* 5

 

Kincaid stand allein in der Küche der Gilberts und lauschte dem Ticken der Uhr. Sie hing über dem Kühlschrank an der Wand. Die großen schwarzen Zeiger und Ziffern auf dem weißen Zifferblatt waren nicht zu übersehen und mahnten ihn daran, daß die Zeit verrann. Er sollte sich auf den Mordfall konzentrieren, anstatt Gedanken an Gemma nachzuhängen, die nichts als Frustration in ihm auslösten. Nach ihrem zornigen Ausbruch im Garten war sie nach Guildford abgefahren, ohne ihn eines Wortes zu würdigen, das nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Was zum Teufel hatte er nur jetzt wieder angestellt? Nun wenigstens, dachte er mit einer gewissen Genugtuung, hatte er sie nicht mit Nick Deveney in die Pampas geschickt - nach den Stielaugen, die der Bursche gestern gemacht hatte.

  Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch das Haar. Ihm blieb im Grunde nichts anderes übrig als zu versuchen, aus dieser verfahrenen Situation das Beste zu machen. Automatisch sah er auf seine Uhr und zuckte sofort gereizt die Achseln. Er wußte genau, wie spät es war, und solange er hier aushalten mußte, um auf Deveney zu warten, und das Erdgeschoß des Hauses für sich hatte, konnte er die Gelegenheit nutzen, sich ein wenig umzusehen.

  Er trat in den Flur und blieb einen Moment ruhig stehen, um sich zu orientieren. Zum erstenmal fiel ihm auf, wie unorthodox das Haus gebaut war - hier eine Stufe hinauf, dort eine Stufe hinunter -, jeder Raum schien auf einer anderen Ebene zu existieren. Die bloßgelegten Holzbalken der Wände waren alle irgendwie windschief. Einen Moment lang glaubte er, ein Echo des Tickens der Küchenuhr zu hören, bis er sah, daß das Geräusch von einer alten Standuhr kam, die halb versteckt in einem Alkoven unter der Treppe stand.

  Der Küche am nächsten war das Wohnzimmer, in dem sie am vergangenen Abend gesessen hatte. Ein rascher Blick zeigte ihm, daß es leer war, das Feuer im Kamin zu kalter Asche heruntergebrannt. Er ging weiter durch den Flur, der zum vorderen Teil des Hauses führte, und öffnete die nächste Tür.

  Der Raum dahinter war ohne Zweifel Gilberts Arbeitszimmer gewesen. Er war, wie er feststellte, als er sich genauer umsah, beinahe eine Parodie eines typisch männlichen Rückzugsorts; die Wände, sofern nicht durch Bücherregale verstellt, waren in dunklem Holz getäfelt, auf dem wuchtigen Schreibtisch stand eine Lampe mit grünem Schirm, die Sitzgruppe vor dem Fenster mit den schweren Vorhängen war in einem dunkelroten Schottenmuster bezogen. Er trat näher, um die hellen Bilder an den dunklen Wänden zu betrachten - Jagdstiche natürlich. Die große Uhr auf dem Schreibtisch tickte im Takt mit seinem eigenen Herzschlag, und einen Moment lang hatte er die Vorstellung, das ganze Haus pulsierte in einem eigenen inneren Rhythmus. »Blödsinn!« sagte er laut, um den Bann zu brechen und die Gedanken an die Geschichte von Edgar Allan Poe zu vertreiben.

  Er ging weiter zum Schreibtisch und fand ihn so ordentlich aufgeräumt vor wie erwartet. Eine Fotografie in silbernem Rahmen jedoch erregte seine Aufmerksamkeit, und er nahm sie zur Hand, um sie genauer zu betrachten. Dies war ein Alastair Gilbert, den er nie kennengelernt hatte - in Hemdsärmeln, lächelnd, den Arm um die Schulter einer kleinen weißhaarigen Frau. Mutter und Sohn? Er stellte das Bild wieder nieder und dachte dabei, daß es möglicherweise nützlich sein könnte, sich einmal mit der alten Mrs. Gilbert zu unterhalten.

  In der obersten Schublade lagen die üblichen Schreibutensilien, pedantisch geordnet, und die Schubladen an den Seiten enthielten eine Menge Akten, deren Durchsicht vorläufig noch würde warten müssen. Unzufrieden mit diesem mageren Ergebnis seiner Inspektion, sah Kincaid die Schubladen noch einmal gründlicher durch und stieß auf ein in Leder gebundenes Buch, das in der rechten Schublade hinter den Akten steckte. Vorsichtig nahm er es heraus, legte es auf die Schreibunterlage und klappte es auf. Es war ein Terminkalender mit den üblichen Eintragungen und einigen säuberlich notierten Telefonnummern, die nicht mit Namen versehen waren.

  Kincaid blätterte weiter. Unter dem Datum von Gilberts Todestag stand, mit einem Fragezeichen versehen, »18 Uhr«, dazu eine mit Bleistift geschriebene Telefonnummer. Hatte Gilbert sich an dem Abend mit jemanden getroffen, und wenn ja, warum? Er würde es Deveneys Leuten überlassen müssen, die Eintragungen zu überprüfen, während er selbst sich auf die Vernehmungen konzentrierte. Er klappte das Buch zu und wollte es gerade weglegen, als eine Stimme ihn aufschreckte.

  »Was tun Sie da?«

  Lucy Penmaric stand mit verschränkten Armen an der offenen Tür und sah ihn stirnrunzelnd an. In Jeans und Sweatshirt sah sie jünger aus als am vergangenen Abend, und ihr blasses Gesicht wirkte ein wenig zerknittert, als sei sie gerade erst aufgestanden. »Ich habe ein Geräusch gehört - ich war auf der Suche nach meiner Mutter«, erklärte sie, ehe er auf ihre Frage antworten konnte.

  Kincaid, der nicht hinter Gilberts Schreibtisch stehend mit Lucy sprechen wollte, schob die Schublade zu und kam nach vorn, ehe er sagte: »Ich glaube, Ihre Mutter ist oben und ruht sich aus. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

  »Ach, da habe ich gar nicht nachgeschaut«, erwiderte sie und rieb sich das Gesicht. Sie ging zu dem dunklen Sofa und setzte sich. »Ich kann irgendwie nicht richtig wach werden - ich bin wie benebelt.«

  »Das ist wahrscheinlich die Schlaftablette. Wenn man so was nicht gewöhnt ist, fühlt man sich hinterher immer ein bißchen verkatert.«

  »Ich wollte auch gar keine haben. Ich hab’ sie nur genommen, damit meine Mutter endlich Ruhe gibt. Ist sie - wie geht es ihr heute morgen?«

  Kincaid hatte keine Skrupel, Claires Ohnmacht in der Küche zu unterschlagen. »Ganz gut eigentlich unter den Umständen. Sie war gleich heute morgen bei Ihrer Großmutter.«

  »Bei Gwen? Ach, arme Mama«, sagte Lucy kopfschüttelnd. »Gwen ist nicht meine richtige Großmutter, wissen Sie«, fügte sie belehrend hinzu. »Die Eltern meiner Mutter sind tot, und die meines Vaters sehe ich nur sehr selten.«

  »Warum denn? Versteht Ihre Mutter sich nicht mit Ihnen?« Kincaid lehnte sich an die Schreibtischkante, um abzuwarten, wohin das Gespräch führen würde.

  »Alastair hatte immer irgendeinen Grund, mich nicht hinfahren zu lassen, aber ich mag sie sehr gern. Sie wohnen in der Nähe von Sidmouth in Devon, fast direkt am Meer.« Lucy drehte eine Haarsträhne um ihren Finger, während sie einen Augenblick versonnen schwieg, dann sagte sie: »Ich weiß noch, wie mein Vater gestorben ist. Wir haben damals in London gewohnt, in einer Wohnung in Eigin Crescent. Das Haus hatte eine leuchtend gelbe Tür - immer wenn wir heimgekommen sind, konnte ich sie schon aus weiter Ferne sehen. Wir hatten die oberste Wohnung, und draußen vor meinem Fenster war ein Kirschbaum, der jeden Frühling geblüht hat.«

  Hätte er überhaupt einen Gedanken an Claire Gilberts ersten Ehemann verschwendet, so hätte er angenommen, daß sie geschieden waren; eine Frau Mitte Vierzig und schon zum zweitenmal verwitwet, auf den Gedanken wäre er nicht gekommen.

  »Ja, das war sicher sehr schön«, sagte er gedämpft, als Lucys Schweigen sich so in die Länge zog, daß er fürchtete, sie könnte sich ganz von ihm zurückgezogen haben.

  »Ja«, antwortete Lucy mit einem Frösteln. »Aber jetzt muß ich bei Kirschblüten immer an den Tod denken. Ich habe gestern nacht von ihnen geträumt. Ich habe geträumt, ich wäre ganz zugedeckt von ihnen und würde ersticken. Ich konnte einfach nicht wach werden.«

  »Ist Ihr Vater im Frühling gestorben?«

  Lucy nickte. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und schob es hinter ihr Ohr. Sie hatte kleine Ohren, zart wie Muscheln. »Als ich fünf Jahre alt war, war ich einmal sehr krank. Ich hatte hohes Fieber. Es war nachts. Mein Vater ist zur Nachtapotheke in der Portobello Road gegangen, um etwas für mich zu holen, und als er über den Zebrastreifen ging, hat ihn ein Auto angefahren. In meinem Kopf ist das jetzt alles ein einziges Kuddelmuddel - wie die Polizei kam, wie meine Mutter geweint hat, und die Kirschblüten draußen vor meinem offenen Fenster.«

  Claire Gilbert hatte also schon einmal einen Ehemann durch einen gewaltsamen Tod verloren. Er erinnerte sich der Tage, als es noch zu seinen Aufgaben gehört hatte, Todesmeldungen zu überbringen, und stellte sich die Szene aus der Sicht der Polizeibeamten vor - ein milder Aprilabend, gelber Lichtschein hinter geöffneten Fenstern, die hübsche junge Frau an der Tür, Erschrecken beim Anblick der Uniformen. Heraus damit, kurz und unumwunden: »Madam, es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihr Mann tot ist.« So hatten sie es auf der Akademie gelernt. Es sei besser, keine Umschweife zu machen, hatte man ihnen gesagt, aber das hatte es nicht leichter gemacht.

  Lucy hatte sich wieder eine Haarsträhne um den Finger gewickelt und saß still da, den Blick auf einen der Jagdstiche hinter Gilberts Schreibtisch gerichtet. Als Kincaid sagte, »Das tut mir leid«, reagierte sie nicht, aber nach einer kleinen Pause begann sie zu sprechen, ohne ihn anzusehen, so als führte sie ein Gespräch weiter.

  »Es ist merkwürdig, hier zu sitzen. Alastair wollte uns nie in diesem Zimmer haben, besonders mich nicht. Er hat es sein >Allerheiligstes< genannt. Ich glaube, er fand, daß Frauen die Atmosphäre zerstören.

  Mein Vater hat geschrieben. Er war Journalist. Er hieß Stephen Penmaric und er hat hauptsächlich für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Über Natur- und Umweltschutz.« Sie sah Kincaid an. Ihr Gesicht war belebt. »Er hatte sein Büro im Abstellraum von unserer Wohnung, und er hatte wahrscheinlich nicht genug Platz. Ich weiß noch, daß immer riesige Bücherstapel auf dem Boden herumgelegen haben. Manchmal, wenn ich ihm versprochen habe, ganz leise zu sein, hat er mich in seinem Arbeitszimmer spielen lassen, während er gearbeitet hat, und ich habe mit den Büchern gebaut - Türme und Schlösser und Städte. Ich mochte den Geruch der Bücher.«

  »Meine Eltern hatten eine Buchhandlung«, sagte Kincaid. »Das heißt, sie haben sie immer noch. Ich habe oft im Lager gespielt und auch die Bücher als Bausteine benutzt.«

  »Ach was?« Lucy lächelte zum erstenmal.

  »Ja, wirklich.« Er erwiderte das Lächeln und wünschte, er könnte diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht bewahren.

  »Das muß schön gewesen sein«, sagte sie ein wenig wehmütig. Sie zog die Beine hoch und schlang ihre Arme um sie. Das Kinn auf die Knie gestützt, bemerkte sie: »Es ist komisch. Ich habe seit Jahren nicht mehr so viel an meinen Vater gedacht.«

  »Das ist doch unter den Umständen ganz natürlich.« Er hielt einen Augenblick inne und sagte dann vorsichtig: »Wie empfinden Sie denn das, was geschehen ist, den Tod Ihres Stiefvaters?«

  Sie wandte sich ab und sagte nach einer kleinen Weile langsam: »Ich weiß gar nicht. Ich bin wie betäubt. Ich kann es nicht glauben, obwohl ich ihn gesehen habe. Es heißt doch, >sehen heißt glauben<, aber das stimmt in Wirklichkeit gar nicht.« Mit einem raschen Blick zur Tür fügte sie hinzu: »Ich habe dauernd das Gefühl, daß er jeden Moment hereinkommt.« Sie setzte sich auf, und Kincaid hörte Stimmen aus dem hinteren Teil des Hauses.

  »Ich glaube, Chief Inspector Deveney sucht mich. Kann ich Sie jetzt allein lassen?«

  Mit einer Rückkehr der tatkräftigen Entschlossenheit, die sie am Abend zuvor gezeigt hatte, erwiderte sie: »Aber natürlich. Und ich kümmere mich um meine Mutter, wenn sie aufsteht.« Sie sprang mit der Beweglichkeit sehr junger Menschen vom Sofa und war schon an der Tür, ehe er antworten konnte.

  Als sie sich noch einmal nach ihm umdrehte, sagte er: »Lewis wird sich freuen, Sie zu sehen«, und bekam zur Belohnung noch ein strahlendes Lächeln.

 

»Ist Ihnen aufgefallen«, sagte Kincaid zu Nick Deveney, als sie einen der holprigen Feldwege entlangfuhren, die die Dörfer miteinander verbanden, »daß kein Mensch um Alastair Gilbert zu trauern scheint? Sogar seine Frau scheint eher erschrocken als traurig zu sein.«

  »Stimmt.« Deveney gab einem entgegenkommenden Auto mit der Lichthupe Signal und manövrierte rückwärts in die nächste Ausweichbucht. »Aber das gibt uns kein Motiv für den Mord. Wenn das der Fall wäre, wäre meine Schwiegermutter nämlich schon mindestens zwanzigmal umgebracht worden.« Er fuhr wieder auf den Weg hinaus. »Ich hoffe, die Abkürzung stört Sie nicht. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht mal, ob es wirklich eine Abkürzung ist, ich fahre einfach gern querfeldein. Ist doch wunderschön, nicht?«

  Im Westen hatten sich Gewitterwolken zusammengezogen, aber noch während Deveney sprach, brach ein Sonnenstrahl aus dem dunklen Himmel hervor und erleuchtete die Hügel rundherum.

  Deveney warf einen Blick in den Rückspiegel. »In Guildford gießt es wahrscheinlich in Strömen«, bemerkte er und machte Kincaid gleich darauf auf das prächtige Tor zu einem großen Gutsbesitz aufmerksam, an dem sie vorüberkamen. »Schauen Sie. Diese Leute sind es, die dafür sorgen, daß Surrey nicht von Touristen niedergetrampelt wird. Sie kommen aus London hierher und bringen ihr Geld mit, so daß wir es nicht nötig haben, Touristen anzulocken, um unsere Wirtschaft anzukurbeln.« Mit einem Achselzucken fügte er hinzu: »Aber es ist natürlich ein zweischneidiges Schwert. Diese Leute kaufen zwar Land und geben den Leuten hier Arbeit, aber viele werden von den Einheimischen nicht akzeptiert, und daraus entstehen Konflikte.«

  »Und das hat auch auf Gilbert zugetroffen? Er war sicherlich der Protoyp des klassischen Pendlers«, meinte Kincaid, als sie aus einem Waldstück herausfuhren, und die Hügelkette der North Downs sich vor ihnen zeigte.

  »Oh, ja, zweifellos. Er ist hier von den Leuten mit einer Mischung aus Verachtung und Schmeichelei behandelt worden. Ich meine, man will ja nicht unbedingt die Gans abstechen, die die goldenen Eier legt, nicht? Man will ihr nur klar machen, daß sie sich nicht einzubilden braucht, sie könnte sich mit an den Tisch setzen.«

  Kincaid lachte. »Glauben Sie, Gilbert wußte, daß er nicht akzeptiert wurde und auch nie akzeptiert werden würde? Hat ihm das was ausgemacht?«

  »Ich habe ihn nur flüchtig gekannt«, antwortete Deveney. »Ich habe nur ein paarmal bei dienstlichen Veranstaltungen mit ihm gesprochen.« Er schaltete herunter und fügte hinzu: »Brian Genovase kenne ich nur, weil wir eine Zeitlang im selben Rugby-Team gespielt haben.« Der Feldweg wurde jetzt zu einer schmalen Straße mit Bilderbuchhäusern zu beiden Seiten. »Holmbury St. Mary ist noch ganz unverdorben. Dieses Dorf hier haben sie gründlich aufgemotzt. Wahrscheinlich wollen sie den Titel als schönstes Dorf Englands erobern. Das ist der Tillingbourne River«, bemerkte er, als sie einen schmalen klaren Wasserlauf überquerten. »Den finden Sie hier auf jeder Ansichtskarte.«

  »Na, ganz so schlimm kann es doch nicht sein«, meinte Kincaid, als Deveney den Wagen am Straßenrand abstellte. Er hatte eine etwas blumige Teestube bemerkt, sonst jedoch nichts Übertriebenes.

  »Nein, aber das wird schon noch kommen.«

  »Sie sind ein alter Zyniker.« Kincaid stieg aus dem Wagen und stampfte ein paarmal kräftig mit den Füßen, um sie nach der Fahrt im ungeheizten Auto wieder aufzuwärmen.

  Lachend stimmte Deveney zu und sagte: »Es stimmt schon, ich bin zu jung, um so ein alter Griesgram zu sein. Aber vielleicht bekommt man durch Scheidung so einen bitterbösen Blick. Der Laden hier ist jedenfalls bestimmt nicht übel«, er wies auf das Schild mit der Aufschrift »Kitchen Concepts«, »und ohne die Leute aus der Stadt, wie Alastair Gilbert, wäre so was überhaupt nicht möglich. Den Bauern hier würde es nicht einfallen, sich Einbauküchen im Euro-Chic machen zu lassen.«

  Die Schaufenster zeigten glänzende Fliesenwände in vielen bunten Farben und blitzende Kupfergeräte. Kincaid, der die Küche in seiner Wohnung in Hampstead selbst renoviert hatte, öffnete die Ladentür mit einer gewissen Neugier. Eine Frau mit Gummistiefeln an den Füßen und diversen Einkaufstüten in den Händen stand im Gespräch mit einem Mann vor einer der Ausstellungsküchen. Doch die Unterhaltung brach abrupt ab, als Kincaid und Deveney eintraten.

  Nach einem kurzen Schweigen sagte die Frau: »Tja, dann will ich mal wieder los. Tschüs, Malcolm.« Sie warf Kincaid einen neugierigen Blick zu, als sie sich an ihm vorbei zur Tür hinausdrängte, und der fragte sich wie so oft, welchen Sinn es eigentlich hatte, in Zivil herumzulaufen, wenn jeder einem gleich ansah, daß man von der Polizei war.

  Deveney hatte seinen Dienstausweis herausgezogen und Stellte sich und Kincaid vor, als Malcolm Reid zu ihnen kam, um sie zu begrüßen. Kincaid war es ganz recht, zunächst einmal im Hintergrund zu bleiben; das gab ihm Gelegenheit, Claire Gilberts Arbeitgeber etwas aufmerksamer unter die Lupe zu nehmen. Er war groß, mit kurzem blonden Haar und einem gebräunten Gesicht, das von einem kürzlichen Urlaub in wärmeren Regionen sprach. Seine Stimme war weich und ohne Akzent. »Sie sind wegen Alastair Gilbert hier? Das ist ja wirklich eine furchtbare Geschichte. Wer tut denn nur so etwa?«

  »Genau das versuchen wir herauszufinden, Mr. Reid«, antwortete Deveney, »und wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns dabei helfen würden. Haben Sie Commander Gilbert persönlich gekannt?«

  Reid schob die Hände in die Hosentaschen, ehe er antwortete. Er trug eine Hose von guter Qualität, wie Kincaid vermerkte, und dazu einen grauen Pullover mit diskreter dunkelblauer Krawatte - genau das richtige Image für einen Mann in seiner Position, nicht zu lässig für einen erfolgreichen Geschäftsmann, nicht zu elegant für ein kleines Dorf.

  »Ja, ich habe ihn natürlich gekannt. Claire hat Val - das ist meine Frau - und mich zwei-, dreimal zum Abendessen eingeladen. Aber ich kann nicht behaupten, daß ich ihn gut gekannt habe. Wir hatten nicht viel gemeinsam.« Er umfaßte mit einer kurzen Geste den Geschäftsraum und lächelte leicht amüsiert.

  »Aber Gilbert hat sich doch sicher für die Arbeit seiner Frau interessiert«, meinte Kincaid.

  »Kommen Sie, setzen wir uns erst einmal.« Reid führte sie zu einem Schreibtisch im hinteren Teil des Ausstellungsraums und wies auf zwei bequem aussehende Besuchersessel, ehe er sich selbst setzte. »Das ist keine leichte Frage.« Er nahm einen Bleistift zur Hand und sah nachdenklich auf ihn hinunter, während er ihn zwischen zwei Fingern hin und her drehte. Dann blickte er auf. »Wenn Sie eine ehrliche Antwort wollen, würde ich sagen, daß er allenfalls bereit war, Claires Berufstätigkeit zu dulden, solange sie seine eigenen Kreise in keiner Weise störte. Ich erzähle Ihnen gern, wie es überhaupt dazu kam, daß Claire bei mir angefangen hat.«

  Er legte den Bleistift weg und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sie kam als Kundin zu mir, als Alastair ihr endlich erlaubt hatte, die Küche zu renovieren. Das Haus ist, wie Sie wahrscheinlich wissen, ein viktorianischer Bau, und das bißchen, was daran gemacht worden war, war schlecht gemacht, wie das ja häufig vorkommt. Claire hatte ihn seit Jahren bekniet, die Küche neu machen zu lassen, und ich glaube, er hat schließlich nur nachgegeben, weil er immer häufiger repräsentieren mußte und sich wahrscheinlich mit der alten Küche vor seinen Gästen geniert hätte.«

  Dafür, daß er Gilbert angeblich kaum gekannt hatte, hatte er eine bemerkenswerte Abneigung gegen ihn gefaßt, dachte Kincaid, als er aufmunternd nickte.

  »Claire hatte keinerlei Ausbildung als Designerin«, fuhr Reid fort, »aber sie besitzt ein natürliches Talent, und das ist meiner Ansicht nach viel mehr wert. Als wir mit ihrer Küche angefangen haben, hatte sie unglaublich gute Einfälle, und zwar durchführbare Einfälle, das versteht sich nämlich nicht von selbst, und wenn sie hier im Laden war, hat sie häufig andere Kunden beraten.«

  »Und dagegen hatten Sie nichts einzuwenden?« fragte Deveney ein wenig skeptisch.

  Reid schüttelte den Kopf. »Ihr Enthusiasmus war ansteckend. Und den Kunden haben ihre Vorschläge gefallen, was wiederum meinen Umsatz gesteigert hat. Sie ist wirklich gut, auch wenn man das beim Anblick ihres Hauses nicht ahnen würde.«

  »Was ist denn an ihrem Haus nicht in Ordnung?« erkundigte sich Deveney erstaunt. Kincaid konnte nicht feststellen, ob die Verwunderung echt oder geheuchelt war.

  »Zu spießig für meinen Geschmack, aber Alastair hatte nun mal das Sagen, und der Stil hat ihm eben gefallen. Er entsprach seiner Vorstellung von gutbürgerlicher Ehrbarkeit.«

  Reids Urteil paßte auf den Gilbert, den Kincaid gekannt hatte. Als Lehrer war er phantasielos und unoriginell gewesen und hatte auf Vorschriften bestanden, wo Flexibilität vielleicht produktiver gewesen wäre. Er hatte an Tradition festgehalten, nur weil sie Tradition war. Neugierig geworden, fragte Kincaid: »Wissen Sie eigentlich etwas über Gilberts Familiengeschichte?«

  »Ich glaube, sein Vater hat einen Bauernhof, der auf Milchwirtschaft spezialisiert war, verwaltet. In der Nähe von Dorking. Und Gilbert ist dort auf die Grundschule gegangen.«

  »So, so, dann ist also der verlorene Sohn gewissermaßen wieder heimgekehrt«, meinte Kincaid nachdenklich. »Das überrascht mich. Aber seine Mutter ist hier in der Nähe in einem Pflegeheim, nicht wahr?« Er beugte sich vor und entnahm einem Kartenhalter auf Reids Schreibtisch eine Geschäftskarte. Der Name des Geschäfts hob sich dunkelgrün von cremefarbenem Grund ab. Etwas darunter waren kleiner die Adresse und die Telefonnummer aufgeführt. Kincaid steckte die Karte ein.

  »Ja, das ist richtig. Sie ist im Altenheim The Leaves am Ortsrand von Dorking. Claire besucht sie mehrmals die Woche.«

  »Wie hat Mrs. Gilberts gestriger Arbeitstag ausgesehen, Mr. Reid?« Deveneys Ton ließ keinen Zweifel daran, daß er eine Antwort auf seine Frage erwartete, auch wenn er sie in sehr höflichem Ton gestellt hatte.

  Reid rutschte auf seinem Sessel ein wenig nach vorn und griff zu dem Bleistift, den er zu Beginn des Gesprächs niedergelegt hatte. Im gleichen höflichen Ton wie Deveney fragte er: »Warum sollte ich Ihnen darüber Auskunft geben? Sie können doch nicht im Ernst glauben, daß Claire mit Gilberts Tod etwas zu tun hat?« Sein Ton verriet, daß er ehrlich schockiert war.

  »Das gehört zur Routine, Mr. Reid«, beruhigte Deveney. »Das müßten Sie eigentlich wissen, wenn Sie ab und zu fern-sehen. Wir müssen über jeden, der Commander Gilbert nahestand, Erkundigungen einziehen.«

  Reid verschränkte die Arme und betrachtete die beiden Beamten einen Moment lang mit einem beinahe trotzigen Ausdruck, dann seufzte er und sagte: »Also, es paßt mir zwar gar nicht, aber da der gestrige Tag nicht anders verlaufen ist als alle anderen, wird es wohl nicht schaden, wenn ich Ihnen Auskunft gebe. Claire kam gegen zehn und war den ganzen Tag im Laden. Sie hat Kunden beraten und sich um einige ausstehende Materiallieferungen gekümmert. Ich war am frühen Nachmittag eine Weile unterwegs, ich hatte einen Termin, und Claire ist gegangen, bevor ich kurz nach vier wieder zurück war. Ich glaube, sie und Lucy wollten Einkäufe machen.« Er machte eine kleine Pause, dann fügte er hinzu: »Von militärischem Drill halten wir hier nichts, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben.«

  »Und wann haben Sie erfahren, daß Gilbert tot ist?« fragte Kincaid, der sich an Claire Gilberts Worte vor ihrem Ohnmachtsanfall erinnerte.

  »Als ich heute morgen aufgesperrt habe, haben hier schon ein paar Leute aus dem Ort gewartet. Sie hatten es vom Briefträger gehört, der es wiederum vom Zeitungsmann gehört hatte. >Gestern hat jemand Alastair Gilbert umgebracht - sie haben ihm den Schädel eingeschlagen und ihn in seinem Blut liegen lassen<, lauteten die genauen Worte, wenn ich mich recht •'erinnere«, sagte er mit einer Grimasse.

  Deveney dankte ihm, und sie verabschiedeten sich, Kincaid mit einem sehnsüchtigen Blick auf die deutsche Mischbatterie aus rostfreiem Stahl, die er sich für sein eigenes Küchenspülbecken nicht hatte leisten können.

  »Hervorragend«, meinte Deveney mit einem resignierten Seufzer, als sie in den Wagen stiegen. »Wieso haben wir uns eingebildet, wir könnten die Todesursache geheimhalten, bis wir die Dorfbewohner vernommen haben? Wo man hier doch nicht mal einen Furz geheimhalten kann!«

  Die letzte Kundin, eine redselige alte Frau namens Simpson, schwatzte endlos weiter, nachdem sie längst für ihre spärlichen Einkäufe bezahlt hatte. Madeleine Wade, zu deren vielerlei geschäftlichen Unternehmen auch der Betrieb des Dorfladens zählte, hörte sich mit halbem Ohr die neuesten Skandale aus der großen Welt an, während sie die Abrechnung machte. Und die ganze Zeit dachte sie nur mit Sehnsucht an den Moment, da sie es sich oben in ihrer gemütlichen Wohnung mit einem Glas Wein und der Financial Times auf dem Sofa bequem machen würde.

  Das »rosa Blatt«, wie sie die Zeitung für sich nannte, war ihr geheimes Laster, ein letztes Überbleibsel aus ihrem früheren Leben. Sie las es jeden Tag, um die Entwicklung ihrer Wertpapiere zu verfolgen, und ließ es dann verschwinden; ihr Privatleben ging ihre Kunden schließlich nichts an.

  Mrs. Simpson, die abgesehen von einem gelegentlichen zerstreuten Nicken keinerlei Aufmunterung erhalten hatte, bremste schließlich stotternd ihren Redefluß, und Madeleine brachte sie mit Erleichterung zur Tür. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, gelassener mit den Menschen umzugehen, hatte sich eine Rüstung zugelegt, die nichts durchdringen konnte, es sei denn offen zur Schau getragener Abscheu, aber so richtig wohl fühlte sie sich nur, wenn sie allein war. Das Alleinsein wurde ihr zur Gewohnheit und Belohnung am Ende eines jeden Tages, und sie fieberte ihm mit der gleichen Ungeduld entgegen wie der Alkoholiker seinem ersten Glas.

  Sie sah ihn, als sie gerade die Tür abgeschlossen hatte. Geoff Genovase stand halb im Schatten des White Hart nebenan und wartete, die Hände in den Taschen. Als er sich bewegte, glitzerte das Licht der Straßenlampe auf seinem hellen Haar.

  In diesem Moment spürte sie seine Furcht. Beinahe greifbar und intensiv, umgab sie ihn wie eine dichte Wolke.

  Sie hatte sie schon früher des öfteren gespürt, wie eine verborgene Unterströmung - hatte auch sein Bemühen gespürt, sie in Schach zu halten. Was hatte diese Explosion nackter Angst ausgelöst? Madeleine zögerte. Ihr Drang zu helfen stritt mit ihrer Müdigkeit und dem Wunsch allein zu sein. Dann schämte sie sich. Sie war nach lebenslanger Flucht mit der Absicht in dieses Dorf gekommen, alle Hilfe anzubieten, die sie dank ihrer Gaben vielleicht geben konnte, und dieses egoistische Verlangen, sich zurückzuziehen, mußte mit Disziplin besiegt werden.

  Ganz gleich, was Geoff in diesen Zustand der Angst versetzt hatte, er war zu ihr gekommen, um Hilfe zu suchen, und sie durfte sich ihm jetzt nicht verweigern. Sie sperrte die Tür wieder auf, um ihn zu rufen, aber er war in den Schatten verschwunden.

 

Als sich auf sein Klopfen an Gemmas Zimmertür nichts rührte, kehrte Kincaid in sein eigenes Zimmer zurück und kritzelte ein paar Worte auf einen Zettel, um ihr mitzuteilen, daß er in der Bar sei und Deveney sie dort zum Essen treffen würde. Er schob den Zettel unter ihrer Tür durch und wartete einen Moment, immer noch in der Hoffnung auf ein Gespräch mit ihr; als alles still blieb, wandte er sich ab und ging langsam nach unten.

  Er und Nick Deveney hatten einen wenig produktiven Nachmittag in der Dienststelle in Guildford verbracht. Sie hatten Berichte gelesen und mit den Medien einige kleinere Scharmützel ausgetauscht - geblieben war nichts als ein Nachgeschmack von Frustration.

  »Ein Bier bitte, Brian«, sagte er, als er sich auf den einzigen freien Hocker setzte. »Ganz schön voll für Donnerstag abend«, bemerkte er, als Brian das Glas vor ihn hinstellte.

  »Das macht das scheußliche Wetter«, erwiderte Brian, während er für einen anderen Gast ein Bier zapfte. »Das ist immer gut fürs Geschäft.«

  Mit Einbruch der Dunkelheit hatte es heftig zu regnen begonnen, doch Kincaid hatte den Verdacht, daß nicht nur das Wetter die Leute an diesem Abend ins Pub getrieben hatte, sondern vor allem die Aussicht auf den neuesten Klatsch. Der Atmosphäre allerdings tat das gut. Ein leeres Pub war immer irgendwie trist. Lebendig wurde es erst durch die Menschen und das Gewirr ihrer Stimmen. Dies war für ihn die erste Gelegenheit, um sich über das Moon unter normalen Verhältnissen ein Urteil zu bilden. Und was er sah, als er sich auf seinem Hocker langsam herumdrehte, gefiel ihm: behaglich, ohne allzuviel Schnickschnack. Mit Plüsch bezogene Sessel und Bänke, eine tiefe Decke mit dunklen Holzbalken, hier und dort etwas Messing, ein paar Kupfertöpfe im Speiseraum, bunte Vorhänge, die die Nacht fernhielten, und ein offenes Holzfeuer im Kamin, das Wärme und Licht verbreitete.

  Ein Mann in einer Öljacke drängte sich zwischen Kincaid und den Nachbarhocker und hielt Brian sein leeres Glas hin. Er sprach ohne Einleitung, so als setzte er ein begonnenes Gespräch fort: »Na, er mag ja ein altes Ekel gewesen sein, Bri, aber daß es dazu kommen würde, hätt’ ich nicht gedacht.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht mal in seinem eigenen Bett kann man sich heutzutage mehr sicher fühlen.«

  Brian warf unwillkürlich einen raschen Blick auf Kincaid, dann sagte er, während er dem Mann das Bier zapfte, in neutralem Ton: »Er hat nicht in seinem Bett gelegen, Reggie, ich glaube also nicht, daß wir vorm Schlafengehen Angst haben müssen.« Er wischte den übergelaufenen Schaum vom Glas und schob es über den Tresen, ehe er mit einem Nicken zu Kincaid hinzufügte: »Das ist Superintendent Kincaid. Er ist extra aus London gekommen, um den Fall zu klären.«

  Der Mann grüßte Kincaid mit einem brüsken Nicken und brummte etwas, das wie >Als wären unsere Leute nicht gut genug< klang, ehe er zu seinem Tisch zurückkehrte.

  Brian beugte sich über die Bar und sagte ernsthaft: »Kümmern Sie sich nicht um Reggie, Der hat an allem was auszusetzen.« Doch das Stimmengewirr rundherum war versiegt, und Kincaid merkte sehr wohl, daß er das Ziel zahlreicher neugieriger und mißtrauischer Blicke war.

  Es war eine Erleichterung, als endlich Deveney eintraf, der einen Moment an der Tür stehenblieb, um seine Regenmütze auszuschütteln und in die Manteltasche zu stopfen. Gerade als Kincaid aufstand, um ihn zu begrüßen, wurde der Tisch am Kamin frei, und sie schnappten ihn sich geschwind.

  Als Deveney mit seinem Bier vom Tresen zurückkam, hob Kincaid sein Glas. »Prost. Die Einheimischen haben Ihnen soeben ihr Vertrauen ausgesprochen.«

  »Ich wollte,ich wär überzeugt, daß ich es verdiene.« Seufzend rollte er seine Schultern. »War das ein beschissener Tag! Ich hab diese ewige Schreibtischarbeit während der Schulzeit wirklich gehaßt, aber manchmal frage ich mich, warum ich ...«Erbrach ab und riß die Augen auf, als sein Blick zum anderen Ende des Raums schweifte. Dann lächelte er breit. »Der Tag hat soeben eine äußerst erfreuliche Wendung genommen.«

  Kincaid drehte sich um und sah Gemma, die sich langsam zwischen den Tischen ihren Weg bahnte.

  »Wieso kann mein Sergeant nicht so aussehen?« beklagte sich Deveney mit Leidensstimme. »Ich werd’ eine Beschwerde einreichen, und zwar gleich ganz oben, beim Chief Constable.«

  Doch Kincaid hörte ihn kaum. Das Kleid war schwarz, mit langen Ärmeln, aber das war auch das einzig Brave an ihm. Es saß Gemma wie auf den Leib geschneidert und hörte weit über ihren Knien auf. Sie trug ihr Haar selten offen, aber an diesem Abend hatte sie es so gelassen, und ihre helle Haut schimmerte von Kupferrot umrahmt wie Milch und Blut.

  »Machen Sie den Mund wieder zu«, sagte Deveney grinsend, als er aufstand, um Gemma einen Stuhl zu holen.

  »Gemma«, begann Kincaid, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte, und im selbem Moment gingen die Lichter aus.

  Einen gespenstischen Moment lang wurde es grabesstill, dann brach ein Höllenlärm aus.

  »Moment, Moment!« schrie Brian. »Ich hole die Lichter.« Die zuckende Flamme seines Feuerzeugs verschwand hinter der Tür am anderen Ende des Tresens. Wenig später erschien er mit drei brennenden Notlampen wieder, die er im Raum verteilte.

  Das Licht der Petroleumlampen verbreitete einen weichen gelblichen Schein, und Deveney sah Gemma mit unverhohlenem Gefallen lächelnd an. »Wenn das nicht ein großer Auftritt war! Bei Kerzenlicht sehen Sie noch schöner aus, wenn das überhaupt möglich ist.«

  Wenigstens, dachte Kincaid, hatte sie den Anstand zu erröten. Er stand auf, um Gemma etwas zu trinken zu holen, aber Deveney pfiff ihn zurück. »Nein, lassen Sie mich das machen«, sagte er. »Ich komm’ leichter raus.«

  Kincaid ließ sich wieder auf die Bank sinken und betrachtete Gemma, unsicher, was er sagen sollte, da er nicht wußte, wie sie reagieren würde. Schließlich sagte er: »Nick hat recht, du siehst wunderbar aus.«

  Aber anstatt ihn anzusehen, drehte sie den leeren Aschenbecher hin und her und blickte zur Bar hinüber. »Ist GeofF gar nicht hier? Das ist Brians Sohn«, erklärte sie, sich Kincaid zuwendend. »Ich habe ihn heute nachmittag kennengelernt, und nach dem, was er mir erzählt hat, dachte ich eigentlich, er würde an der Bar helfen.«

  Brian trat wieder aus der Küche und verkündete mit lauter Stimme: »Ich habe mit dem Elektrizitätswerk telefoniert. Zwischen Dorking und Guildford ist ein Transformator ausgefallen, es kann also noch eine Weile dauern, bis wir wieder Strom kriegen. Aber keine Angst«, unterbrach er das anschwellende Stimmengewirr, »der Herd arbeitet mit Gas. Das Essen muß also nicht ausfallen.«

  »Na, das ist ein Trost«, meinte Deveney, als er Gemmas Wodka mit Orangensaft und die Speisekarte brachte. »Ich habe einen Bärenhunger. Mal sehen, was Brian unter diesen Umständen zustande bringt.« Nachdem sie ihre Wahl getroffen hatten, sagte er zu Kincaid: »Auf der Dienststelle hat eine Nachricht von Chief Constable auf mich gewartet. Im wesentlichen wollte er uns mitteilen, daß er baldigst konkrete Ergebnisse erwartet. Es ginge schließlich um das >Image der Polizei< und so weiter.«

  Kincaid und Gemma schnitten Gesichter. Diese Sprache von oben war ihnen nur allzu vertraut, mit dem täglichen Kleinkrieg polizeilicher Ermittlungen hatte sie wenig zu tun.

  »Halten Sie eigentlich immer noch an Ihrer Theorie vom Einbrecher fest, Nick?« fragte Kincaid.

  Deveney zuckte die Achseln. »Sie ist so gut wie jede andere.«

  »Dann würde ich vorschlagen, wir fangen damit an,jeden im Dorf zu vernehmen, der in letzter Zeit einen Diebstahl gemeldet hat. Wir müssen die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit den Diebstählen eliminieren, ehe wir weitermachen können. Haben wir eine Liste von der heutigen Hausbefragung?«

  An diesem Punkt brachte Brian ihnen die bestellten Salate. Nachdem er die Schüsseln auf den Tisch gestellt hatte, wischte er sich die schweißfeuchte Stirn. »Ich weiß gar nicht, warum John heute nicht gekommen ist«, sagte er und fügte erklärend hinzu: »Er hilft mir normalerweise am Tresen, und heute werde ich ohne ihn kaum fertig.«

  »Aber was ist denn mit GeofF?« fragte Gemma.

  »Geoff? Was hat Geoff damit zu tun?« sagte Brian gereizt und eilte davon, als ein Gast nach ihm rief.

  »Aber ...« sagte Gemma zu seinem entschwindenden Rücken und hielt errötend inne. »Ich weiß genau, daß er gesagt hat, daß er für seinen Vater arbeitet. Da war es doch logisch anzunehmen, daß er hinter der Bar steht.«

  »Und was halten Sie von Geoff?« fragte Deveney, sie aus ihrer Verlegenheit befreiend, und sie ergriff die Gelegenheit, um von ihrer Begegnung mit dem jungen Mann zu berichten.

  Kincaid hörte ihr schweigend zu, beobachtete ihr lebhaftes Mienenspiel, während sie mit Deveney sprach, und fühlte sich zunehmend ausgeschlossen. Während er in seinem Salat herumstocherte, fragte er sich, ob er sie überhaupt kenne. Hatte er wirklich neben ihr gelegen, ihre Haut an der seinen gefühlt, ihren Atem auf seinen Lippen? Beinahe hätte er ungläubig den Kopf geschüttelt. Wie hatte er sich über das, was zwischen ihnen geschehen war, so sehr täuschen können?

  Das Wort »Streit« lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch, und er sagte: »Wie bitte? Entschuldigung, ich habe nicht richtig zugehört.«

  »Geoff hat mir erzählt, er hätte vor ungefähr zwei Wochen gehört, wie Gilbert mit der Dorfärztin Streit hatte«, antwortete sie ein wenig zu geduldig; beinahe so, als wäre Kincaid ein etwas beschränktes Kind. »Aber er konnte mir nicht sagen, worum es ging. Er hat nur bemerkt, daß sie beide ärgerlich und aufgebracht waren.«

  »Es ist merkwürdig«, meinte sie einen Augenblick später, während sie einen Tomatenschnitz mit ihrer Gabel aufspießte, »ich kann mich nicht erinnern, Gilbert je zornig gesehen zu haben. Wir wußten nur alle ganz genau, ohne daß je darüber gesprochen wurde, daß einem großer Ärger bevorstand, wenn er noch leiser sprach als sonst.«

  »Wie bitte?« sagte Kincaid wieder. »Sie haben ihn gekannt? Sie haben mit Alastair Gilbert zusammengearbeitet?« Er kam sich vor wie ein kompletter Idiot.

  »Er war mein Superintendent, als ich in Notting Hill angefangen habe«, antwortete Gemma nachlässig. »Ich wußte nicht, daß das wichtig ist.« Ihren Worten folgte unangenehmes Schweigen, und sie fügte hinzu: »Auf jeden Fall sollten wir gleich morgen mal mit dieser Ärztin sprechen, finde ich.«

  »Moment, Gemma«, entgegnete Kincaid. »Jemand muß Gilberts Dienststelle aufsuchen und mit den Leuten dort sprechen. Und Sie wollen doch sicher einmal nach Toby sehen. Fahren Sie doch morgen nach London, dann kümmern sich Nick und ich hier um die Ermittlungen.«

  Sie sagte nichts, als sie ihren Teller wegschob und sorgfältig Messer und Gabel niederlegte, aber der Blick, den sie ihm zuwarf, war vernichtend.