Besonderes war, über das man später im Bett lachen konnte, diesmal jedoch gab es keine Möglichkeit mehr zur Versöhnung. Aus solchen Kleinigkeiten sind lebenslange Schuldgefühle gemacht, und was sie bei ihm suchte, war Absolution. Nun, er würde ihr geben, was in seiner Macht stand.
»Sharon. Sehen Sie mich an.« Er rutschte nach vorn bis zur Sofakante, beugte sich vor und tätschelte ihre gefalteten Hände. »Sie konnten es doch nicht wissen. Keiner von uns ist so vollkommen, daß er jede Minute so leben kann, als wäre es seine letzte. Con hat Sie geliebt, und er hat gewußt, daß Sie ihn lieben. Das ist alles, was zählt.«
Ihre Schultern zuckten. Schweigend lehnte er sich wieder zurück und wartete, bis er sah, daß sie sich langsam entspannte und kaum merklich hin und her zu wiegen begann. Dann sagte er: »Sonst hat Con wirklich nichts darüber gesagt, wohin er wollte?«
Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn zu heben. »Ich hab immer wieder darüber nachgedacht. Über jedes Wort, das er gesagt hat, und über jedes Wort, das ich gesagt hab. Aber ich weiß nichts.«
»Und Sie haben ihn an diesem Abend nicht wieder gesehen?«
»Das hab ich Ihnen doch schon gesagt!« gab sie zurück und hob den Kopf von ihren Knien. Ihre helle Haut war fleckig vom Weinen. Sie schniefte und rieb sich unbefangen die Augen. »Wozu wollen Sie das alles überhaupt wissen?«
Anfangs war ihr Bedürfnis zu sprechen, einen Teil ihres Schmerzes zu äußern, stärker gewesen als alles andere, jetzt aber trat, wie Kincaid sah, ihr natürliches Mißtrauen wieder hervor.
»Hatte Con getrunken?« fragte er.
Sharon lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah ihn unsicher an. »Ich glaub nicht - auf jeden Fall hat er nicht so gewirkt, aber manchmal konnte man’s auch nicht gleich erkennen.«
»Er hat wohl eine ganze Menge vertragen, wie?«
Sie zuckte die Achseln. »Con hat gern was getrunken, aber er ist nie gemein geworden, wie manche andere.«
»Sharon, was glauben Sie, ist Con zugestoßen?«
»Der Idiot ist auf dem Wehr spazierengegangen, reingefallen und ertrunken! Was soll das heißen, >was ist ihm zugestoßen<? Woher, zum Teufel, soll ich wissen, was ihm zugestoßen ist?« Sie schrie jetzt beinahe, und auf ihren Wangen brannten hellrote Flecken.
Kincaid wußte, daß er ihr jetzt als Zielscheibe des Zorns diente, den sie an Connor nicht auslassen konnte - ihres Zorns darüber, daß Connor gestorben war, daß er sie verlassen hatte. »So leicht ertrinkt ein erwachsener Mann nicht, wenn er ins Wasser fällt, es sei denn, er hatte einen Herzinfarkt oder war sturzbetrunken. Wir können diese Möglichkeiten nicht ausschließen, solange wir nicht den Obduktionsbefund kennen, aber ich glaube, wir werden feststellen, daß Connor bei guter Gesundheit war und auch relativ nüchtern.« Während er sprach, wurden ihre Augen immer größer, und sie wich in die Tiefe ihres Sessels zurück, als könnte sie so seiner Stimme entkommen, doch er fuhr erbarmungslos zu sprechen fort. »Er hatte Druckmale am Hals. Ich glaube, daß ihn jemand gewürgt hat, bis er bewußtlos war, und dann ins Wasser gestoßen hat. Wer könnte das getan haben, Sharon? Haben Sie eine Ahnung?«
»Dieses Luder!« stieß sie hervor, und ihr Gesicht unter der Schminke wurde kreidebleich.
»Was -«
Zornig sprang sie auf, stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel vor Kincaid auf die Knie. »Dieses Luder!«
Speicheltröpfchen sprühten ihm ins Gesicht. Er roch den Sherry in ihrem Atem. »Von wem sprechen Sie, Sharon?«
»Sie hat alles getan, um ihn fertigzumachen, und jetzt hat sie ihn umgebracht.«
»Wer, Sharon? Von wem sprechen Sie?«
»Von ihr natürlich. Von Julia.«
Die Frau, die neben Kincaid saß, stieß ihn an. Die Gemeinde hatte sich erhoben und schlug ihre Gesangbücher auf. Er hatte die Predigt, die von dem kahlköpfigen Geistlichen mit kultivierter Gelehrtenstimme vorgetragen worden war, nur bruchstückweise mitbekommen. Hastig stand er auf, schnappte sich ein Gesangbuch und warf einen Blick in das seiner Nachbarin, um die richtige Seite zu finden.
Er sang automatisch, in Gedanken noch immer bei seinem Gespräch mit Connor Swanns Geliebter. Trotz Sharons Anschuldigungen glaubte er nicht, daß Julia Swann überhaupt die körperliche Kraft besaß, die notwendig gewesen war, um ihren Mann zu erwürgen und in den Kanal zu stoßen. Im übrigen hatte sie auch gar nicht die Zeit dazu gehabt, es sei denn, Trevor Simons hatte gelogen, um sie zu schützen. Er wurde aus der ganzen Sache nicht klug und fragte sich, wie Gemma wohl in London vorankam, ob sie bei ihrem Besuch in der Oper irgend etwas Nützliches in Erfahrung gebracht hatte.
Der Gottesdienst ging zu Ende. Die Leute grüßten einander und plauderten beim Hinausgehen freundlich miteinander, aber nirgends hörte er eine Erwähnung Connor Swanns oder der Ashertons. Man musterte ihn neugierig und ein wenig scheu, doch niemand sprach ihn an. Er folgte der Menge nach draußen, aber anstatt ins Hotel zurückzukehren, machte er, den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, einen Spaziergang durch den Friedhof. Aus der Ferne hörte er das Knallen von Autotüren und Motorengeräusche, dann blieb nur das Rauschen des Windes und das Rascheln der Blätter im dichten Gras.
Was er halbwegs gesucht hatte, fand er hinter dem Kirchturm unter einer ausladenden alten Eiche.
»Die Familie«, sagte jemand hinter ihm, »scheint über die Maßen gesegnet, aber auch gestraft zu sein.«
Ein wenig erschrocken drehte Kincaid sich herum. Der Pastor stand mit lose gefalteten Händen und leicht gespreizten Beinen am Grab und betrachtete den Grabstein. Der Wind schlug ihm seine Gewänder um die Beine und blies die dünnen Strähnen grauen Haars über seinen knochigen Schädel.
Auf dem Grabstein stand schlicht: >Matthew Asherton, geliebter Sohn von Gerald und Caroline, Bruder von Julia<.
»Haben Sie ihn gekannt?« fragte Kincaid.
Der Geistliche nickte. »In vieler Hinsicht ein ganz normaler Junge, doch wenn er gesungen hat, war er wie verwandelt, als wäre er über sich selbst hinausgewachsen.« Er blickte von dem Grabstein auf. Seine Augen waren von einem zarten, klaren Grau. »O ja, ich habe ihn gekannt. Er hat in meinem Chor gesungen. Und ich habe ihn den Katechismus gelehrt.«
»Und Julia? Haben Sie Julia auch gekannt?«
Der Geistliche musterte Kincaid einen Moment und sagte dann: »Sie sind mir vorhin schon aufgefallen, ein neues Gesicht in der Gemeinde, ein Fremder, der hier, auf dem Friedhof, offenbar etwas suchte. Aber ich hatte nicht den Eindruck, daß es Ihnen um Sensationsmache geht. Sind Sie ein Freund der Familie?«
Kincaid nahm seinen Dienstausweis heraus und klappte ihn auf. »Duncan Kincaid. Ich untersuche den Tod von Connor Swann«, sagte er, doch noch während er sprach, fragte er sich, ob das nun die ganze Wahrheit war.
Der Pastor schloß einen Moment die Augen, als halte er ein innerliches Zwiegespräch, dann öffnete er sie wieder und zwinkerte kurz, ehe er Kincaid mit durchdringendem Blick ansah. »Kommen Sie doch mit hinüber zu einer Tasse Tee. Im Haus spricht es sich besser als in diesem fürchterlichen Wind.«
»Eine große Begabung ist schon für einen Erwachsenen eine schwere Bürde und Verantwortung, um so mehr für ein Kind. Ich weiß nicht, was aus Matthew Asherton geworden wäre, wäre er am Leben geblieben, um dieser Begabung gerecht zu werden.«
Sie saßen im Arbeitszimmer des Pastors beim Tee. Er hatte sich als William Mead vorgestellt, und während er den elektrischen Wassertopf einschaltete und das Teegeschirr auf ein Tablett stellte, erzählte er Kincaid, daß seine Frau im vorangegangenen Jahr gestorben war. »An Krebs«, hatte er hinzugefügt, das Tablett genommen und Kincaid bedeutet, er solle ihm folgen. »Sie war überzeugt, daß ich allein niemals zurechtkommen würde, aber irgendwie wurschtelt man sich durch. Obwohl ich zugeben muß«, sagte er, als er die Tür zum Arbeitszimmer öffnete, »daß der Haushalt nie meine starke Seite war.«
Die Unordnung in seinem Arbeitszimmer bestätigte seine Worte, doch sie hatte etwas Gemütliches. Bücher, die irgendwann einmal aus dem Regal genommen worden waren, lagen überall herum, selbst auf dem Boden, und an den Teilen der Wände, die nicht von Regalen bedeckt waren, hingen Landkarten.
Während der Pastor einen kleinen Tisch freimachte, um das Tablett darauf abzustellen, trat Kincaid zu einer sehr alt aussehenden Karte, die hinter Glas hing.
»Saxtons Karte der Chilterns, 1574. Es ist eine der wenigen Karten, die den gesamten Gebirgszug zeigen.« Der Pastor hüstelte ein wenig hinter vorgehaltener Hand, dann fügte er ehrlich hinzu: »Es ist natürlich nur eine Kopie, aber ich freue mich trotzdem daran. Das ist nämlich mein Hobby - die Landschaftsgeschichte der Chilterns.
Leider«, fuhr er fort, als legte er ein Geständnis ab, »nimmt diese Liebhaberei weit mehr meiner Zeit und meines Interesses in Anspruch, als sie eigentlich sollte, aber wenn man fast ein halbes Jahrhundert lang jede Woche eine Predigt geschrieben hat, verblaßt der Reiz des Neuen. Und heutzutage besteht selbst in einer ländlichen Gemeinde wie dieser der größte Teil unserer Arbeit darin, bei Problemen des täglichen Lebens zu helfen. Ich kann mich nicht erinnern, wann das letzte Mal jemand mit einer Glaubensfrage zu mir gekommen ist.« Er trank einen Schluck von seinem Tee und sah Kincaid mit einem etwas wehmütigen Lächeln an.
Kincaid erwiderte das Lächeln und kehrte zu seinem Stuhl zurück. »Dann kennen Sie die Gegend hier sicher sehr gut.«
»Jeden Stock und Stein, könnte man sagen.« Mead streckte seine Beine aus. Die Joggingschuhe, die er nach seiner Rückkehr ins Haus angezogen hatte, stachen unter seinem schwarzen Ornat hervor. »Meine Füße sind wahrscheinlich fast so weit gereist wie die von Paulus auf der Straße nach Damaskus«, bemerkte er mit einem Lächeln. »Wir leben hier in einer alten gewachsenen Landschaft, Mr. Kincaid - gewachsen in dem Sinn, daß es keine ausgesprochene Kulturlandschaft ist. Obwohl diese Hügel Teil des Kalksteinrückgrats sind, das Südengland durchzieht, sind sie weit dichter bewaldet als die meisten solcher Hügellandschaften - diese Tatsache hat ebenso wie die von Flint durchsetzte Lehmschicht des Bodens eine weitreichende landwirtschaftliche Entwicklung verhindert.«
Kincaid umschloß seine warme Tasse mit beiden Händen, bereit, sich die Gelehrtenausführungen des Pastors anzuhören. »Das also ist der Grund, weshalb so viele Häuser hier mit Flint gebaut sind«, sagte er und dachte wieder daran, wie überraschend die hellen glatten Kalksteinmauern des Asherton-Hauses auf ihn gewirkt hatten. »Es ist mir natürlich aufgefallen, aber ich habe nicht weiter darüber nachgedacht.«
»Natürlich. Sicher ist Ihnen auch das Muster von Feldern und Hecken in den Tälern aufgefallen. Viele können sich bis in vorrömische Zeiten zurückverfolgen lassen. Es ist das Emmanuels Land< aus John Bunyans Pilgrim’s Progress. >... eine äußerst gefällige Hügellandschaft, mit schönen Wäldern, Weinbergen, Früchten aller Art; auch Blumen und Quellen und Brunnen; sehr köstlich anzusehen.<
Worauf ich hinaus will, Mr. Kincaid«, fuhr der Pastor mit einem Augenzwinkern fort, »damit Sie mir nicht ungeduldig werden, ist, daß diese Landschaft, wenn auch wunderschön, ein wahres Paradies, wenn Sie so wollen, auch ein Ort ist, an dem Veränderungen langsam vonstatten gehen und nichts so leicht vergessen wird. An der Stelle, an der heute das Haus der Ashertons steht, hat es mindestens seit mittelalterlichen Zeiten immer schon eine Behausung irgendeiner Art gegeben. Die Fassade des heutigen Hauses ist viktorianisch, wenn man ihr das auf den ersten Blick auch nicht ansieht, einige der weniger sichtbaren Teile des Hauses jedoch sind viel älter.«
»Und die Ashertons?« fragte Kincaid, neugierig geworden.
»Die Familie lebt seit Generationen hier, und ihr Leben ist mit der Geschichte des Tals eng verwoben. Keiner, der hier lebt, wird den November, in dem Matthew Asherton ertrank, je vergessen - Kollektiverinnerung, könnte man sagen. Und jetzt dies.« Er schüttelte den Kopf, einen Ausdruck echten Mitleidens im Gesicht.
»Erzählen Sie mir, was Ihnen von dem November damals in Erinnerung geblieben ist.«
»Der Regen.« Der Pastor trank einen Schluck von seinem Tee, dann zog er ein zerknittertes weißes Taschentuch aus seiner Brusttasche und tupfte sich behutsam die Lippen. »Ich fing an, ernstlich an die Geschichte von Noah zu denken, aber mit dem Steigen des Wassers sank die allgemeine Stimmung, und ich weiß noch, ich hatte meine Zweifel daran, ob meine Gemeindemitglieder eine Predigt über dieses Thema ermutigend finden würden. Sie sind wahrscheinlich mit der Geographie der Gegend nicht vertraut, nicht wahr, Mr. Kincaid?«
Kincaid nahm an, es handle sich um eine rhetorische Frage, da der Pastor, noch während er sprach, zu seinem Schreibtisch gegangen war und nun dort in den Papieren kramte, doch er antwortete trotzdem. »Nein, da haben Sie recht.«
Der Gegenstand der Suche war, wie sich zeigte, eine recht zerfledderte Generalstabskarte, die der Pastor mit offenkundiger Freude unter einem Stapel Bücher hervorzog. Er entfaltete sie vorsichtig und breitete sie vor Kincaid aus.
»Die Chiltern Hills sind ein Vermächtnis der letzten Eiszeit. Sie ziehen sich von Nordosten nach Südwesten durch das Land, sehen Sie?« Er zeichnete ein dunkleres grünes Oval mit einer Fingerspitze nach. »Auf der Nordseite haben wir den Steilabbruch, im Süden den langen Hang, durch den sich wie Finger zahlreiche Täler ziehen. In einigen dieser Täler gibt es Flüsse -den Lea, den Bulbourne, den Chess, den Wye und andere -, lauter Nebenflüsse der Themse. In anderen brechen Quellen und Bäche nur dann hervor, wenn der Grundwasserspiegel bis zur Oberfläche steigt - im Winter zum Beispiel oder in Zeiten besonders starker Regenfälle.« Seufzend klopfte er einmal kurz mit dem Zeigefinger auf die Karte, ehe er sie wieder zusammenfaltete. »Diese Bäche können bei Überschwemmung sehr trügerisch und gefährlich sein, und das wurde dem jungen Matthew zum Verhängnis.«
»Wie genau ist das denn damals passiert?« fragte Kincaid. »Ich habe die ganze Geschichte nur aus zweiter Hand gehört.«
»Die Einzige, die genau weiß, was geschehen ist, ist Julia. Sie war ja bei ihm«, antwortete der Pastor, eine Akribie zeigend, die eines Polizeibeamten würdig gewesen wäre. »Aber ich werde mich bemühen, es für Sie zu rekonstruieren. Die Kinderwaren auf dem Heimweg von der Schule und schlugen eine Abkürzung durch den Wald ein, die ihnen gut bekannt war. Zum erstenmal seit Tagen gab es eine kurze Regenpause. Matthew, der wohl am Bachufer herumturnte, fiel ins Wasser und wurde von der Strömung mitgerissen. Julia wollte ihn herausziehen. Sie ging dabei selbst gefährlich tief ins Wasser hinein. Trotzdem gelang es ihr nicht, und sie rannte nach Hause, um Hilfe zu holen. Es war natürlich zu spät. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß der Junge schon tot war, ehe Julia ihn zurückließ.«
»Hat Julia Ihnen die Geschichte selbst erzählt?«
Mead nickte. »Bruchstückweise, ziemlich wirr. Sie wurde danach schwerkrank, kein Wunder nach diesem Schock und der eisigen Kälte des Wassers. In den ersten Stunden dachte keiner daran, sich um sie zu kümmern, obwohl sie bis auf die Haut durchnäßt war. Und dann fiel es auch nur Mrs. Plumley ein, nach ihr zu sehen - die Eltern waren so verstört, daß sie sie offenbar völlig vergessen hatten.
Sie bekam eine schwere Lungenentzündung, und eine Zeitlang schwebte sie in Lebensgefahr.« Kopfschüttelnd streckte er die Hände zum elektrischen Feuer aus, als fröre ihn bei der Erinnerung. »Ich habe sie jeden Tag besucht. Mrs. Plumley und ich haben während der Krise abwechselnd bei ihr gewacht.«
»Und ihre Eltern?« fragte Kincaid mit einem Anflug von Empörung.
Das milde Gesicht des Pastors verzog sich in tiefer Bekümmerung. »Sie können sich den Schmerz in diesem Haus nicht vorstellen, Mr. Kincaid. Die Eltern konnten an nichts anderes denken als an ihren toten Sohn.«
»Nicht einmal an ihre Tochter?«
Sehr leise, beinahe wie zu sich selbst, sagte Mead: »Ich glaube, sie konnten es nicht ertragen zu sehen, daß sie lebte und der Junge nicht.« Er warf Kincaid einen Blick zu und fügte abschließend hinzu: »Das wär’s. Ich habe mehr gesagt, als ich sollte. Es ist lange her, daß ich daran gedacht habe, und Connors Tod hat alles wieder lebendig gemacht.«
»Aber noch mehr verschweigen Sie.« Kincaid, der nicht bereit war, es dabei bewenden zu lassen, beugte sich vor.
»Es ist nicht an mir, ein Urteil zu sprechen, Mr. Kincaid. Es war damals für alle Beteiligten sehr schwer.«
Kincaid verstand das so, daß Mead das Verhalten der Ashertons unsäglich fand, sich jedoch nicht gestattete, es auszusprechen. »Man kann sicherlich nicht bestreiten, daß Sir Gerald und Dame Caroline jetzt um ihre Tochter sehr besorgt sind.«
»Wie ich schon sagte, Mr. Kincaid, das ist alles sehr lange her. Es tut mir nur leid, daß Julia noch einen solchen Verlust erleiden mußte.«
Eine Bewegung am Fenster zog Kincaids Aufmerksamkeit auf sich. Der Wind hatte eine Laubsäule vom Rasen in die Höhe gewirbelt. Sie drehte sich einen Moment, dann fiel sie zusammen. Einige Blätter schwebten zum Fenster und schlugen leicht gegen die Scheiben.
»Sie sagten, Sie hätten Matthew gekannt, aber Sie müssen doch auch Julia sehr gut gekannt haben.«
Der Pastor schwenkte den letzten Rest Tee in seiner Tasse. »Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemanden gibt, der Julia gut kennt. Sie war immer ein stilles Kind. Während Matthew sich mitten in die Dinge hineinstürzte, beschränkte sie sich darauf zu beobachten und zuzuhören. Gerade deshalb waren die seltenen direkten Reaktionen von ihr um so erwärmender. Wenn sie sich aktiv für etwas interessierte, dann schien dieses Interesse echt und tief zu sein, nicht nur eine vorübergehende Laune.«
»Und später?«
»Sie hat während ihrer Krankheit natürlich mit mir gesprochen, aber sie war im Fieber, es ging alles durcheinander. Und als sie wieder gesund wurde, zog sie sich ganz in sich zurück. Nur bei ihrer Hochzeit habe ich noch einmal einen Schimmer des Kindes gesehen, das sie einmal war.« Sein Ton war wehmütig, sein Lächeln suchte Kincaids Verständnis.
Kincaid dachte an Julias Gesicht, wie er es gesehen hatte, als sie ihnen, in dem Glauben, Mrs. Plumley habe geklopft, die Tür geöffnet hatte. »Dann haben Sie sie also getraut, Pastor Mead? Aber ich dachte -«
»Ja, richtig, Connor war katholisch, aber er war kein praktizierender Katholik, und Julia wollte gerne hier heiraten.« Mit dem Kopf wies er zur Kirche hinüber. »Ich habe vor der Trauung nicht nur mit Julia gesprochen, sondern auch mit Connor, und ich muß sagen, ich hatte schon damals meine Zweifel.«
»Aus welchem Grund?« Kincaid hatte im Lauf des Gesprächs beachtlichen Respekt vor den Beobachtungen des Pastors gewonnen.
»Er hat mich auf eine ganz merkwürdige Weise an Matthew erinnert, oder, genauer gesagt, an Matthew, wie er vielleicht geworden wäre, wenn er am Leben geblieben wäre. Ich weiß nicht, ob ich es erklären kann ... Er war vielleicht eine Spur zu glatt für meinen Geschmack - bei so viel äußerlichem Charme läßt sich manchmal schwer erkennen, was sich unter der Oberfläche abspielt. Wie dem auch sei, die Ehe wurde nicht glücklich.«
»Es scheint so, ja«, stimmte Kincaid zu. »Bei Julia hat sich offenbar mit der Zeit eine tiefe Abneigung gegen Connor entwickelt.« Er machte eine Pause und wählte seine Worte mit Bedacht. »Halten Sie es für möglich, daß sie ihn getötet hat? Wäre sie dazu fähig?«
»Wir alle tragen den Keim zur Gewalt in uns, Mr. Kincaid. Die Frage, die mich stets fasziniert hat, ist, was führt dazu, daß der eine Mensch zur Gewalt greift und der andere nicht?« In Meads Blick spiegelte sich das Wissen lebenslanger Erfahrung mit Menschen jeglicher Charakterausformung, und wieder kam Kincaid der Gedanke, daß ihre Berufe einiges gemeinsam hatten. »Aber um Ihre Frage zu beantworten«, fuhr der Pastor fort, »nein, ich halte Julia nicht für fähig, einen anderen Menschen zu töten, ganz gleich unter welchen Umständen.«
»Warum sagen Sie >einen anderen Menschen<, Pastor Mead?« fragte Kincaid verwundert.
»Weil es nach Matthews Tod Gerüchte gab, die Ihnen zweifellos zu Ohren kommen werden, wenn Sie lange genug in der Sache herumstochern. Offene Anschuldigungen hätte man vielleicht zurückweisen können, aber gegen dieses anonyme Getuschel war man machtlos.«
»Was wurde denn getuschelt?« fragte Kincaid, obwohl er die Antwort schon wußte.
Mead seufzte. »Nur was man erwarten konnte, wenn man die menschliche Natur kennt und von Julias manchmal offenkundiger Eifersucht auf ihren Bruder wußte. Es wurde angedeutet, sie hätte gar nicht versucht, ihn zu retten - sie hätte ihn vielleicht sogar ins Wasser hineingestoßen.«
»Sie war also eifersüchtig auf ihren Bruder?«
Der Pastor richtete sich in seinem Sessel auf und wirkte zum erstenmal leicht gereizt. »Natürlich war sie eifersüchtig! Jedes normale Kind wäre unter diesen Umständen eifersüchtig gewesen.« Er sah Kincaid fest an. »Aber sie hat ihn auch geliebt, und niemals hätte sie zugelassen, daß ihm etwas geschieht, wenn sie es hätte verhindern können. Julia hat alles getan, was man von einer verängstigten Dreizehnjährigen erwarten konnte, um ihren Bruder zu retten. Wahrscheinlich sogar mehr.« Er stand auf und begann das Teegeschirr auf dem Tablett zusammenzustellen. »Ich bin nicht kühn genug, eine solche Tragödie einen Akt Gottes zu nennen. Für Unfälle gibt es häufig keine Erklärung, Mr. Kincaid.«
Kincaid stellte seine Tasse auf das Tablett und sagte: »Ich danke Ihnen für das Gespräch, Pastor Mead.«
Mit dem Tablett in den Händen trat Mead ans Fenster und blickte auf den Friedhof hinaus. »Ich kann nicht behaupten, daß ich die Wege des Schicksals verstehe. In meinem Geschäft ist es manchmal auch besser, wenn man sie nicht versteht«, fügte er mit einer gewissen bitteren Ironie hinzu. »Aber trotzdem hat mich die Frage nicht losgelassen. Im allgemeinen sind die Kinder mit dem Bus von der Schule nach Hause gefahren. An diesem Tag hatten sie sich verspätet und mußten statt dessen zu Fuß gehen. Was hatte sie aufgehalten?«