Der Geruch nach Desinfektionsmitteln erinnerte Kincaid immer an das Krankenzimmer seiner alten Schule, wo die Hausmutter das Verbinden aufgeschrammter Knie überwacht und die Macht besessen hatte, einen nach Hause zu schicken, wenn die Krankheit oder Verletzung sich als ernst genug erwies. Denen jedoch, die sich in diesem Raum befanden, konnte niemand mehr helfen, und das Desinfektionsmittel vermochte den Hauch der Verwesung nicht ganz zu kaschieren. Es war so kalt, daß ihn fröstelte.
Ein Anruf beim Revier Thames Valley hatte sie ins städtische Krankenhaus High Wycombe geführt, wo Connor Swanns Leiche auf die Obduktion wartete. Das Krankenhaus war ein alter Bau, die Leichenhalle noch immer ein kalter gekachelter Raum mit Porzellanspülbecken; die langen Reihen von Schubladen aus rostfreiem Stahl, in denen sich die Leichen sauber und unsichtbar aufbewahren ließen, gab es hier noch nicht.
»Wen suchen Sie gleich wieder?« fragte sie die junge Frau im weißen Kittel, auf deren Namensschildchen >Sherry< stand und deren heiter unbekümmerte Art besser in einen Kindergarten gepaßt hätte.
»Connor Swann«, antwortete Kincaid mit einem belustigten Blick zu Gemma.
Die junge Frau ging die Reihe der Tragen ab, wobei sie im Vorübergehen an die an den Zehen der Leichen befestigten Etiketten schnippte. »Hier haben wir ihn schon. Nummer vier.« Mit routinierter Geschicklichkeit schlug sie das Leintuch bis zur Taille des Toten zurück. »Eine schöne saubere Leiche. Das macht es immer ein bißchen einfacher, finden Sie nicht auch?« Sie lächelte sie strahlend an, als hielte sie sie für leicht debil, ging dann zur Schwingtür zurück und rieflaut »Mickey!« in den Flur hinaus. »Wir brauchen Hilfe, wenn wir ihn umdrehen wollen«, fügte sie zu Kincaid und Gemma gewandt erklärend hinzu.
Mickey erschien einen Augenblick später. Wie ein Bulle, der endlich aus dem Stall gelassen worden ist, stürmte er durch die Tür. Die Muskeln in seinen Armen und Schultern spannten das dünne Gewebe seines T-Shirts, und er trug die kurzen Ärmel aufgerollt, um ein paar Extrazentimeter Bizeps zu zeigen.
»Kannst du diesen Leuten hier mal mit Nummer vier helfen, Mickey?« sagte Sherry sehr artikuliert. Ihrem freundlich gönnerhaften Kindergärtnerinnengehabe war jetzt eine Prise Gereiztheit beigemischt. Der junge Mann nickte nur mit unbewegtem Pickelgesicht und zog ein paar dünne Latexhandschuhe aus der Hüfttasche seiner weißen Hose. »Lassen Sie sich Zeit, soviel Sie wollen«, bemerkte sie zu Kincaid und Gemma. »Wenn Sie fertig sind, brauchen Sie nur zu rufen, okay? Tschüs inzwischen.« Mit flatterndem Kittel flitzte sie an ihnen vorüber und ging durch die Schwingtür hinaus.
Sie traten zu der Trage und blieben schweigend vor ihr stehen. In der Stille hörte Kincaid Gemmas leisen Atem. Connor Swanns Hals und Schultern waren mager und gut geformt, das volle glatte braune Haar hatte einen Stich ins Rötliche. Kincaid vermutete, daß er im Leben einer jener Männer gewesen war, die im Zorn oder in der Erregung schnell rot anliefen. Sein Körper zeigte in der Tat kaum Male. Am linken Oberarm und an der Schulter waren Blutergüsse zu erkennen, und als Kincaid näher hinsah, entdeckte er auf beiden Halsseiten schwache dunkle Stellen.
»Ein paar Quetschungen«, sagte Gemma zweifelnd, »aber keinerlei Verfärbung von Gesicht und Hals, wie man sie bei manueller Strangulierung erwarten würde.«
Kincaid beugte sich tiefer über den Toten. »Keine Ligatur. Schauen Sie, Gemma, da am rechten Wangenknochen, ist das ein Bluterguß?«
Sie musterte die dunkle Stelle. »Möglich. Schwer zu sagen. Er kann leicht mit dem Gesicht gegen das Schleusentor geschlagen sein.«
Connor Swann, dachte Kincaid, mußte ein gutaussehender Mann gewesen sein, hohe, breite Wangenknochen, eine kräftige Nase und ein ebenso kräftiges Kinn. Über seinen vollen Lippen saß ein gepflegter, rötlich schimmernder Schnauzbart, der auf der fahlen Blässe der Haut seltsam lebendig wirkte.
»Sieht nicht übel aus, der Mann, finden Sie nicht auch, Gemma?«
»Ja, er war wahrscheinlich recht attraktiv ... Möglicherweise allerdings auch ganz schön eingebildet. So wie ich es verstanden habe, war er ein ziemlicher Casanova.«
Kincaid fragte sich, wie Julia Swann damit umgegangen war - sie hatte ihm nicht den Eindruck einer Frau gemacht, die bereit war, brav am heimischen Herd zu sitzen, während ihr Ehemann den Draufgänger spielte. Und er fragte sich weiter, wie weit sein Wunsch, Connor zu sehen, mit dienstlichem Interesse zu tun hatte und wie weit mit persönlicher Neugier.
Mit fragend hochgezogener Braue wandte er sich Mickey zu. »Könnten wir uns den Rest mal ansehen?«
Der junge Mann leistete der Aufforderung wortlos Folge, indem er das Laken ganz herunterzog.
»Er war im Urlaub, aber es scheint schon länger her zu sein«, bemerkte Gemma, als sie die Ränder verblaßter Sonnenbräune an den Oberschenkeln und am Bauch sahen. »Aber vielleicht hat er auch ein Boot und ist damit im Sommer auf der Themse herumgegondelt.«
Kincaid nickte und ahmte dann Mickeys nonverbalen Kommunikationsstil nach, indem er mit einer Hand eine Drehbewegung machte. Mickey schob daraufhin seine beiden behandschuhten Hände unter Connor Swanns Körper und drehte ihn mit scheinbarer Mühelosigkeit herum, wobei er allerdings ein Ächzen nicht ganz unterdrücken konnte.
Breite, sommersprossige Schultern; im Nacken, unter dem Haaransatz, ein blasser Streifen, Zeugnis eines kürzlichen Haarschnitts; ein Muttermal, wo die Schwellung des Gesäßes begann - Trivialitäten, dachte Kincaid, aber alle Beweise für Connor Swanns Einzigartigkeit. Stets trat im Lauf einer Ermittlung dieser Augenblick ein, in dem aus dem Leichnam ein Mensch wurde, eine Person, die vielleicht eine Vorliebe für Gewürzgurken oder alte Benny-Hill-Komödien gehabt hatte.
»Genug gesehen?« fragte Gemma, etwas gedämpfter als sonst wirkend. »Keinerlei Male auf dieser Seite.«
Kincaid nickte. »Genug gesehen«, bestätigte er. »Und das alles hilft uns sowieso nicht viel, solange wir nicht wissen, was er in der fraglichen Nacht getrieben hat, und keine geschätzte Todeszeit haben. - Okay, Mickey«, sagte er zu dem jungen Mann, der sie anstarrte, als hätten sie Griechisch gesprochen, »das wär’s. Sprechen wir noch mal mit Sherry Sonnenschein.«
An der Tür drehte sich Kincaid noch einmal herum. Mickey hatte Connors Leiche bereits wieder auf den Rücken gelegt und das Laken über ihr ausgebreitet.
Sie fanden die junge Frau in einem winzigen Büro gleich links von der Schwingtür, wo sie über einem Computer saß.
»Wissen Sie, für wann die Obduktion angesetzt ist?« fragte Kincaid.
»Da muß ich mal nachsehen.« Sie studierte einen Plan, der über ihrem Schreibtisch an der Wand hing. »Winnie wird ihn sich wahrscheinlich morgen am späten Nachmittag oder übermorgen gleich in aller Frühe vornehmen können.«
»Winnie?« fragte Kincaid, dem plötzlich ein absurdes Bild von Pu dem Bären mit Messer und Skalpell vorschwebte.
»Dr. Winstead.« Sherry lächelte, und in ihren Wangen bildeten sich niedliche Grübchen. »Wir nennen ihn alle so - er ist ein bißchen mollig.«
Kincaid dachte mit Resignation daran, daß er der Obduktion würde beiwohnen müssen. Die anfängliche gruselige Erregung angesichts der Vorgänge hatte sich längst gelegt. Jetzt fand er sie nur noch widerwärtig, und diese letzte Verletzung menschlicher Intimsphäre schien ihm manchmal unerträglich traurig.
»Würden Sie mir Bescheid geben, sobald der Zeitpunkt feststeht?«
»Sie können sich darauf verlassen.« Sherry strahlte ihn an.
Flüchtig nahm Kincaid Gemmas Gesichtsausdruck wahr und wußte, sie würde ihm nachher eins dafür auf den Deckel geben, daß er den kleinen Angestellten Honig ums Maul schmierte. »Vielen Dank, Schätzchen«, sagte er zu Sherry und beschenkte sie mit seinem charmantesten Lächeln. »Sie waren mir eine große Hilfe.« Mit klimpernden Fingern winkte er ihr zu. »Tschüs inzwischen.«
»Sie sind wirklich schamlos«, sagte Gemma, sobald sie draußen waren. »Das arme kleine Ding war ja völlig hingerissen von Ihnen.«
Kincaid lachte. »Aber man erreicht was damit, oder nicht?«
Nach einigen nicht eingeplanten Umwegen infolge ihrer Unvertrautheit mit dem Einbahnstraßensystem von High Wycombe fand Gemma schließlich ihren Weg aus der Stadt hinaus. Kincaids Anweisungen folgend, fuhr sie in südwestlicher Richtung, zurück ins Gebiet der Chiltern Hills. Ihr knurrte ein wenig der Magen, aber sie hatten beschlossen, noch vor dem Mittagessen mit den Ashertons zu sprechen.
Was sie von Tony und Kincaid über die Familie gehört hatte, hatte sie neugierig gemacht. Mit einer Frage auf den Lippen sah sie Kincaid an, doch sein ins Leere gerichteter Blick verriet ihr, daß er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Er war oft so vor einer Vernehmung, als müßte er sich in sich selbst versenken, um diese intensive Konzentration dann nach außen richten zu können.
Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, war sich jedoch plötzlich seiner Nähe und seines Schweigens ungewöhnlich stark bewußt.
Nach ein paar Minuten erreichten sie eine Straßengabelung, und ehe sie fragen konnte, welchen Weg sie nehmen sollte, sagte er: »Biegen Sie hier ab. Das Haus liegt ungefähr auf halbem Weg an dieser kleinen Straße.« Mit der Fingerspitze zog er eine feine Linie auf der Karte nach, die die Dörfer Northend und Turville Heath verband. »Sie ist nicht gekennzeichnet, wahrscheinlich eine Abkürzung für die Einheimischen.«
Ein Wasserlauf kam aus den Bäumen hervor und kreuzte die schmale Straße, und Rinnsale klaren Wassers schlängelten sich über den Asphalt. Ein gelbes Dreieck warnte: Vorsicht! Gefahr der Überflutung, und plötzlich wurde die Geschichte, die Gemma über Matthew Ashertons Tod im Wasser gehört hatte, sehr plastisch.
»Scharf links jetzt«, sagte Kincaid, und Gemma zog das Lenkrad herum. Das von hohen Böschungen begrenzte Sträßchen, in das sie hineinfuhren, war für den Escort gerade breit genug. Zu beiden Seiten standen dicke alte Bäume, deren Zweige sich über ihnen zu einem Dach schlossen. Die kleine Straße stieg stetig an, und die hohen Böschungen wuchsen, bis die Baumwurzeln auf Augenhöhe waren. Rechts konnte Gemma durch das dichte Laub gelegentlich den Glanz goldener Felder sehen, die sich zu einem Tal hinabsenkten. Links stand der Wald, dunkel und undurchdringlich, und das Licht, das durch das Laubdach über der Straße sickerte, hatte einen grünlichen Schimmer.
»Wie beim Rodeln«, sagte Gemma plötzlich.
»Was?«
»Das erinnert mich ans Rodeln. Sie wissen schon, Schlittenfahren.«
Kincaid lachte. »Sie haben vielleicht eine Phantasie! Vorsicht jetzt, gleich kommt eine Abzweigung nach links.«
Sie näherten sich dem höchsten Punkt der Steigung, als Gemma in der Böschung zur Linken einen Einschnitt entdeckte. Sie nahm Gas weg und steuerte den Wagen vorsichtig auf den laubgepolsterten Fahrweg, folgte seinem leicht abwärtsführenden Lauf, bis sie hinter einer Biegung eine Lichtung erreichte. »Oh«, sagte sie leise und überrascht. Sie hatte ein Fachwerkhaus erwartet, ein Haus wie jene, die sie in den nahe gelegenen Dörfern gesehen hatte. Die Sonne, die immer wieder von Wolken verdrängt worden war, fand eine Lücke und malte lichtgesprenkelte Muster auf die weißen Kalksteinmauern des Gebäudes.
»Gefällt es Ihnen?«
»Ich weiß nicht recht.« Gemma kurbelte das Fenster herunter, nachdem sie den Motor ausgeschaltet hatte, und einen Moment lang blieben sie sitzen und lauschten. Durch die Stille des Waldes hörten sie ein schwaches, tiefes Summen. »Es ist ein bißchen gespenstisch. Ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.«
»Warten Sie nur«, sagte Kincaid, als er die Wagentür öffnete, »bis Sie die Familie kennenlernen.«
Gemma nahm an, die Frau, die ihnen öffnete, sei Dame Caroline Stowe - elegante lange Hose aus teurem Stoff, Seidenbluse und marineblaue Strickjacke, kurzes dunkles, von Grau durchzogenes Haar - alles an ihr zeugte von konservativem gutem Geschmack. Doch als die Frau sie beide verständnislos anblickte und dann sagte: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« wurde Gemma unsicher.
Kincaid stellte sich und Gemma vor und fragte dann nach Sir Gerald und Dame Caroline.
»Oh, tut mir leid, sie sind im Augenblick nicht hier. Sie sind zum Bestattungsunternehmen hinuntergefahren. Wegen der Beerdigung.« Sie bot erst Gemma, dann Kincaid die Hand. »Ich bin Vivian Plumley.«
»Die Haushälterin?« fragte Kincaid, und Gemma erkannte an seiner nicht gerade sehr taktvollen Frage, daß er auf diese Begegnung nicht vorbereitet gewesen war.
Vivian Plumley lächelte: »So könnte man sagen. Es stört mich jedenfalls nicht.«
»Gut.« Kincaid hatte seine Gewandtheit und sein charmantes Lächeln bereits wiedergefunden. »Wir würden uns gern auch mit Ihnen unterhalten, wenn das möglich ist.«
»Kommen Sie mit in die Küche. Ich mache Ihnen einen Kaffee.« Sie führte sie durch den mit Schieferplatten ausgelegten Flur und wich dann zurück, um ihnen den Vortritt zu lassen.
Die Küche war von Modernisierungen verschont geblieben. Gemma mochte über Fotografien blitzender Superküchen in wehmütige Seufzer ausbrechen, sie wußte dennoch instinktiv, daß sie für einen Raum wie diesen keinen emotionalen Ersatz boten. Ein geschrubbter alter Eichentisch, umgeben von Stühlen mit Lederrücken, stand in der Mitte des Raums, bunte Flickenteppiche milderten die Kühle des grauen Schieferbodens, und an einer Wand stand ein rot emaillierter Herd, der Wärme und Gemütlichkeit verbreitete.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Vivian Plumley mit einer Geste zum Tisch. Gemma zog einen Stuhl heraus und setzte sich. Sie spürte, wie die Spannung, derer sie sich gar nicht bewußt gewesen war, aus ihr herausfloß. »Etwas zu essen?« fragte Vivian, und Gemma schüttelte rasch den Kopf, da sie fürchtete, sie würden, von der Behaglichkeit des Raumes verführt, die Kontrolle über das Gespräch verlieren.
Kincaid sagte »Nein, danke« und setzte sich auf den Stuhl am Kopfende des Tischs. Gemma nahm ihren Block aus ihrer Tasche und legte ihn unauffällig auf ihren Schoß.
Der Duft frischen Kaffees begann sich im Zimmer auszubreiten. Vivian stellte Tassen, Sahne und Zucker auf ein Tablett. Sie verrichtete ihre Tätigkeit schweigend, eine Frau, die selbstsicher genug war, um sich nicht gezwungen zu fühlen, Konversation zu machen. Als der Kaffee fertig war, füllte sie die Tassen und trug das Tablett zum Tisch.
»Bitte, bedienen Sie sich. Das ist übrigens richtige Sahne, kein Diätersatz. Wir haben einen Nachbarn, der ein paar Kühe hält.«
»So einen Genuß darf man sich natürlich nicht entgehen lassen«, sagte Kincaid und kippte eine Ladung Sahne in seine Tasse. Gemma lächelte, sie wußte, daß er seinen Kaffee gewöhnlich schwarz trank. »Dann sind Sie also gar nicht die Haushälterin?« fuhr er in leichtem Ton fort. »Bin ich ins Fettnäpfchen getreten?«
Vivian rührte ihren Kaffee um und seufzte. »Oh, ich gebe Ihnen gern Auskunft über mich, wenn Sie das möchten, aber es klingt immer so schrecklich viktorianisch. Tatsächlich bin ich mit Caroline verwandt, wir sind Cousinen zweiten Grades, um genau zu sein. Wir sind praktisch im selben Alter und gingen zusammen zur Schule.« Sie hielt inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken, verzog aber gleich das Gesicht. »Zu heiß. Nach der Schule haben wir uns ein bißchen aus den Augen verloren. Wir heirateten beide, und Caro begann ihre Karriere als Sängerin.« Vivian lächelte. »Dann starb mein Mann. Eine krankhafte Arterienerweiterung.« Sie schlug kurz ihre Hände aneinander. »Praktisch von einem Tag auf den anderen. Wir hatten keine Kinder, ich hatte keine richtige Berufsausbildung, und das Geld war knapp. Das ist jetzt dreißigjahre her. Damals war es noch nicht üblich, daß jedes junge Mädchen einen Beruf erlernt.« Sie sah Gemma direkt an. »Bei Ihnen war das sicher ganz anders.«
Gemma dachte an ihre Mutter, die an jedem Tag ihrer Ehe vor Tagesanbruch aufgestanden war, um zu backen, und dann den ganzen Tag im Laden hinter der Theke gestanden hatte. Die Möglichkeit, nicht zu arbeiten, kam Gemma und ihrer Schwester nie in den Sinn - Gemmas größter Ehrgeiz war es gewesen, einen Beruf zu wählen, der sie erfüllte, und nicht einfach irgendeinen Job zu machen, damit abends etwas zu essen auf dem Tisch stand. »Ja, da haben Sie recht«, sagte sie in Antwort aufVi-vian Plumleys Bemerkung. »Und was haben Sie getan?«
»Caro hatte zwei kleine Kinder und einen sehr anstrengenden Beruf.« Sie zuckte die Achseln. »Die Lösung schien vernünftig. Sie hatten Platz, ich hatte genug eigenes Geld, um nicht ganz von der Familie abhängig zu sein, und ich liebte die Kinder, als ...«
Als wären sie deine eigenen, vollendete Gemma im stillen für sie und verspürte spontan eine starke Sympathie mit dieser Frau, die aus dem, was das Leben ihr zugeteilt hatte, das Beste gemacht zu haben schien. Sie strich mit ihren Fingern über die Tischplatte und bemerkte schwache Farbspuren, die sich in die Maserung des Holzes eingegraben hatten.
Vivian, die sie beobachtete, sagte voll Wärme: »Die Kinder haben immer an diesem Tisch hier gesessen. Sie haben natürlich meistens in der Küche gegessen. Ihre Eltern waren so viel auf Reisen, daß eine Mahlzeit in der Familie eine ganz besondere Sache war. Sie haben hier ihre Hausaufgaben gemacht, gespielt - Julia hat hier an diesem Tisch zu zeichnen angefangen.«
Die Kinder dies - die Kinder das ... Gemma hatte den Eindruck, als wäre die Zeit mit dem Tod des Jungen einfach stehengeblieben. Aber Julia war ja noch dagewesen, allein.
»Für Julia muß das heute alles sehr schwer sein«, sagte sie, sich vorsichtig dem eigentlichen Thema annähernd. »Ich meine, nach dem, was ihrem Bruder zugestoßen ist.«
Vivian wandte sich ab. Mit einer Hand umfaßte sie die Tischkante, als müßte sie sich daran hindern aufzustehen. Nach einem kurzen Schweigen sagte sie: »Darüber sprechen wir nie. Aber ja, Cons Tod ist eine schwere Belastung für Julia. Er ist eine Belastung für uns alle.«
Kincaid, der bisher schweigend zugehört hatte, beugte sich vor und sagte: »Haben Sie Connor Swann gemocht, Mrs. Plumley?«
»Gemocht?« wiederholte sie ein wenig verblüfft, dann runzelte sie die Stirn. »Ich habe eigentlich nie darüber nachgedacht, ob ich Connor mag oder nicht. Er war einfach ... Nun, Connor eben. Eine Naturgewalt.« Sie lächelte ein wenig über ihren Vergleich. »In vieler Hinsicht ein sehr attraktiver Mann, und doch ... Irgendwie hat er mir immer ein wenig leid getan.«
Kincaid zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts, und Gemma folgte seinem Beispiel.
Achselzuckend fügte Vivian hinzu: »Ich weiß, es klingt ein bißchen albern zu sagen, so ein vitaler Vollblutmensch wie Con habe einem leid getan, aber Julia war ihm immer ein Rätsel.« Die Goldknöpfe an ihrer Strickjacke blitzten im Licht auf, als sie sich ein wenig anders setzte. »Nie reagierte sie so, wie er es erwartete oder wünschte, und damit hatte er keine Erfahrung. Deshalb benahm er sich manchmal - unangemessen.«
Im vorderen Teil des Hauses fiel eine Tür zu, und sie neigte lauschend den Kopf. Sich halb von ihrem Stuhl erhebend, sagte sie: »Sie sind zurück. Ich will ihnen gleich -«
»Eine Frage noch, bitte, Mrs. Plumley«, unterbrach Kincaid. »Haben Sie Connor Swann am Donnerstag gesehen?«
Sie ließ sich wieder nieder, jedoch nur auf die Stuhlkante, wie auf dem Sprung. »Natürlich habe ich ihn gesehen. Ich habe ja das Mittagessen gemacht - nur kalte Salate und Käse -, und wir haben alle zusammen im Speisezimmer gegessen.«
»Alle außer Julia?«
»Ja, aber sie arbeitet mittags oft durch. Ich habe ihr selbst einen Teller hinaufgebracht.«
»War Connor Swann wie immer?« fragte Kincaid wie beiläufig, doch Gemma wußte, daß er voll stiller Konzentration auf die Antwort wartete.
Vivian entspannte sich, während sie überlegte, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und zeichnete geistesabwesend das Blumenmuster auf ihrer Kaffeetasse nach. »Con hat immer viel gescherzt und gelacht, aber vielleicht war es ein wenig aufgesetzt. Ich weiß nicht.« Mit einem Stirnrunzeln sah sie Kincaid an. »Es ist gut möglich, daß ich das erst jetzt, im nachhinein so sehe. Ich traue meinem eigenen Urteil nicht recht.«
Kincaid nickte. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Erwähnte er beim Mittagessen etwas über seine Pläne für den Rest des Tages? Es ist wichtig für uns festzustellen, was er an diesem Tag getan hat.«
»Ich erinnere mich, daß er auf seine Uhr sah und etwas von einer Verabredung sagte, aber er nannte keinen Namen. Das war gegen Ende des Essens. Als wir alle fertig waren, bin ich in die Küche gegangen, um abzuspülen, und danach in mein Zimmer, um mich ein wenig hinzulegen. Am besten fragen Sie Caro oder Gerald, ob er ihnen Näheres gesagt hat.«
»Danke, das werde ich tun«, antwortete Kincaid so höflich, daß Gemma sicher war, es würde Vivian Plumley überhaupt nicht auffallen, daß sie ihn soeben darüber belehrt hatte, wie er Seine Arbeit tun solle. »Es ist natürlich eine reine Förmlichkeit, aber ich muß Sie bitten, uns zu sagen, wie Sie den Donnerstagabend verbracht haben«, fügte er beinahe entschuldigend hinzu.
»Sie wollen ein Alibi von mir?« fragte Vivian in einem Ton, der mehr Überraschung als Gekränktheit verriet.
»Wir wissen noch nicht, wann genau Connor Swann gestorben ist. Es geht vor allem darum, Fakten zu sammeln - je mehr wir über das Tun der Personen wissen, die mit Connor in Verbindung standen, desto leichter wird es, die Lücken zu sehen. Die Löcher in der Logik.«
»Natürlich.« Besänftigt lächelte sie. »Das ist ganz einfach. Caro und ich haben im Wohnzimmer zusammen zu Abend gegessen. Ziemlich früh, wie häufig, wenn Gerald nicht da ist.«
»Und danach?«
»Danach haben wir noch eine Weile am Feuer gesessen, gelesen, ferngesehen, ein wenig miteinander geredet. Gegen zehn habe ich uns beiden eine Tasse Kakao gemacht, und als wir ausgetrunken hatten, bin ich zu Bett gegangen.« Mit einem Anflug von Ironie fügte sie hinzu: »Ich weiß noch, daß ich dachte, es sei ein besonders friedlicher und angenehmer Abend gewesen.«
»Das war alles?« Kincaid richtete sich auf und schob seine leere Tasse weg.
»Ja«, antwortete Vivian, doch dann hielt sie abrupt inne und starrte einen Moment ins Leere. »Ich erinnere mich tatsächlich an etwas, aber es ist ziemlich lächerlich.« Als Kincaid auffordernd nickte, fuhr sie fort. »Kurz nachdem ich eingeschlafen war, glaubte ich, die Türglocke zu hören, aber als ich mich aufsetzte und lauschte, war es völlig still im Haus. Ich muß es geträumt haben. Gerald und Julia haben natürlich beide ihre eigenen Schlüssel, es bestand daher kein Anlaß, auf sie zu warten.«
»Haben Sie die beiden nach Hause kommen hören?«
»Ich glaubte, gegen Mitternacht Gerald zu hören, aber ich war nicht richtig wach, und als ich das nächste Mal aufwachte, begann es draußen schon hell zu werden, und die Krähen machten in den Buchen vor meinem Fenster einen Höllenlärm.«
»Könnte es nicht auch Julia gewesen sein?« fragte Kincaid.
Sie überlegte einen Moment mit gekrauster Stirn. »Ja, möglich wäre es, aber wenn es nicht gerade schrecklich spät ist, schaut Julia im allgemeinen noch einmal zu mir hinein, ehe sie hinaufgeht.«
»Und an diesem Abend hat sie das nicht getan?.«
Als Vivian den Kopf schüttelte, sagte Kincaid mit einem Lächeln: »Ich danke Ihnen, Mrs. Plumley. Das war schon alles.«
Vivian Plumley sah ihn an und fragte: »Soll ich ihnen jetzt sagen, daß Sie hier sind?«
Sir Gerald Asherton stand im Wohnzimmer vor dem Feuer, die Hände auf dem Rücken. Wie man sich einen Landjunker vorstellt, dachte Gemma, als sie ihn sah, in entspannter Pose, die Beine leicht gespreizt, in sportlichen Tweed gekleidet. Selbst die obligaten Lederflicken auf den Jackenärmeln waren da. Nur eine Pfeife und zwei ihm zu Füßen liegende Jagdhunde fehlten, um das Bild zu vervollständigen.
»Tut mir leid, daß Sie warten mußten.« Er kam ihnen entgegen, schüttelte beiden die Hand und wies zum Sofa.
Gemma fand seine Höflichkeit entwaffnend und vermutete, daß sie genau das bezweckte.
»Danke, Sir Gerald«, sagte Kincaid mit gleicher Höflichkeit. »Und Dame Caroline?«
»Sie hat sich hingelegt. Die Sache beim Bestattungsunternehmer hat sie doch sehr mitgenommen.« Sir Gerald setzte sich ihnen gegenüber in einen Sessel, schlug die Beine übereinander und zog sein Hosenbein ein wenig hoch. Ein Stück karierter Socke im herbstlichen Orange und Rostbraun zeigte sich zwischen Schuh und Hosenaufschlag.
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Sir Gerald«, sagte Kincaid mit einem gewinnenden Lächeln, »aber ist es nicht etwas merkwürdig, daß Ihre Tochter diese Formalitäten nicht selbst erledigt? Connor Swann war schließlich ihr Ehemann.«
»Eben«, antwortete Sir Gerald mit einem Anflug von Schärfe. »Manchmal ist es besser, wenn diese Dinge von jemandem erledigt werden, der etwas mehr Distanz hat. Und diese Bestattungsleute sind ja berüchtigt dafür, daß sie aus den Gefühlen der Leute gern Kapital schlagen.« Mit einer Aufwallung von Mitleid erinnerte sich Gemma daran, daß dieser stämmige, selbstsichere Mann aus schlimmster persönlicher Erfahrung sprach.
Kincaid zuckte die Achseln und ließ die Sache ruhen. »Ich muß Sie fragen, was Sie am Donnerstag abend getan haben, Sir.« Als Sir Gerald fragend eine Augenbraue hochzog, fügte er hinzu: »Es ist nur eine Formalität.«
»Natürlich, Mr. Kincaid. Ich habe am Donnerstag abend eine Aufführung von Pelleas und Melisande dirigiert. Im Coliseum.« Er sah ihn mit seinem breiten, jovialen Lächeln an. »Sichtbar für alle Welt.«
Gemma stellte ihn sich auf dem Podium vor einem großen Orchester vor und war überzeugt, daß er einen Konzertsaal ebenso mühelos beherrschte wie diesen kleinen Raum hier. Von ihrem Platz aus sah sie eine Fotografie von ihm, die zusammen mit mehreren anderen in Silber gerahmt auf dem Flügel stand. Möglichst unauffällig erhob sie sich und ging hinüber, um sich die Bilder anzusehen. Das nächststehende zeigte Sir Gerald im Smoking, den Dirigentenstab in der Hand. Er wirkte so ungezwungen wie im sportlich rustikalen Tweed. Auf einem anderen Foto hielt er eine zierliche dunkelhaarige Frau im Arm, die vergnügt in die Kamera lachte.
Die Fotografie der Kinder war nach rückwärts geschoben, als hätte niemand Interesse daran, sie öfter zu betrachten. Der Junge stand leicht im Vordergrund, stämmig und blond, mit einer Zahnlücke und einem spitzbübischen Lachen. Das Mädchen war einige Zentimeter größer, dunkelhaarig wie die Mutter, das schmale Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck. Das war natürlich Julia. Julia und Matthew.
»Und danach?« hörte sie Kincaid sagen und richtete, etwas verlegen über ihre Unaufmerksamkeit, ihre Konzentration wieder auf das Gespräch.
Sir Gerald zuckte die Achseln. »Man braucht nach jeder Aufführung eine gewisse Zeit, um sich wieder zu entspannen. Ich blieb eine Weile in meiner Garderobe, aber ich muß gestehen, ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Dann bin ich direkt nach Hause gefahren. Ich denke, ich werde irgendwann nach Mitternacht hier angekommen sein.«
»Genauer können Sie es nicht sagen?« fragte Kincaid mit einem Anflug von Skepsis.
Sir Gerald hob seinen rechten Arm und schob den Jackenärmel über einem behaarten Handgelenk hoch. »Ich trage keine Uhr, Mr. Kincaid. Armbanduhren haben mich immer gestört. Und es ist lästig, sie für jede Probe oder Aufführung abnehmen zu müssen. Ich habe die verdammten Dinger immer irgendwo liegenlassen. Und die Autouhr hat nie richtig funktioniert.«
»Sie haben unterwegs nirgends gehalten?«
Sir Gerald schüttelte den Kopf und antwortete so entschieden wie jemand, der es gewöhnt ist, daß sein Wort Gesetz ist: »Nein, ich habe nirgends gehalten.«
»Haben Sie mit jemandem gesprochen, als Sie nach Hause kamen?« fragte Gemma, die es an der Zeit fand, auch etwas beizusteuern.
»Es war niemand mehr auf. Meine Frau schlief, als ich kam, und ich habe sie nicht geweckt. Ich kann nur annehmen, daß auch Vivian schon schlief. Sie sehen also, junge Frau, falls es Ihnen um ein Alibi geht«, er hielt inne und sah Gemma zwinkernd an, »kann ich Ihnen leider keines liefern.«
»Was war mit Ihrer Tochter, Sir? Hat sie ebenfalls geschlafen?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich kann mich nicht erinnern, Julias Wagen in der Auffahrt gesehen zu haben, aber es ist natürlich möglich, daß jemand sie hierher mitgenommen hat.«
Kincaid stand auf. »Ich danke Ihnen, Sir Gerald. Wir werden uns noch einmal mit Ihrer Gattin unterhalten müssen, wenn es ihr paßt, aber jetzt würden wir gern Ihre Tochter sprechen.«
»Nun, Sie kennen ja den Weg, Mr. Kincaid.«
»Du meine Güte, ich komme mir vor wie in einem Boulevardstück.« Gemma drehte sich nach Kincaid um, als sie ihm voraus die Treppe hinaufging. »Perfekte Formen und keine Substanz. Was wird in diesem Haus eigentlich gespielt?« Auf dem ersten Treppenabsatz blieb sie stehen und sah ihn an. »Man könnte ja meinen, diese Frauen seien aus Glas, so wie Sir Gerald und Mrs. Plumley sie verhätscheln. Nur ja Caroline nicht aufregen ... Nur ja Julia nicht aufregen«, zischte sie, als ihr etwas verspätet einfiel, ihre Stimme zu senken.
Kincaid zog nur auf diese unerschütterlich stoische Art und Weise, die sie manchmal so aufregte, eine Augenbraue hoch. »Ich weiß nicht, ob ich Julia Swann als eine Hätschelpuppe bezeichnen würde.« Er nahm die nächste Treppe in Angriff, und Gemma folgte ihm schweigend.
Die Tür öffnete sich, sobald Kincaid klopfte. »Ach, Plummy, endlich. Ich bin schon am Ver -«Julia Swanns Lächeln erlosch abrupt, als sie sie erkannte. »Oh! Superintendent Kincaid. Schon wieder da?«
»Wie eine lästige Fliege«, antwortete Kincaid mit seinem gewinnendsten Lächeln.
Julia Swann schob den Pinsel, den sie in der Hand hielt, hinter ihr Ohr und trat zurück, um Kincaid und Gemma hereinzulassen. Gemma musterte sie und verglich die Frau mit dem mageren, ernsthaften Kind auf der Fotografie im Wohnzimmer. Die junge Julia war unzweifelhaft noch in der erwachsenen Frau wiederzufinden, doch aus der kindlichen Schlaksigkeit war geschmeidige Eleganz geworden, und die Unschuld im Blick des kleinen Mädchens war lange verloren.
Die Jalousien vor den Fenstern waren herabgelassen, und blasses, wäßriges Licht erhellte den Raum. Der Zeichentisch in der Mitte, leer bis auf eine Palette und ein Zeichenbrett, an dem ein weißes Blatt Papier angeheftet war, wirkte wie ein Ruhepunkt in der allgemeinen Unordnung des Ateliers.
»Plummy bringt mir meistens um diese Zeit ein Sandwich herauf«, bemerkte Julia, als sie die Tür schloß und zum Tisch zurückkehrte. In lässiger Haltung lehnte sie sich dagegen, doch Gemma hatte den Eindruck, daß sie mehr als nur körperlichen Halt suchte.
Auf dem Tisch lag das fertige Bild einer Blume. Beinahe instinktiv trat Gemma näher und streckte die Hand aus. »Oh, wie schön«, sagte sie leise, jedoch ohne das Blatt zu berühren. Das Aquarell mit den intensiven Grün- und Violettönen der Pflanze hatte beinahe etwas Orientalisches.
»Das tägliche Brot«, sagte Julia, doch sie lächelte, offensichtlich um Höflichkeit bemüht. »Ich arbeite an einer ganzen Serie für den National Trust. Sie wollen sie als Karten vertreiben. Sie wissen schon, ähnlich wie bei UNICEF. Und ich bin sehr unter Termindruck.« Julia rieb sich das Gesicht und hinterließ einen verwischten Farbfleck auf ihrer Stirn. Gemma sah plötzlich die Müdigkeit in dem schmalen Gesicht unter dem dunklen, schick geschnittenen Haar.
Sie strich mit einem Finger leicht über den unregelmäßigen Rand des Aquarellpapiers. »Ich dachte eigentlich, die Gemälde unten wären von Ihnen, aber dieses hier ist ganz anders.«
»Als die Flints? Das will ich doch hoffen.« Julias Antwort war brüsk. Sie nahm sich eine Zigarette aus der Packung, die auf einem Tisch an der Seite lag, und riß mit heftiger Bewegung ein Streichholz an.
»Mich haben sie auch neugierig gemacht«, sagte Kincaid. »Irgend etwas an ihnen kam mir bekannt vor.«
»Sie haben wahrscheinlich Zeichnungen von ihm in den Büchern gesehen, die Sie als Kind gelesen haben. William Flint war nicht so bekannt wie Arthur Rackham, aber er hat zum Teil herrliche Illustrationen gemacht.« Julia lehnte sich wieder an den Arbeitstisch und kniff die Augen gegen den Rauch zusammen, der von ihrer Zigarette aufstieg. »Dann kamen die Busenlandschaften.«
»Busenlandschaften?« wiederholte Kincaid amüsiert.
»Technisch sind die brillant, wenn man nichts gegen das Banale hat, und sie haben auf jeden Fall seinen Lebensabend gesichert.«
»Und das mißbilligen Sie?« In Kincaids Stimme lag ein Anflug von Spott.
Julia berührte flüchtig ihr eigenes Aquarell, als prüfte sie seinen Wert, dann zuckte sie die Achseln. »Ja, es ist wahrscheinlich ziemlich heuchlerisch von mir. Diese Sachen hier bringen mir das Geld ein, das ich zum Leben brauche, und sie haben Connor erlaubt, in dem Stil zu leben, an den er sich gewöhnt hatte.«
Zu Gemmas Überraschung schnappte Kincaid nicht nach dem dargebotenen Köder, sondern fragte statt dessen: »Wenn Sie Flints Aquarelle nicht mögen, wieso hängen sie dann fast in jedem Zimmer dieses Hauses?«
»Sie gehören nicht mir. Vor ein paar Jahren packte meine Eltern plötzlich die Sammelleidenschaft. Flints waren der große Renner, und sie haben sich mitreißen lassen. Vielleicht dachten sie, es würde mich freuen.« Julia lächelte trübe. »In ihren Augen sieht ein Aquarell so ziemlich wie das andere aus.«
Kincaid erwiderte das Lächeln, und sie tauschten einen Blick des Verständnisses wie über einen Scherz, der nur ihnen bekannt war. Julia lachte, und Gemma fühlte sich plötzlich ausgeschlossen.
»Was war denn das für ein Lebensstil, an den sich Ihr Mann gewöhnt hatte, Mrs. Swann?« fragte sie etwas zu schnell und hörte einen unbeabsichtigten Ton der Anklage in ihrer Stimme.
Julia setzte sich halb auf ihren Arbeitshocker und wippte mit dem Fuß, während sie ihre halb gerauchte Zigarette in einem Aschenbecher ausdrückte. »Aufwendig, könnte man sagen. Ich hatte manchmal den Eindruck, Con hielte es für seine Pflicht, einem Image zu entsprechen, das er geschaffen hatte - Alkohol, Frauen und Pferde, alles, was man eben so vom Stereotyp des irischen Draufgängers erwartet. Manchmal war ich gar nicht sicher, ob es ihm so viel Spaß machte, wie er gern vorgab.«
»Gab es da besondere Frauen?« fragte Kincaid so leichthin, als erkundigte er sich nach dem Wetter.
Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu. »Es gab immer eine Frau, Mr. Kincaid. Die Besonderheiten haben mich nicht interessiert.«
Kincaid lächelte nur, als lehnte er es ab, sich von ihrem Zynismus schockieren zu lassen. »Ihr Mann blieb weiter in der Wohnung in Henley, in der Sie gemeinsam gelebt hatten?«
Julia nickte. Sie glitt vom Hocker, um aus der zerdrückten Packung eine weitere Zigarette herauszubohren. Sie zündete sie an, lehnte sich, groß und gertenschlank in schwarzem Rolli und schwarzen Leggings, an den Arbeitstisch und verschränkte die Arme.
»Sie waren am Donnerstag abend in Henley, soviel ich weiß«, fuhr Kincaid fort. »Bei einer Vernissage.«
»Sehr schlau von Ihnen, Mr. Kincaid.« Julia lächelte flüchtig, »Trevor Simons, Thameside.«
»Aber Ihren Mann haben Sie nicht gesehen?«
»Nein. Wir verkehren in unterschiedlichen Kreisen, wie Sie sich vielleicht denken können«, erwiderte Julia, ihren Sarkasmus kaum verbergend.
Gemma sah Kincaid an. Sie erwartete eine herausfordernde Antwort von ihm, doch er sagte nur träge: »Ja, vielleicht.«
Julia drückte die Zigarette aus, an der sie nur ein paarmal gezogen hatte, und Gemma sah, wie ihr Gesicht und ihre Schultern sich entspannten. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich muß wirklich wieder an die Arbeit.« Sie schloß diesmal Gemma in das Lächeln mit ein, das dem ihres Vaters so ähnlich war, nur etwas mehr Schärfe hatte. »Vielleicht könnten Sie -«
»Julia!«
Es war eine altbewährte Vernehmungstaktik, den Zeugen oder Verdächtigen plötzlich und mit gebieterischem Nachdruck mit seinem Namen anzusprechen; sie diente einem Einreißen von Barrieren, einem Einbruch in persönliche Sphären. Dennoch war Gemma verblüfft über den vertraulichen Ton von Kincaids Stimme. Es klang, als kenne er diese Frau bis ins Innerste und könnte all ihre Täuschungen mit einem Fingerschnippen hinwegfegen.
Julia erstarrte mitten im Satz, ihren Blick unbeweglich auf Kincaid gerichtet. Sie hätten allein im Zimmer sein können.
»Sie waren nur wenige hundert Meter von der Wohnung Ihres Mannes entfernt. Vielleicht sind Sie hinausgegangen, um frische Luft zu schnappen, sind ihm zufällig begegnet und verabredeten, sich später mit ihm zu treffen.«
Eine Sekunde verstrich, und noch eine, dann richtete sich Julia auf. Sie sagte langsam: »So könnte es gewesen sein, ja. Aber es war nicht so. Es war nämlich meine Ausstellung - meine große Stunde -, und ich habe die Galerie überhaupt nicht verlassen.«
»Und hinterher?«
»Oh, da wird Trev für mich bürgen können, denke ich. Ich habe mit ihm geschlafen.«