* 10

 

Die Presseleute hatten ihre Zelte abgebrochen, der Constable war von seinem Posten am Gartentor abgezogen worden, die schmale Straße schien in der Morgensonne friedlich vor sich hinzuträumen. Als sie in den Garten traten, brummelte Kin-caid ein paar Worte, von denen Gemma nur etwas wie »dieses Eden ...« verstand.

  »Wie?« sagte sie, sich nach ihm umwendend, als er noch dabei war, das Tor zu schließen.

  »Ach, nichts.« Er holte sie ein, und sie gingen nebeneinander den Weg hinauf. »Nur ein altes Sprüchlein, das mir eben eingefallen ist.« Als sie um die Ecke bogen, sprang Lewis in seinem Zwinger auf, doch sein tiefes warnendes Bellen wurde zu freudig aufgeregtem, hellem Kläffen, als Kincaid ihn ansprach.

  »Sie haben eine Eroberung gemacht«, bemerkte Gemma, als er zum Drahtzaun ging und durch das Gitter griff, um den Hund hinter den Ohren zu kraulen.

  Er drehte den Kopf und sah sie an. »Eine wenigstens.«

  Gemma errötete, und während sie noch über eine schlagfertige Antwort nachdachte, flog die Küchentür auf, und Lucy rief nach ihnen. In einem zu großen roten Pullover, mit heruntergerutschten Kniestrümpfen und einem Schottenrock, der kaum lang genug war, um diesen Namen zu verdienen, trat sie auf die Stufe vor der Tür.

  »Meine Mutter ist nicht da. Sie wollte vor dem Kirchgang noch zu Gwen«, sagte sie, als sie zu ihr kamen, und bei näherem Hinsehen bemerkte Gemma die Gänsehaut auf ihren nackten Beinen.

  »Gwen?« fragte Kincaid.

  »Alastairs Mutter, Sie wissen schon. Mutter besucht sie jeden Sonntag morgen. Sie wollte daran nichts ändern. Möchten Sie reinkommen?« Lucy öffnete die Tür, um sie einzulassen.

  In der Küche setzte sie sich an den Tisch vor eine Schale Cornflakes, machte aber keine Anstalten weiterzuessen. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte sie ein wenig unbeholfen und faltete die Hände auf dem Schoß. »Ich wollte Ihnen für gestern danken. Ich meine, daß Sie Geoff freigelassen haben.«

  »Dafür sollten Sie Geoffs Freunden danken. Er scheint viele zu haben.« Kincaid zog einen Stuhl heraus und setzte sich. Gemma tat es ihm nach, aber es mutete sie immer noch seltsam an, so ganz alltäglich in diesem Raum zu sitzen.

  »Ich glaube, das hat er bis gestern abend gar nicht gewußt. Er denkt immer, er ist es gar nicht wert, daß man ihn mag.«

  Gemma, die das Mienenspiel des jungen Mädchens beobachtete, fragte sich, ob Geoff glaubte, Lucys Liebe zu verdienen - sie hatte nämlich plötzlich keinen Zweifel daran, daß Lucy ihn in der Tat liebte, mit der ganzen Leidenschaft ihres siebzehnjährigen Herzens.

  »Lucy«, sagte Kincaid, »können Sie uns vielleicht weiterhelfen, da Ihre Mutter nicht hier ist?«

  »Gern.« Sie sah ihn erwartungsvoll an.

  Gemma war gespannt, wie Kincaid es anpacken würde. Ein Blick in Gilberts Terminkalender, der auf der Dienststelle lag, hatte Kincaids Erinnerung bestätigt. Als er sich mit demonstrativer Langmut erkundigt hatte, warum er von der Verbindung nicht informiert worden war, hatte der zuständige Beamte erklärt, sie hätten geglaubt, der Commander hätte nur seine Frau angerufen.

  »Glauben heißt nicht wissen, Sportsfreund«, hatte Kincaid scharf erwidert. »Merken Sie sich das.«

  »Arbeitet Ihre Mutter gewöhnlich über ihre normale Arbeitszeit hinaus, Lucy?« fragte er jetzt.

  Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie versucht immer, hier zu sein, wenn ich aus der Schule komme. Sie verspätet sich höchstens mal um ein paar Minuten.«

  »Wie war es an dem Abend vor Alastairs Todestag? War da irgend was anders als sonst?«

  »Das war der Dienstag.« Lucy überlegte einen Moment. »Wir waren beide um fünf zu Hause. Und später hat Mutter sich mit mir zusammen einen alten Film angeschaut.« Sie zuckte die Achseln. »Es war alles wie immer.«

  »Hat Alastair Ihre Mutter manchmal im Laden angerufen?«

  Einen Moment sah sie ihn verblüfft an. »Nein, das glaube ich nicht. Manchmal hat er seine Sekretärin hier anrufen lassen, um Bescheid zu geben, daß er später kommen würde. Aber oft hat er sich auch gar nicht gemeldet und ist einfach später gekommen. Alastair hat sich wegen anderer nie Umstände gemacht«, fügte sie hinzu. »Nicht mal als sich Mutter im letzten Jahr das Handgelenk gebrochen hat, ist er vom Büro nach Hause gekommen. Geoff und ich haben sie vom Krankenhaus abgeholt. Ich hatte da noch nicht mal meinen Führerschein, sondern durfte nur in Begleitung einer Person mit Fahrerlaubnis fahren.«

  »Wie ist das denn passiert?« fragte Gemma.

  »Ach, sie ist auf der alten Straße durch den Hurtwood gefahren und in einem Monsterschlagloch gelandet, sagt sie. Da hat es das Lenkrad so verrissen, daß es ihr das Handgelenk gebrochen hat.«

  »Oh, das muß schmerzhaft gewesen sein.« Gemma schnitt eine Grimasse.

  »Und es war auch noch ihre rechte Hand«, fügte Lucy mit einem Lachen hinzu. »Ich mußte wochenlang alles für sie tun, und das hat ihr gar nicht gepaßt. Und Nägel kauen konnte sie auch nicht mehr.«

  Kincaid sah auf seine Uhr. »Es hat keinen Sinn, länger auf sie zu warten. Kann ich von Alastairs Arbeitszimmer aus mal kurz telefonieren, Lucy?«

  Als er gegangen war, lächelte Lucy Gemma schüchtern zu. »Er ist sehr nett, nicht? Sie haben echt Glück, daß Sie mit ihm Zusammenarbeiten können.«

  Verdutzt suchte Gemma nach einer Erwiderung. Vor einer Woche noch hätte sie ohne weiteres zugestimmt, vielleicht sogar mit einer Spur Selbstzufriedenheit. Ein heftiges Gefühl des Verlusts überkam sie plötzlich, aber sie brachte dennoch ein Lächeln zustande. »Ja, das stimmt. Da haben Sie recht«, sagte sie, bemüht, Überzeugung zu zeigen, und ignorierte Lucys verwunderten Blick.

  »Also?« sagte Gemma, als sie wieder draußen auf der Straße waren. »Ich denke, wir können ziemlich sicher sein, daß Gilbert Malcolm Reid angerufen hat.«

  »Ich hätte da viel früher drauf kommen müssen«, brummte Kincaid irritiert.

  Gemma zuckte die Achseln. »Solche Vorwürfe sind doch sinnlos. Das ist ungefähr so, als sagte man, man hätte sich an etwas erinnern müssen, das man vergessen hatte. Was haben Sie jetzt vor?«

  »Ich habe Reids Privatadresse, aber zuerst möchte ich mal mit Brian sprechen.«

  Sie ließen den Wagen stehen und gingen zu Fuß zum Pub. Aber es war geschlossen. Kincaids Klopfen brachte keine Reaktion. »Der frühe Sonntagmorgen ist wahrscheinlich nicht der beste Zeitpunkt, einen Gasthauswirt zu besuchen. Und ich erinnere mich, daß Brian sagte, er sei ein Morgenmuffel.« Sich abwendend fügte er hinzu: »Wir müssen es eben später noch einmal versuchen. Jetzt fahren wir erst mal zu Reid und seiner Frau.«

 

»Ich glaube, das war’s.« Gemma blickte zurück zu der Lücke in der Hecke, an der sie eben vorbeigeschossen waren. »Hazel Patch Farm. Ich habe ein kleines Schild am Torpfosten gesehen.«

  »Ach, Mist!« schimpfte Kincaid. »Hier gibt’s nirgends eine Stelle zum Drehen.« Er schaltete einen Gang herunter und kroch um die Haarnadelkurven, während er nach einem abzweigenden Feldweg oder einer Einfahrt Ausschau hielt. Sie waren in den baumgekrönten Hügeln zwischen Holmbury und Shere, und Gemma hielt es für eine Leistung, daß sie nach den dürftigen Anweisungen des Tankwarts in Holmbury St. Mary überhaupt hierher gefunden hatten.

  Sie gelangten zu einer Überholbucht, und mit einigen vorsichtigen Manövern wendete Kincaid den Wagen. Wenig später fuhren sie durch das Tor des Hofs und hielten auf einem gekiesten Platz direkt hinter der Hecke.

  »Ein bewirtschafteter Hof ist das nicht«, bemerkte er, nachdem sie ausgestiegen waren und sich umschauten. Das Haus stand ein Stück zurück unter einer Gruppe von Bäumen, und das, was unter der grünen Berankung zu sehen war, wirkte eher bescheiden.

  Malcolm Reid kam in ausgefransten Jeans und einem alten Sweat-Shirt an die Tür, weit weniger elegant als im Laden, aber vielleicht, dachte Gemma, noch attraktiver. Wenn er überrascht war, seinen geruhsamen Sonntagmorgen von zwei ungebetenen Gästen von der Polizei gestört zu sehen, so ließ er es nicht merken, und die beiden schlanken Springerspaniel, die ihn begleiteten, empfingen sie gleichermaßen freundlich.

  »Kommen Sie mit nach hinten«, sagte er einladend und führte sie durch einen dämmrigen Flur.

  »Val«, sagte er, vor ihnen ins Zimmer tretend, »es sind Superintendent Kincaid und Sergeant James.«

  Was er sonst noch zur Erklärung sagte, hörte Gemma gar nicht, so hingerissen war sie von dem Raum, der sich vor ihr öffnete: eine mit Terrakottafliesen ausgelegte Küche, weit weniger kühl und steril, als sie nach den blitzenden High-Tech-Ein-richtungen, wie sie sie vom Laden her kannte, vermutet hätte. Puderblaue Schränke, ein sonnengelber Herd, Kupfergeschirr, das an Haken von der Decke hing, eine verglaste Sonnenveranda, deren Fenster den steilen Hügelhang hinunter auf die Downs blickten, die sanft gewellt in der Ferne verschwammen.

  Kincaid versetzte ihr einen sanften Puff, und sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Frau, die von einem sehr bequem aussehenden, mit Zeitungen übersäten Sofa aufstand.

  »Sie haben uns bei unserem Sonntagslaster ertappt«, sagte sie lachend, als sie mit ausgestreckter Hand auf sie zuging. »Wir lesen alles - hohes, niedriges und unerträglich mittelmäßiges Niveau. Ich bin Valerie Reid.«

  Selbst barfuß, in Leggins und einem Hemd, das ein abgelegtes Rugby-Trikot ihres Mannes zu sein schien, strahlte die Frau Sex-Appeal aus. Mit dem dunklen Haar, den dunklen Augen, der olivbraunen Haut und blitzend weißen Zähnen wirkte sie so südländisch wie ihre Küche, aber ihre Sprache hatte einen leichten schottischen Akzent. »Gefällt sie Ihnen?« fragte sie Gemma, mit einer Handbewegung die Küche umfassend. »Kochen Sie ...«

  »Darling«, unterbrach ihr Mann sie, »Superintendent Kincaid und Sergeant James sind nicht hergekommen, um Küchengespräche zu führen, auch wenn du dir das kaum vorstellen kannst.« Er drückte liebevoll ihre Schulter.

  »Aber auf jeden Fall redet sich’s besser bei Essen und Trinken. Im Rohr sind noch Vollkornscones, und ich mach’ uns einen Cappuccino.«

  Kincaid protestierte. »Nein, das ist wirklich ...«

  »Setzen Sie sich«,befahl Valerie, und Kincaid ließ sich gehorsam auf einem freien Plätzchen auf dem Sofa nieder. Gemma blieb in der Küche stehen und schnupperte genießerisch, als Valerie das Backrohr des Herds öffnete.

  »Sie wundern sich, daß ich nicht kugelrund bin, wie?« sagte Malcolm, als er sich zu Kincaid setzte. Er wies auf die Hunde, die sich in einem Fleckchen Sonne auf dem Fliesenboden ausgestreckt hatten. »Wenn ich nicht mit den beiden täglich zweimal durch die gottverdammten Hügel hetzen würde, würde ich wahrscheinlich längst nicht mehr durch die Tür passen, geschweige denn in meine Kleider. Val kocht einfach unwiderstehlich.«

  Das Zischen der Espressomaschine füllte den Raum, und als Valerie die Tassen gefüllt hatte, half ihr Gemma, den Kaffee und die Scones zur Sonnenveranda zu tragen. Nachdem Gemma sich in einen Sessel gesetzt hatte, probierte sie, von Valerie erwartungsvoll beobachtet, ihr Scone.

  »Köstlich«, sagte sie aufrichtig. »Viel besser als alles, was man in einer Bäckerei bekommt.«

  »Man braucht genau zehn Minuten, um die Dinger zusammenzurühren, und trotzdem kaufen die Leute Backmischungen im Supermarkt.« Mit einem verächtlichen Naserümpfen schüttelte Valerie den Kopf. »Manchmal hab ich wirklich den Eindruck, die Engländer sind hoffnungslos.«

  »Aber Sie sind doch auch Engländerin, Mrs. Reid, oder nicht?« fragte Gemma.

  »Bitte nennen Sie mich Valerie.« Sie nahm sich ebenfalls ein Scone. »Meine Eltern sind eingebürgerte Italiener. Sie haben sich in Schottland niedergelassen und das britischste aller Cafes eröffnet, ungefähr nach dem Prinzip, was ihr könnt, können wir schon lange. Nach diesem Grundsatz haben sie auch die Namen ihrer Kinder ausgesucht.« Sie tippte sich auf die Brust. »Man sollte meinen, daß Valerie schon schlimm genug war, aber meinen Bruder haben sie Ian getauft. Können Sie sich was vorstellen, was weniger italienisch ist als Ian? Und sie haben gelernt, alles in ranzigem Fett zu braten, ganz nach bester britischer Manier.

  Aber ich habe ihnen verziehen, weil ich jeden Sommer zu meiner Großmutter nach Italien fahren durfte, und da habe ich kochen gelernt.«

  »Val.« Malcolms Stimme klang erheitert. »Gib doch dem Superintendent auch mal eine Chance, hm?«

  »Oh, Entschuldigung«, sagte Valerie, aber es klang nicht im geringsten reuig. »Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an.« Mit der Cappuccinotasse in der Hand und dem Teller mit dem Scone auf den Knien lehnte sie sich in ihrem Nest von Zeitungen auf dem Sofa zurück.

  Kincaid lächelte und trank einen Schluck Cappuccino, ehe er sagte: »Mr. Reid, soweit ich mich erinnere, sagten Sie, Sie hätten mit Alastair Gilbert vor seinem Tod keinen Kontakt gehabt.« Ehe Reid etwas antworten konnte, fuhr Kincaid fort: »Aber mir scheint, Sie haben uns da in die Irre geführt. Sie hatten am Abend vor seinem Tod einen Termin mit Gilbert, den er telefonisch bestätigt hat. Würden Sie mir sagen, was Gilbert mit Ihnen zu besprechen hatte, Mr. Reid?«

  Ein geschickter Bluff, dachte Gemma, aber würde er funktionieren?

  Malcolm Reid sah seine Frau offen an, dann rieb er mit beiden Händen über die Knie seiner Jeans. »Val hat gleich gesagt, es wäre Quatsch, aber ich wollte Claire nicht noch zusätzliche Komplikationen bereiten. Sie hatte genug durchzumachen.«

  Als Reid nicht weitersprach, sagte Kincaid: »Das Interpretieren sollten Sie lieber uns überlassen, Mr. Reid. Wir werden uns alle Mühe geben, Claire Gilbert zu schonen, aber sie kann ein normales Leben erst wiederaufnehmen, wenn wir diesen Fall geklärt haben. Das ist Ihnen doch sicher auch klar?«

  Reid nickte, sah wieder seine Frau an, setzte zum Sprechen an, hielt inne und bekannte schließlich: »Mir ist das alles sehr peinlich und unangenehm.«

  »Mein Mann versucht Ihnen zu erklären«, bemerkte Valerie sachlich, »daß Alastair sich plötzlich eingebildet hat, mein Mann wäre in eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit Claire verstrickt.«

  Reid warf ihr einen dankbaren Blick zu, als er zustimmend nickte. »Genauso war es. Ich weiß nicht, wie er auf diese absurde Idee gekommen ist, aber er hat sich höchst merkwürdig benommen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit ihm umgehen sollte.«

  »Merkwürdig inwiefern?« fragte Gemma, die, mit ihrem Scone fertig, ihr Heft aus den Tiefen ihrer Tasche gegraben hatte. »War er gewalttätig?«

  »Nein - aber sein Verhalten war völlig irrational. Mal brüllte er los, verlangte Beweise und drohte mir, und mal machte er Scherze, lachte und war - ich weiß auch nicht, irgendwie kriecherisch.« Reid schauderte ein wenig. »Es war richtig ekelhaft. Und dauernd redete er von seinen >Quellen<.«

  »Hat er Beispiele gegeben oder Namen erwähnt?« Kincaid beugte sich gespannt vor.

  Mit einem Kopfschütteln antwortete Reid: »Nein, aber er zeigte eine fast - hämische Freude. Als lachte er sich ins Fäustchen über seine Geheimnisse. Und er sagte mehrmals, wenn ich ihm nur die Wahrheit sagen würde, würde er nichts gegen mich unternehmen.«

  Kincaid zog eine Augenbraue hoch. »Sehr großmütig von ihm. Und was haben Sie getan?«

  »Ich habe ihm erklärt, es gäbe nichts zu sagen; er solle seinen Hut nehmen und wieder gehen. Darauf hat er den Kopf geschüttelt, als wäre er enttäuscht über mich. Stellen Sie sich das mal vor.« Reids Stimme schwoll ungläubig an.

  »Und dann ist er abgezogen?«

  »Nein.« Reid rieb wieder mit den Händen über seine Jeans und lächelte ein wenig schief. »Es klingt so melodramatisch - ich komme mir schon bei der Wiederholung wie ein Idiot vor. >Malcolm, mein Junge, ich verspreche Ihnen, das werden Sie noch bedauern<, sagte er, als er an der Tür stand. Wie in einem schlechten Film.« Einer der Spaniels spitzte die Ohren, als er den veränderten Ton von Malcolm Reids Stimme hörte, und warf ihm verschlafen einen verwunderten Blick zu. Beruhigt streckte er sich dann mit einem Seufzer wieder aus.

  »Was haben Sie daraufhin getan?« fragte Gemma. »Ihnen war danach doch sicher ein bißchen komisch.«

  »Zuerst habe ich darüber gelacht. Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto unbehaglicher ist mir geworden. Ich versuchte, Claire anzurufen, aber es meldete sich niemand, und später hab ich’s nicht mehr versucht, weil ich fürchtete, Alastair würde zu Hause sein, und ich ihn nicht noch argwöhnischer machen wollte.«

  »Aber Sie haben am folgenden Tag mit ihr darüber gesprochen«, meinte Kincaid.

  »Dazu bin ich nie gekommen. Am Vormittag war sie bei einem Kunden zur Beratung. Wir sind uns nur mittags kurz im Laden begegnet, aber da waren Kunden da. Und als ich später von meinem Nachmittagstermin zurückkam, war Claire schon nach Hause gegangen.«

  »Und seitdem?«

  Reid zuckte die Achseln. »Ich hielt es für sinnlos, sie damit zu belasten. Was soll das jetzt noch für eine Bedeutung haben?«

  Der Blick, den Kincaid Gemma zuwarf, verriet seine Skepsis, aber er sagte nur: »Und am Mittwoch abend hatte Ihre Frau, sagten Sie, einen Kochkurs?«

  Valerie mischte sich ein, ehe Reid antworten konnte. »Nein, Superintendent. Die Kurse waren beendet. Sie fangen erst nächste Woche wieder an. Am Mittwoch abend war Malcolm mit mir zusammen zu Hause. Ich hatte Vermicelli abruzzesi gekocht.«

  »Erinnern Sie sich stets, was Sie an einem bestimmten Abend gekocht haben, Mrs. Reid?« fragte Kincaid.

  »Aber sicher«, antwortete sie lächelnd. »Und das war ein neues Rezept, das ich schon lange ausprobieren wollte. Ich habe nur nie die Zucchiniblüten bekommen.«

  »Die Zucchiniblüten?« Kincaid schüttelte den Kopf. »Schon gut. Gibt es jemanden, der das bestätigen kann?«

  »Höchstens die Hunde«, sagte Malcolm mit einem schwachen Versuch zu scherzen.

  »Tja, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.« Kincaid stellte seine leere Tasse nieder, stand auf und nickte den beiden zu. »Und für Ihre Gastfreundschaft. Wir werden uns melden, falls wir noch Fragen haben sollten.«

  Valerie Reid stand schnell auf. »Wenn Sie so bald schon wieder gehen müssen, bringe ich Sie hinaus. - Nein, Darling«, fügte sie hinzu, als auch Reid aufstehen wollte. »Das schaffe ich auch allein.«

  Sie trat mit ihnen vor das Haus und zog die Tür hinter sich zu. »Superintendent«, sagte sie mit gesenkter Stimme, »Malcolm - mein Mann hat manchmal eine Neigung, den edlen Ritter zu spielen. Ich bewundere das an ihm, aber manchmal geht er mir in seinem Edelmut zu weit.« Sie biß sich auf die Lippe. »Was ich sagen will, ist folgendes - wenn Sie sich für Claire Gilberts Liebhaber interessieren, sollten Sie sich in ihrer näheren Umgebung umsehen.«

  Damit schlüpfte sie wieder ins Haus und schloß energisch die Tür hinter sich.

  »Und was halten Sie davon?« fragte Kincaid, als sie wieder im Auto saßen und zur Straße hinaus fuhren. »Eine kleine Verschwörung? Ehefrau deckt ihren Mann, obwohl er fremdgeht?«

  Gemma schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht bin ich naiv, aber ich kann mir Reid nicht als treulosen Schürzenjäger vorstellen. Die beiden leben gut zusammen, und die Zuneigung zwischen ihnen wirkt echt.«

  »Gilberts Beschuldigungen waren ihm peinlich, aber er war überhaupt nicht nervös. Ist Ihnen das aufgefallen?«

  »Was ist mit dem Liebhaber, von dem Valerie gesprochen hat?« fragte Gemma. »Glauben Sie, daß sie das nur gesagt hat, um uns von ihrem Mann abzulenken? Wer könnte es sein?«

  »Percy Bainbridge?« meinte Kincaid. »Nein, ich würde denken, der zieht kleine Jungen vor.«

  Gemma spielte mit. »Die Pfarrerin?«

  »Hm, das ist ein Gedanke. Sie ist eine hübsche Person.« Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu und zog eine Braue hoch.

  Gemma, die nicht wußte, wie die Pfarrerin aussah, verspürte einen Anflug von Eifersucht. »Wie wär’s mit Geoff?« fragte sie. »Vielleicht hat sie ein Faible für junges Blut. Oder vielleicht ist es . . .«

  »Brian?« riefen sie wie aus einem Mund in ungläubigem Ton. Kincaid sah sie an, und sie lachten beide.

  »Tolle Kombinationsgabe«, sagte er und schaltete vor der nächsten Kurve herunter.

  »Aber darauf wäre ich nie gekommen. Brian scheint mir überhaupt nicht Claires Typ zu sein. Da würde Reid viel besser zu ihr passen.«

  »Man darf die Wirkung täglicher Nähe nicht unterschätzen«, sagte Kincaid ruhig. »Und auch nicht die unberechenbare Natur des menschlichen Herzens. Was ...« Sein Handy dudelte, und er hielt inne, während er es aus der Tasche zog. »Kincaid.«

  Nachdem er einen Moment schweigend gelauscht hatte, sagte er: »Gut. In Ordnung. Ich gebe es weiter.« Er schaltete den Apparat aus. Mit einem bedauernden Blick zu Gemma sagte er: »Ich werde wohl ohne Sie mit Brian Genovase reden müssen. Jackie Temple hat versucht, Sie zu erreichen - sie sagt, sie muß Sie dringend sehen.«

 

Gemma betrachtete Wills große, kantige Hände, die leicht auf dem Lenkrad lagen, und dachte darüber nach, ob andere ihn ebenso angenehm und beruhigend fanden wie sie. Er war auf einen Anruf bei der Dienststelle Guildford ins Dorf gekommen, um sie zum nächsten Londoner Schnellzug nach Dorking zu fahren. Er hatte keinen Versuch gemacht, sie aus ihrer Nachdenklichkeit zu reißen, doch sein Schweigen hatte nichts Gekränktes.

  Sie sah wieder zum Fenster hinaus, als der Wagen eine langgezogene Kurve umrundete. Hohe Bäume mit silbrig glänzenden Stämmen drängten auf beiden Seiten zur Straße, und die fallenden Blätter schwirrten durch die Luft wie Schwärme goldener Bienen. Die Schönheit berührte sie tief - scharfund süß -, und einen Moment lang fühlte sie sich weit offen und durchsichtig.

  Sie hatte wohl unwillkürlich einen Laut von sich gegeben; denn Will warf ihr einen raschen Blick zu und sagte: »Alles in Ordnung, Gemma?«

  »Ja. Nein. Ich weiß nicht.« Sie holte Atem und sagte das erste, was ihr in den Sinn kam. »Will, glauben Sie, daß wir je einen anderen wirklich kennen? Oder sind wir so geblendet von unseren eigenen Wahrnehmungen, daß wir nicht an ihnen vorbeisehen können? Ich habe versucht, mir Brian als liebenden Vater vorzustellen, der fähig wäre, alles zu tun, um seinen Sohn zu schützen. Aber das war nur eine Dimension, und durch sie wurde ich verhindert zu erkennen, daß er vielleicht Claires Liebhaber ist, ein Mann, der Alastair Gilbert aus Gründen getötet haben könnte, die mit seinem Sohn nicht das geringste zu tun haben. Und ich habe Claire nicht - ach was, schon gut.«

  Will lachte leise. »Sie haben Claire nicht als eine Frau von Fleisch und Blut gesehen, die so starke Wünsche und Sehnsüchte hat, daß sie mindestens die gesellschaftliche Achtung riskieren würde, um sie zu befriedigen.«

  »Sie scheint aber auch nichts zu überraschen«, stellte Gemma fest.

  »Nein, ich glaube nicht. Aber ich bin auch kein Zyniker. Dieser Beruf lehrt uns, einem Menschen zu vertrauen. Aber was bleibt denn sonst? Ich bin immer noch bereit, im Zweifelsfall an das Gute zu glauben.«

  »Das ist eine Gratwanderung«, sagte sie bedächtig. War sie selbst fähig, sie zu schaffen? Unter gesenkten Lidern hervor betrachtete sie Will verstohlen und fragte sich, ob sie sich wieder einmal von ihren vordergründigen Wahrnehmungen hatte täuschen lassen; verbarg sich vielleicht hinter seinem gelassenen Äußeren etwas ganz anderes?

  Sein Blick traf sie überraschend, und sie spürte, wie sie errötete. »Im Grund geht es doch gar nicht um Brian, nicht wahr, Gemma?« fragte er. Und ehe sie Einwände erheben konnte, fügte er hinzu: »Sie brauchen mir keine Antwort zu geben. Ich wollte Ihnen nur sagen, wenn Sie mal jemanden zum Reden brauchen, ich bin immer für Sie da.«

  Um halb zwei fuhr Gemma, von einem belegten Brot gestärkt, das sie sich im Zug gekauft hatte, die Rolltreppe am U-Bahnhof Holland Park hinauf. Ein flotter Marsch brachte sie zu Jackies Haus, und dort blieb sie einen Moment stehen, um zu verschnaufen und das glühende Rot des wilden Weins zu bewundern, der sich auf dem braunen Backstein in die Höhe zog.

  Jackie öffnete ihr freudestrahlend. »Gemma! Als ich dich zu Hause nicht erreichen konnte, hab’ ich’s im Yard versucht, aber ich hab’ wirklich nicht erwartet, daß du plötzlich vor meiner Tür stehen würdest. Komm rein.« Sie trug einen bunten Morgenrock, und ihre krausen Locken waren noch feucht von dem Bad.

  »Sie haben mir gesagt, es sei dringend«, erklärte Gemma, als sie Jackie in den ersten Stock hinauf folgte.

  »Naja, ich hab’ schon ein bißchen dick aufgetragen«, sagte Jackie etwas verlegen. »Aber ich dachte, sonst würden sie mich nicht ernst nehmen. Komm, setz dich. Ich hol’ dir was zu trinken.«

  Als Jackie mit zwei Gläsern Limonade aus der Küche zurückkam, fragte Gemma: »Worum geht’s denn, Jackie? Und wieso arbeitest du nicht?«

  Jackie kuschelte sich ins Sofa. Der bunte Morgenrock bauschte sich um sie wie die Gewänder einer exotischen Prinzessin. »Ich fang’jetzt um drei an. Sie haben mir eine andere Schicht gegeben. Viel Zeit hab’ ich nicht mehr, dann muß ich los.

  Weißt du, man hat mir gesagt, du seist nicht in London - ich hab’ dich doch hoffentlich nicht aus Surrey hierher gelotst?«

  Gemma sah ihre Freundin verwundert an. »Jackie, wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, du weichst aus. Doch, ich bin extra aus Surrey gekommen. Also los jetzt, raus mit der Sprache.«

  Jackie trank von ihrer Limonade und prustete, als ihr die Bläschen in die Nase stiegen. »Ich komm’ mir ehrlich gesagt ein bißchen blöd vor. Ich mach’ da wahrscheinlich aus einer Mücke einen Elefanten. Du weißt doch, ich hab’ gesagt, ich würde mal mit Sergeant Talley reden?«

  Gemma nickte.

  »Also, ich kann dir sagen, der ist richtig sauer geworden. Ich sollte mich gefälligst um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, sagte er und hat mich abblitzen lassen. Das hat mich ziemlich geärgert und daraufhin hab’ ich mir heute morgen einen Streifenkollegen geschnappt, der schon genauso lange in Notting Hill ist wie Talley. Ich hab’ihn zum Frühstück im Café neben der Dienststelle eingeladen, als er heute morgen aus dem Dienst kam.« Jackie legte eine Pause ein und griff wieder nach ihrem Glas.

  »Und?« fragte Gemma, neugierig geworden.

  »Er hat gesagt, soweit er weiß, hätten die Spannungen zwischen Gilbert und Ogilvie nichts mit einer Frau zu tun gehabt. Angeblich soll Gilbert Ogilvies Beförderung verhindert haben. Er soll vor dem Ausschuß gesagt haben, seiner Meinung nach wäre Ogilvie zu eigenbrötlerisch und als Führungspersönlichkeit nicht geeignet. Die beiden waren Partner gewesen, und unter den Leuten war allgemein bekannt, daß Gilbert inkompetent war und Ogilvie ihn mehr als einmal gedeckt hatte.« Jackie schüttelte angewidert den Kopf. »Kannst du dir das vorstellen? Ogilvie ist irgendwann doch befördert worden, als Gilbert nicht mehr sein Vorgesetzter war, aber ich glaube nicht, daß er Gilbert je verziehen hat.«

  »Hältst du es für möglich, daß er ihn genug gehaßt hat, um ihn nach all den Jahren umzubringen?« Gemma überlegte einen Moment mit gerunzelter Stirn. »Nach allem, was ich über Gilbert gehört habe, würde es mich nicht wundern, wenn er Ogilvies Beförderung aus reiner Bosheit verhindert hat, weil er auf ihn eifersüchtig war. Das alles ist ungefähr um die Zeit passiert, als die beiden Claire kennengelernt haben, stimmt’s?«

  »Ich glaube, ja, aber sicher bin ich nicht. Da müßte ich erst mal in den Unterlagen nachschauen. Gemma . . .«

  »Ich weiß. Du mußt dich anziehen, sonst kommst du zu spät.« Gemma nahm ihr leeres Glas, um es in die Küche zu bringen.

  »Nein, das ist es nicht.« Jackie warf einen Blick auf die Uhr, die auf einem Beistelltisch stand. »Oder jedenfalls nicht allein.«

  Sie brach ab und strich mit beiden Händen über die Falten ihres Morgenrocks. Dann sagte sie zögernd: »Ich habe Verbindungen auf der Straße, Informanten. Du weißt das ja, wenn man lange genug dieselbe Streife geht - sie sammeln sich wie von selbst an. Mich hatte diese Geschichte neugierig gemacht, und da hab’ ich mal vorsichtig meine Fühler ausgestreckt.«

  Als Jackie wieder innehielt, begann Gemma sich unwohl zu fühlen. »Was hast du gehört, Jackie?«

  »Du mußt selbst entscheiden, was du damit anfangen willst, ob du es weitergeben willst.« Sie wartete, bis Gemma zustimmend nickte, ehe sie fortfuhr. »Weißt du noch, ich hab’ dir doch erzählt, ich hätte geglaubt, Gilbert im Gespräch mit einem Spitzel zu sehen? Also, Gilbert saß eigentlich viel zu weit oben, um sich mit Spitzeln abzugeben, drum hab’ ich meinen Informanten gefragt, ob er mal Gilberts Namen in Verbindung mit irgendeiner schmutzigen Sache gehört hätte.«

  »Und?« fragte Gemma ungeduldig.

  »Drogen, hat er gesagt. Er hätte Andeutungen gehört, daß ein hoher Beamter den Dealern Protektion gäbe.«

  »Gilbert?« fragte Gemma ungläubig.

  Jackie schüttelte den Kopf. »David Ogilvie.«

 

Auf dem Yard vorbeizuschauen, war ein Fehler gewesen, dachte Gemma, als sie in der Dunkelheit langsam die Richmond Avenue hinaufging. Ein Papierstapel hatte sie erwartet, und als sie endlich dazu gekommen war, die Akten über Gilbert und Ogilvie zu durchforsten, brannten ihre Augen und ihr Rücken schmerzte vor Müdigkeit. Sie hatte das Abendessen mit Toby versäumt, und jetzt, zu kaputt, um auf dem Heimweg noch einzukaufen, mußte sie sich eben mit dem behelfen, was an mageren Vorräten im Haus war.

  Thornhill Gardens kam in Sicht, ein dunkel gähnender Raum vor der schwarzen Masse der umstehenden Häuser. Als sie den Pfad zum Haus der Cavendishs erreichte, blieb sie stehen. Die Wohnzimmeijalousie war nicht ganz heruntergezogen, und durch die Ritze konnte sie das zuckende bläuliche Licht des Fernsehapparats sehen. Und dazu den warmen gelblichen Schein flackernder Kerzen. Einen Moment lang glaubte sie, leises, intimes Gelächter zu hören. Sie schüttelte sich und ging den Weg hinauf, aber ihr Klopfen war zaghaft.

  »Gemma, Schatz!« rief Hazel, als sie die Tür öffnete. »Wir haben dich heute abend gar nicht erwartet.« Sie sah ein bißchen zerzaust aus, entspannt und leicht erhitzt. »Komm rein«, sagte sie und zog Gemma in den Flur. »Die Kinder waren total erledigt - ich war heute mit ihnen im Hyde Park, da haben sie sich richtig ausgetobt. Ich hab’ sie früh ins Bett gebracht. Tim und ich schauen uns gerade ein Video an.«

  »Ich wollte eigentlich vorher anrufen«, sagte Gemma, als Hazel schon zur Treppe ging. »Warte, Hazel. Ich lauf nur schnell rauf und hole Toby. Geh du wieder zu deinem Video.«

  Hazel drehte sich um. »Es macht dir wirklich nichts aus?«

  »Aber nein.«

  »Na gut.« Auf Strümpfen kam Hazel zurückgelaufen, drückte Gemmas Schulter und gab ihr einen raschen Kuß auf die Wange. »Wir sehen uns morgen.«

  Toby lag rücklings im Bett, Arme und Beine gespreizt, völlig entspannt. Seine Decke hatte er wie immer abgeworfen, das machte es Gemma leichter, die Arme unter seinen kleinen Körper zu schieben und mit einer Hand seinen Kopf zu stützen. Als sie ihn hochhob, rührte er sich kaum, und sein Kopf fiel an ihre Schulter, als sie ihn an sich drückte.

  Ich geh auch gleich zu Bett, dachte sie, als sie Toby durch den Garten trug und das Gewicht des schlafenden kleinen Jungen auf ihre Hüfte verlagerte, um die Wohnungstür aufsperren zu können. Dann würde sie morgen früh aufstehen und noch ein Weilchen mit Toby Zusammensein können, ehe sie nach Holm-bury St. Mary zurückfahren mußte.

  Aber nachdem sie Toby in sein Kinderbett gepackt hatte, ging sie ruhelos in der Wohnung umher und machte Ordnung. Erst als es nichts mehr zu tun gab, öffnete sie den Kühlschrank und fand nach einigem Suchen ein Stück Cheddar, das noch nicht schimmlig war, und im Schrank ein paar übriggebliebene, schon etwas weich gewordene Kräcker.

  Sie aß im Stehen, an die Spüle gelehnt, und schaute dabei in den dunklen Garten hinaus. Als sie fertig war, goß sie sich ein Glas Wein ein und ließ sich in den Ledersessel fallen. Altjungferngewohnheiten, dachte sie mit einem etwas bitteren Lächeln. Bald würde sie Strickjacken und Flanellhosen tragen.

 

Jackie sparte sich die Gegend oben, am Ende der Portobello Road, immer bis zum Schluß ihrer Schicht auf. Aber es war lange her, seit sie das letztemal Abendstreife gegangen war, und sie war die unheimliche Finsternis, die um diese Zeit in den Sackgassen hing, nicht mehr gewöhnt. Die kleinen Trödelläden, bei Tag voller Kunden und Neugieriger, waren jetzt dunkel und vergittert. In den Rinnsteinen raschelten vom Wind getriebene Abfälle.

  Als sie in die letzte kleine Straße einbog, flackerte die Lampe an ihrem Ende einmal hell auf und erlosch. »Scheiße«, sagte Jackie leise, aber sie ging ihre Runde stets bis zum bitteren Ende und war nicht bereit, sich durch ein bißchen Grusel von ihrer Pflicht abhalten zu lassen wie eine Anfängerin. Sie stellte sich vor, was ihr Chef sagen würde, wenn sie ihm gestünde, daß sie abgehauen war, weil die Straße so dunkel und so leer gewesen war, und lachte leise vor sich hin.

  Bald würde sie zu Hause sein. Susan, die mit den Hühnern aufstehen mußte, um rechtzeitig zu ihrer Arbeitsstelle beim BBC zu kommen, würde dann schon selig schlafen, würde ihr aber einen kleinen Imbiß zurechtgestellt haben. Jackie lächelte bei dem Gedanken. Ein schönes heißes Bad, etwas Warmes zu trinken, und dann würde sie sich mit dem Mary Wesley-Roman, den sie sich gekauft hatte, ins Bett kuscheln. Es hatte irgendwie was Befreiendes, mitten in der Nacht wach zu sein, während der Rest der Welt schnarchte.

  Sie blieb stehen und lauschte mit schräg geneigtem Kopf. Sie hatte das Gefühl, daß sich ihr die Haare im Nacken sträubten. Dieses leise Schlurfen hinter ihr - konnten das Schritte gewesen sein?

  Jetzt hörte sie nichts mehr als das leise Seufzen des Windes zwischen den Häusern. »Dumme Gans«, sagte sie laut und ging weiter. Nur noch ein paar Schritte, dann würde sie am Ende der Sackgasse sein und umkehren, um die letzte Etappe zurück zur Dienststelle in Angriff zu nehmen.

  Diesmal waren die Schritte so unverkennbar wie die nackte Angst, die ihr in die Beine fuhr. Mit hämmerndem Herzen wirbelte Jackie herum. Nichts.

  Sie zog ihr Funkgerät vom Gürtel und schaltete es ein. Zu spät. Zuerst roch sie ihn, eine säuerliche Ausdünstung. Dann traf das Metall eiskalt ihren Hinterkopf.