»Wir hätten den Midget nehmen sollen«, sagte Kincaid gereizt, als Gemma den Escort vor seinem Haus in der Carlingford Road anhielt.
»Sie wissen doch so gut wie ich, daß das verdammte Ding nicht wasserdicht ist«, entgegnete sie mit zornigem Blick.
Sie war so wütend und durchnäßt wie eine Katze, die man gegen ihren Willen ins Wasser geworfen hat, und ihm ging es nicht viel anders. Fasziniert sah sie zu, wie aus seinem feuchten Haar ein Wasserbächlein seine Stirn hinunterrann.
Er wischte es mit dem Handrücken weg und fing plötzlich an zu lachen. »Mein Gott, Gemma, wie wir aussehen! Sie können wirklich unglaublich stur sein.«
Nach einer, wie es schien, endlosen Sitzung in High Wycombe hatten sie endlich die Rückfahrt nach London angetreten und prompt mitten auf der M 40 eine Reifenpanne gehabt. Gemma war an den Straßenrand gefahren und in den strömenden Regen hinausgestürzt, um den Reifen zu wechseln. Jede Hilfe von ihm hatte sie abgelehnt. Er hatte im Regen gestanden und mit ihr gestritten, während sie arbeitete, und am Ende waren sie beide bis auf die Haut durchnäßt gewesen.
»Es ist zu spät, um Toby heute abend noch abzuholen«, sagte er. »Kommen Sie mit rein und ziehen Sie was Trockenes von mir an, ehe Sie sich den Tod holen. Und etwas zu essen wäre auch nicht schlecht. Bitte, kommen Sie doch.«
»Na schön«, sagte sie nach einem Moment des Zögerns, doch die Worte klangen widerwillig und verdrossen, obwohl das nicht ihre Absicht gewesen war. Ihre schlechte Laune schien außer Kontrolle geraten zu sein, und sie wußte nicht, wie sie sie bändigen sollte.
Sie nahmen gar nicht erst einen Schirm, als sie über die Straße zum Haus liefen, sie waren ja sowieso schon bis auf die Haut naß, und die Regentropfen stachen wie Nadeln auf ihrer Haut.
In der Wohnung ging Kincaid, eine Wasserspur über den Teppich ziehend, sofort in die Küche. Er holte eine bereits offene Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und goß zwei Gläser ein. »Fangen Sie erst mal damit an«, sagte er, als er ihr eines reichte. »Das wärmt Sie von innen. Tut mir leid, aber was Stärkeres habe ich nicht da. Und inzwischen hole ich Ihnen trockene Sachen.«
Mit dem Glas in der Hand blieb sie im Wohnzimmer stehen. Sie war zu naß, sich zu setzen, zu erschöpft, um sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. War sie Julias wegen auf ihn böse? Sie hatte eine Nähe zwischen ihnen gespürt, ein Einverständnis, das sie ausschloß, und die Heftigkeit ihrer Reaktion bestürzte sie.
Sie kostete von dem Wein und trank dann das halbe Glas. Kühl in ihrem Mund, schien er doch eine gewisse Wärme in ihrem Körper zu verbreiten.
Oder war sie wütend auf Caroline Stowe, die sie getäuscht hatte, und ließ nun ihren Zorn an Kincaid aus, weil er gerade in der Nähe war?
Vielleicht war es nur die ganze Sinnlosigkeit, die ihr so stark zusetzte, daß sie am liebsten alles hingeschmissen hätte.
Sid erhob sich von seinem gemütlichen Schlummerplätzchen auf dem Sofa, streckte sich ausgiebig und kam zu ihr. Mit schlankem Körper strich er ihr um die Beine und drückte seinen Kopf an ihre Waden. Sie bückte sich, um ihn unter dem Kinn zu kraulen, und spürte, wie sein Hals unter ihren Fingerspitzen zu vibrieren begann.
»Hallo, Sid. Du hast es gut-schön warm und trocken. Glück muß man haben.«
Sie sah sich in dem vertrauten Zimmer um. Das Licht der Lampen, die Kincaid angeknipst hatte, tauchte es in einen warmen gelblichen Schein, der die Sammlung bunter London-Transport-Poster beleuchtete. Auf dem Couchtisch lag neben einer leeren Kaffeetasse ein unordentlicher Bücherstapel, auf dem Sofa eine zusammengeschobene Wolldecke. Gemma verspürte einen Stich sehnsüchtigen Verlangens. Sie hätte sich so gern hier zu Hause gefühlt, sicher und geborgen.
»Mit Unterwäsche kann ich leider nicht dienen«, sagte Kincaid, als er mit einem Stoß gefalteter Kleider und einem weichen Badetuch aus dem Schlafzimmer zurückkam. »Da müssen Sie sich was einfallen lassen.« Er legte Jeans und Sweatshirt auf das Sofa und legte ihr das Badetuch um die Schultern. »Ach, und Socken. Ich hab die Socken vergessen.«
Gemma wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel des Badetuchs und versuchte, ihren durchweichten Zopf aufzumachen. Ihre Finger waren vor Kälte so steif, daß ihr Bemühen umsonst war. Tränen des Zorns brannten hinter ihren Lidern.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte er liebevoll. Er drehte sie herum und löste geschickt den dicken Zopf. Mit den Fingern kämmte er das lockige Haar aus. »So.« Wieder drehte er sie herum und rubbelte ihr den Kopf mit dem Badetuch. Seine Haut roch warm und feucht.
Die Berührung seiner Hände an ihrem Kopf schien alle ihre Barrieren einzureißen. Sie merkte, wie ihre Beine weich und schlaff wurden, als könnten sie ihr Gewicht nicht länger tragen. Sie schloß erschöpft die Augen und dachte, zuviel Wein, zu schnell getrunken, aber das Gefühl der Schwäche ging nicht vorüber. Sie hob den Arm und legte ihre Hand über die seine.
Er hörte auf, ihr Haar zu frottieren, und sah sie besorgt an. »Tut mir leid«, sagte er. »Hab ich zu fest gerubbelt?«
Als sie den Kopf schüttelte, ließ er das Tuch zu ihren Schultern hinuntergleiten und begann behutsam ihren Hals und ihren Hinterkopf abzureiben. Sie mußte plötzlich an Rob denken - er hatte sich nie so um sie gekümmert. Niemand hatte sich je so liebevoll um sie gekümmert. Und niemals hatte sie mit der unwiderstehlichen Macht der Zärtlichkeit gerechnet.
Unter dem leichten Druck seiner Hand in ihrem Nacken stolperte sie einen Schritt vorwärts, und einen Moment benahm es ihr den Atem, als er mit seinem Körper ihre eiskalten Sachen an ihre Haut drückte. Sie hob ihr Gesicht, und wie von selbst umfaßte ihre Hand seinen Kopf und zog ihn zu ihr hinunter.
Verschlafen richtete sich Gemma auf und sah auf einen Ellbogen gestützt zu ihm hinunter. Sie hatte ihn noch nie schlafend gesehen. Sein entspanntes Gesicht wirkte jünger, weicher, und der Kranz seiner Wimpern warf dunkle Schatten auf seine Wangen. Seine Lider flatterten einen Moment, als träumte er, und die Winkel seines Mundes hoben sich in der Andeutung eines Lächelns.
Sie hob die Hand, um ihm das wirre braune Haar aus der Stirn zu streichen, und erstarrte. Bei dieser kleinen Geste intimer Vertrautheit wurde ihr plötzlich bewußt, wie absurd, wie unmöglich das war, was sie getan hatte.
Sie zog ihre Hand zurück, als hätte sie einen Schlag empfangen. Lieber Gott, was habe ich mir dabei gedacht? Was, um alles in der Welt, ist in mich gefahren? Wie sollte sie ihm am Morgen gegenübertreten und »Ja, Chef, nein,Chef, in Ordnung, Chef« sagen, als wäre nichts zwischen ihnen gewesen?
Mit wild klopfendem Herzen glitt sie vorsichtig aus dem Bett. Sie hatten Häufchen feuchter Kleider im ganzen Schlafzimmer hinterlassen, und als sie jetzt ihre Sachen aus dem Durcheinander heraussuchte, schossen ihr die Tränen in die Augen. Verdammt noch mal, schimpfte sie lautlos. Du dumme Gans. Sie weinte niemals. Nicht einmal als Rob sie verlassen hatte, hatte sie geweint. Fröstelnd schlüpfte sie in ihr feuchtes Höschen, zog sich den nassen Pullover über den Kopf.
Sie hatte genau das getan, was sie sich niemals zu tun geschworen hatte. So hart sie gearbeitet hatte, um sich ihre Position zu verdienen, als gleichwertig betrachtet zu werden, als Kollegin - sie war nicht besser als jedes Flittchen, das seinen Weg durch die Betten machte. Plötzlicher Schwindel überfiel sie, als sie in ihren Rock stieg, und sie schwankte.
Was sollte sie jetzt tun? Um eine Versetzung bitten? Alle würden sofort wissen, warum - ebensogut hätte sie sich ein Schild umhängen können. Kündigen? Ihre Träume aufgeben, alles, was sie sich hart erarbeitet hatte, wegwerfen? Wie sollte sie das ertragen? Oh, an Teilnahme und plausiblen Entschuldigungen würde es nicht fehlen - zu anstrengend für eine alleinerziehende Mutter, die Notwendigkeit, mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen -, aber sie würde immer um ihr Versagen wissen.
Kincaid drehte sich herum und zog einen Arm unter der Decke hervor. Sie sah zu ihm hinunter und versuchte, sich den Bogen seiner Schulter, den Schwung seiner Wange für immer einzuprägen. Sehnsucht und Verlangen wurden so heftig, daß sie sich aus Angst vor ihrer Schwäche abwenden mußte.
Im Wohnzimmer zwängte sie ihre nackten Füße in die nassen Schuhe und nahm Mantel und Handtasche. Die Jeans und das Sweatshirt, die er ihr gebracht hatte, lagen immer noch ordentlich gefaltet auf dem Sofa, und das Badetuch, mit dem er ihr Haar getrocknet hatte, lag in einem Häufchen auf dem Boden. Sie hob es auf und hielt es an ihre Wange, es schien ihr ganz schwach nach seiner Rasierseife zu riechen. Mit übertriebener Sorgfalt faltete sie es und legte es neben die Kleidungsstücke, dann ging sie leise aus der Wohnung.
Als sie zur Haustür kam, sah sie, daß es immer noch in Strömen regnete. Einen Moment blieb sie stehen und starrte in das nasse Grau. Ihre rebellische Phantasie zeigte ihr ein Bild von ihr, wie sie die Treppe wieder hinaufrannte, in seine Wohnung trat, ihre Kleider abwarf und neben ihm ins Bett glitt.
Sie stieß die Tür auf, trat langsam in den Regen hinaus und überquerte, gleichgültig gegen den Regen, die Straße. Der Anblick ihres Wagens hatte beinahe etwas Tröstliches. Wie blind sperrte sie auf, öffnete die Tür und ließ sich in den Sitz fallen. Sie wischte sich das nasse Gesicht mit den Händen ab und ließ den Motor an.
Laute Radiomusik plärrte ihr ins Gesicht, doch anstatt den Apparat auszuschalten, schob sie beinahe automatisch eine Kassette in den Recorder. Caroline Stowes Stimme füllte den Wagen - Violetta, die ihre letzte Arie sang, in der sie um Leben flehte, um Liebe, um die Kraft, an ihrem mutigen Entschluß festzuhalten.
Gemma legte ihren Kopf auf das Lenkrad und weinte.
Nach einer Weile trocknete sie sich das Gesicht mit einem Papiertaschentuch und legte den ersten Gang ein. Als die Musik endete, war nur noch das Trommeln des Regens auf dem Wagen zu hören.
Das leise Geräusch der zufallenden Tür durchdrang Kincaids Schlaf. Einen Augenblick wurde er wach, doch dann zog der Schlaf ihn wieder in seine wohligen Tiefen. Sein Körper war wie Watte, und seine Lider schienen ihm sehr schwer. Er zog den entblößten Arm unter die Decke und fühlte plötzlich das Laken neben sich leer und kühl. Gemma. Sie war wahrscheinlich in die Toilette gegangen - oder vielleicht in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Er lächelte ein wenig über seine eigene Dummheit. Was er begehrte, was er brauchte, hatte er die ganze Zeit direkt vor der Nase gehabt, und er war zu blind gewesen, um es zu sehen. Aber jetzt, jetzt hatte sein Leben die Erfüllung gefunden, und er stellte sich den Ablauf ihrer gemeinsamen Tage vor. Arbeit, dann nach Hause, und am Ende des Tages würde er neben ihr Wärme und Geborgenheit finden.
Kincaid streckte seinen Arm über das Kissen, um sie zu umfangen, wenn sie zurückkehrte. Der Regen trommelte in eintönigem Rhythmus ans Fenster, Kontrapunkt zu der Wärme und Behaglichkeit im Zimmer. Mit einem wohligen Seufzer überließ Kincaid sich wieder dem Schlaf.