Das Mittagessen mit Makepeace verbesserte Kincaids Stimmung ganz erheblich. Als die beiden Männer aus dem düsteren Pub in der Nähe der Polizeidienststelle High Wycombe auf die Straße traten, zwinkerten sie verblüfft.
»Das ist aber eine Überraschung«, sagte Makepeace und hielt sein Gesicht in die Sonne. »Nur wird es wohl leider nicht lang anhalten - der Wetterbericht hat starke Regengüsse angesagt.«
Nach diesem langen Morgen am Schreibtisch, dachte Kin-caid, als er die schwache Wärme der Sonne auf seinem Gesicht fühlte, ist jetzt ein Spaziergang das Richtige. »Die paar Sonnenstrahlen werd ich ausnützen«, sagte er zu Makepeace, als sie vor der Dienststelle standen. »Sie können mich ja erreichen, wenn sich etwas tun sollte.«
»So ein Glück möcht ich auch haben«, antwortete Makepeace gutmütig. »Aber ich muß zurück in die Tretmühle.« Er winkte Kincaid kurz zu und verschwand hinter der Glastür.
Kincaid fuhr das kurze Stück von High Wycombe nach Fingest mit dem Auto. Als er das Dorf erreichte, zögerte er einen Moment, ehe er auf den Parkplatz des Pubs fuhr. Das Pfarrhaus sah zwar in der Nachmittagssonne sehr einladend aus, und der Pastor kannte hier gewiß jeden Weg und Steg, doch er fürchtete, er könnte sich dazu verleiten lassen, den ganzen Nachmittag beim gemütlichen Plausch mit dem Pastor in seinem Arbeitszimmer zu verbringen.
Tony erwies sich schließlich in der Frage örtlicher Spazierwege so hilfreich und entgegenkommend wie in allem anderen bisher. »Ich hab genau das Richtige für Sie«, sagte er und holte ein zerfleddertes Buch unter dem Tresen hervor. »Eine Pubwanderung. Dreieinhalb Meilen, ist das zuviel für Sie?« Er musterte Kincaid mit taxierendem Blick.
»Ich glaube, das schaffe ich gerade noch«, erwiderte Kincaid lächelnd.
»Fingest, Skirmett, Turville und dann zurück nach Fingest. Jedes Dorf liegt in seinem eigenen Tal, aber auf dieser Wanderung werden die steilsten Steigungen vermieden. Ein bißchen matschig könnte es allerdings schon werden.«
»Vielen Dank, Tony. Ich verspreche Ihnen, den Matsch nicht ins Haus zu tragen. Ich geh nur rasch hinauf und zieh mich um.«
»Nehmen Sie meinen Kompaß«, rief Tony ihm nach. Er hielt das Gerät hoch, als hätte er es wie ein Zauberkünstler aus dem Ärmel geschüttelt. »Den kann man immer gebrauchen.«
Auf der Höhe des ersten langen Anstiegs hatte ein freundlicher Mensch eine Bank aufgestellt, auf der der außer Atem geratene Wanderer sich niederlassen und die Aussicht genießen konnte. Kincaid machte von dem Angebot nur kurzen Gebrauch, dann marschierte er weiter, durch Wälder und Wiesen und Felder. Anfangs beschäftigte ihn der kurze geschichtliche Überblick, den der Pastor ihm gegeben hatte, und er dachte beim Gehen an die Kelten, Römer, Sachsen und Normannen, die sich nacheinander in diesen Hügeln angesiedelt und alle dieser Landschaft ihren besonderen Stempel aufgedrückt hatten.
Aber nach einer Weile begannen frische Luft, Bewegung und Einsamkeit zu wirken, und mit freiem Kopf konnte er zu der Frage von Connor Swanns Tod zurückkehren, die Tatsachen und Impressionen sichten, die er bisher gesammelt hatte. Der pathologische Befund ließ es als höchst unwahrscheinlich erscheinen, daß Tommy Godwin Connor Swann draußen vor dem Red Lion in Wargrave getötet hatte. Es war natürlich möglich, daß er Connor zunächst bewußtlos geschlagen und ihn zwei Stunden später getötet hatte, nachdem er aus London zurückgekehrt war - aber Kincaid konnte sich so wenig wie Gemma vorstellen, wie die Leiche später vom Auto zur Schleuse gebracht worden sein sollte.
Dr. Winsteads Bericht bedeutete ferner, daß auch Julia während ihrer kurzen Abwesenheit von der Galerie Connor nicht getötet haben konnte, und Davids Aussage, derzufolge Connor bis mindestens zehn Uhr in Wargrave gewesen war, bewies, daß sie ihn unmöglich am Fluß getroffen haben konnte, um ein späteres Zusammentreffen mit ihm zu vereinbaren. Kincaid drängte die Erleichterung zurück, die diese Schlußfolgerung ihm brachte, und zwang sich, die nächste Möglichkeit in Betracht zu ziehen - daß sie sich viel später mit Connor getroffen hatte und Trevor Simons log, um sie zu decken.
Er war so vertieft in seine Gedanken, daß er den Kuhfladen erst sah, als er schon hineingepatscht war. Fluchend wischte er den Tennisschuh so gut es ging im Gras ab. Mit dem Motiv war es ähnlich, dachte er, als er achtsamer weitermarschierte - man sah es manchmal erst, wenn man praktisch hineinstolperte. Sosehr er sich bemühte, es fiel ihm kein plausibler Grund ein, weshalb Julia ihren Mann hätte töten sollen; er glaubte auch nicht, daß sie, nachdem sie an diesem Tag bereits einen Streit mit ihm gehabt hatte, zu einer Verabredung mit ihm bereit gewesen wäre.
War dieser Streit mit Julia nach dem Mittagessen der Auslöser von Connors zunehmend seltsamem Verhalten an diesem Tag gewesen? Nein, eigentlich war Connor erst sichtbar vom erwarteten Muster abgewichen, nachdem er sich von Kenneth Hicks getrennt hatte. Und damit war Kincaid wieder bei Kenneth Hicks - wo hatte Hicks den Donnerstag abend verbracht, und warum hatten die Fragen nach seinem Tun ihn veranlaßt, nach anfänglicher, wenn auch widerstrebender Kooperation plötzlich beharrlich zu schweigen? Er sah Hicks vor sich, in seine teure Lederjacke verkrochen, als wäre sie eine Rüstung, und ihm fiel die Zeugin ein, von der Makepeace gesprochen hatte. >Ein Junge in Ledermontur<, hatte sie gesagt ... Hicks war schmächtig und nicht größer als eins siebzig. Neben Connor hätte man ihn leicht für einen Jungen halten können. Auf jeden Fall war dies eine Möglichkeit, der nachzugehen sich lohnte.
Wälder schlossen ihn wieder ein, als er Skirmett hinter sich ließ. Er schritt durch eine schattige, geräuschlose Welt, in der der Klang seiner Schritte vom welken Laub auf dem Boden aufgesogen wurde. Nicht einmal Vogelgezwitscher durchbrach die Stille, und als er stehenblieb, weil er in der Ferne ein Reh gesehen zu haben glaubte, hörte er das Rauschen seines Bluts in seinen Ohren.
Er setzte sich wieder in Bewegung und verlor sich gleich wieder in seinen Spekulationen. Wenn Connor Swann nach seinem Streit mit Tommy Godwin vom Red Lion weggefahren war, wohin dann? Sharon Doyle kam ihm in den Sinn - sie war genau wie Kenneth Hicks aggressiv geworden, als Kincaid sie danach gefragt hatte, was sie später in jenem Abend getan hatte.
Als er bei Turville aus dem Wald heraustrat, blickte er nach Nordwesten, in Richtung Northend, zu der Anhöhe, auf der unter dem dunklen Laubdach der Buchen verborgen das Haus der Ashertons stand. Was hatte Julia in dieses Haus zurückgezogen? An der Abzweigung nach Northend blieb er stirnrunzelnd stehen. Ein roter Faden zog sich durch diesen Fall, den er nicht recht zu fassen bekam - immer, wenn er glaubte zupacken zu können, entzog er sich ihm, ähnlich wie es einem ergeht, wenn man die Ranke einer Unterwasserpflanze zu erhaschen sucht.
Inmitten der geduckten kleinen Häuser von Turville lockte das Bull and Butcher, doch Kincaid widerstand der Versuchung eines kühlen Biers und marschierte weiter, in die Felder hinaus. Bald gelangte er auf die Straße, die nach Fingest führte. Die Sonne war hinter den Wipfeln der Bäume verschwunden, und ihr Licht fiel schräg, von Blättern und Zweigen gebrochen, zwischen den Stämmen hindurch.
Als der nun schon vertraute Turm der Kirche von Fingest in Sicht kam, hatte Kincaid zwei Entschlüsse gefaßt. Er würde die Kollegen von Thames Valley bitten, Kenneth Hicks vorzuführen, dann würde man sehen, wie lange seine dreiste Störrischkeit in einem amtlichen Vernehmungszimmer vorhielt.
Und er würde noch einmal mit Sharon Doyle sprechen.
Als Kincaid ins Chequers zurückkam, mit Matsch an den Schuhen, wie Tony prophezeit hatte, und angenehm müde von seiner Wanderung, hatte Gemma noch nichts von sich hören lassen. Er rief im Yard an und hinterließ beim diensthabenden Beamten eine Nachricht für sie. Sobald sie in London fertig sei, solle sie wieder zu ihm nach Fingest kommen. Er wollte sie bei seinem Gespräch mit Hicks dabeihaben. Und in Anbetracht von Hicks’ offensichtlicher Abneigung gegen Frauen, dachte Kincaid mit einem Lächeln, würde es sich vielleicht lohnen, sie das Gespräch führen zu lassen.
In Henley ließ Kincaid seinen Wagen in der Nähe der Polizeidienststelle stehen und ging zu Fuß die Hart Street hinunter, immer den Turm der Marienkirche vor Augen, die trutzig und stolz den Mittelpunkt des Ortes bildete. Die Church Avenue lag halb versteckt im Schatten ihres Turms, an den Friedhof angrenzend. Ein Schild, das in das Mauerwerk eingelassen war, besagte, daß die Reihe von Armenhäusern 1547 von John Longland, Bischof von Lincoln, gestiftet und 1830 wieder erbaut worden war.
Die Häuschen waren unerwartet hübsch, mit blaßgrün gestrichenen Mauern und leuchtendblauen Türen. Spitzenvorhänge hingen in jedem Fenster. Kincaid klopfte an der Tür mit der Nummer, die Sharon Doyle ihm angegeben hatte. Von drinnen waren die Geräusche eines Fernsehapparats zu hören und schwach die Stimme eines Kindes.
Er hatte gerade die Hand erhoben, um noch einmal zu klopfen, als Sharon die Tür öffnete. Wären nicht die leuchtendblonden Locken gewesen, er hätte sie kaum wiedererkannt. Sie war nicht geschminkt, nicht einmal ihre Lippen waren gefärbt, und ihr nacktes Gesicht wirkte jung und verletzlich. Statt der aufgedonnerten Klamotten hatte sie ein verwaschenes Sweat-shirt an, Jeans und schmutzige Tennisschuhe, und in den wenigen Tagen, seit er sie zuletzt gesehen hatte, schien sie sichtlich dünner geworden zu sein. Zu seiner Überraschung schien sie auch rührend erfreut zu sein, ihn zu sehen.
»Superintendent! Was tun Sie denn hier?« Mit verschmiertem Mund und zerzaustem Haar schob sich das Kind, das Kincaid von dem Foto kannte, neben Sharon und hängte sich an das Bein seiner Mutter.
»Hallo, Hayley«, sagte Kincaid in die Hocke gehend. Er blickte zu Sharon hinauf und fügte hinzu: »Ich wollte mal sehen, wie es Ihnen geht.«
»Ach, kommen Sie doch herein«, sagte sie und trat zur Seite, etwas behindert von dem Kind, das sich fest an ihr Bein klammerte. »Hayley war gerade beim Essen, stimmt’s, Schatz? In der Küche, mit Grannie.«
Jetzt, da sie Kincaid ins Wohnzimmer geführt hatte, schien sie nicht zu wissen, was sie mit ihm anfangen wollte, stand nur da und streichelte das Lockengewirr des Kindes.
Kincaid sah sich mit Interesse in dem kleinen Raum um. Spitzendeckchen und dunkle Möbel, Lampenschirme mit Fransen und ein Geruch nach Lavendelwachs, alles so sauber und ordentlich wie in einem Museum. Das Geräusch des Fernsehgeräts war nur wenig lauter als von draußen, die Innenwände des Hauses waren offenbar stabil gebaut.
»Gran hat den Fernseher gern in der Küche«, bemerkte Sharon. »Da sitzt man gemütlicher, gleich beim Kamin.«
Dieses kleine Wohnzimmer hätte der Schauplatz einer Liebesgeschichte aus lang vergangener Zeit sein können, dachte Kincaid. Er sah sie vor sich, die beiden jungen Liebenden, wie sie steif auf den steifen Stühlen saßen, dann fiel ihm ein, daß diese Häuser ja für alte Wohlfahrtsempfänger gebaut worden waren. Er fragte sich, ob Connor je hierhergekommen war.
Diplomatisch sagte er: »Wenn Hayley jetzt wieder zu ihrer Grannie gehen will, um fertig zu essen, könnten wir beide vielleicht ein paar Schritte hinausgehen und uns unterhalten.«
Sharon warf ihm einen dankbaren Blick zu und neigte sich zu ihrer Tochter hinunter. »Hast du gehört, was der Superintendent gesagt hat, Schatz? Er möchte gern mal mit mir reden. Gehst du inzwischen wieder zu Grannie, ja? Wenn du alles aufißt, kannst du hinterher auch ein Plätzchen haben«, fügte sie überredend hinzu.
Hayley musterte ihre Mutter, als wollte sie die Aufrichtigkeit dieses Angebots ergründen.
»Ich versprech es dir«, sagte Sharon, drehte sie herum und gab ihr einen Klaps auf den Po. »Na komm, geh schon. Sag Gran, daß ich gleich komme.« Sie wartete, bis das kleine Mädchen in der Küche verschwunden war, dann sagte sie zu Kincaid: »Ich hol mir nur eine Jacke.«
Die Jacke erwies sich als eine braune Herrenstrickjacke, abgetragen und nicht ohne einige Mottenlöcher. Sie erinnerte Kincaid ironischerweise an die, die Sir Gerald Asherton bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte.
Als Sharon Kincaids Blick sah, lächelte sie und sagte: »Die hat meinem Großvater gehört. Gran hat sie aufgehoben. Nur so fürs Haus.« Als sie Kincaid nach draußen folgte, fügte sie hinzu: »Eigentlich ist sie meine Urgroßmutter, meine richtige Großmutter hab ich nie gekannt. Sie ist bei der Geburt meiner Mutter gestorben.« Die Sonne war in den wenigen Minuten, die Kincaid im Haus verbracht hatte, untergegangen, doch im abendlichen Zwielicht wirkte der Friedhof noch einladender. Sie gingen zu einer Bank, und als sie sich setzten, sagte Kincaid: »Ist Hayley immer so schüchtern?«
»Im Gegenteil, von dem Tag an, als sie die ersten Worte sprechen konnte, hat sie immer geplappert wie ein kleiner Papagei, auch mit Fremden.« Sharons Hände lagen locker in ihrem Schoß, so still, daß man hätte meinen können, sie gehörten nicht zu ihrem Körper. »Erst seit ich ihr das von Con gesagt hab, ist sie so geworden.« Sie sah hilfesuchend zu Kincaid auf. »Ich mußte es ihr doch sagen, oder nicht, Mr. Kincaid? Ich konnte sie doch nicht glauben lassen, er wär einfach abgehauen. Ich konnte sie nicht glauben lassen, daß er sich nichts aus uns gemacht hat.«
Kincaid bedachte die Frage sorgfältig, ehe er antwortete. »Ich glaube, Sie haben das Richtige getan, Sharon. Auf lange Sicht ist es immer besser, die Wahrheit zu sagen. Kinder spüren es, wenn man lügt, und wenn Sie Hayley belogen hätten, dann müßte sie jetzt nicht nur mit dem Verlust fertig werden, sondern auch mit dem Verrat.«
Sharon hörte ihm aufmerksam zu und nickte einmal kurz, als er geendet hatte. Einen Moment lang sah sie auf ihre Hände nieder. »Jetzt möchte sie wissen, warum wir ihn nicht sehen können. Meine Tante Pearl ist letztes Jahr gestorben, und da hat Gran sie vor der Beerdigung ins Leichenschauhaus mitgenommen.«
»Was haben Sie ihr gesagt?«
Mit einem Achselzucken erwiderte Sharon: »Daß jeder seinen eigenen Brauch hat. Was hätt ich denn sonst sagen sollen?«
»Ich könnte mir denken, sie will einen konkreten Beweis dafür, daß Con wirklich tot ist. Vielleicht könnten Sie hinterher einmal mit ihr zu seinem Grab gehen.« Er wies auf die Gräber, die so ordentlich im grünen Gras des Friedhofs angeordnet waren. »Das ist ihr doch sicher vertraut.«
Sie schob krampfhaft ihre Hände zusammen. »Ich kann mit keinem Menschen darüber reden, wissen Sie. Gran will nichts davon hören - sie war sowieso dagegen -«
»Warum das?« fragte Kincaid, überrascht, daß die Frau diese Beziehung nicht als Chance für ihre Urenkelin gesehen hatte.
»Vor dem Herrn ist eine Ehe eine Ehe«, ahmte Sharon ihre Urgroßmutter nach, und Kincaid hatte plötzlich ein klares Bild der alten Frau. »Gran hat sehr feste Überzeugungen. Für sie hat es keinen Unterschied gemacht, daß Con nicht mehr mit seiner Frau zusammengelebt hat. Sie hat gesagt, solange Con verheiratet sei, hätte ich keinerlei Rechte. Und jetzt zeigt sich ja, daß sie gewußt hat, wovon sie redet, nicht wahr?«
»Aber Sie haben doch sicher Freundinnen, mit denen Sie sprechen können«, meinte Kincaid, der auf die letzte Frage keine tröstliche Antwort wußte.
»Die wollen auch nichts davon wissen. Man könnt meinen, ich wär eine Aussätzige - die tun so, als hätten sie Angst, sie könnten sich bei mir anstecken.« Sharon schniefte und sagte leiser: »Ich will sowieso nicht mit ihnen über Con reden. Das, was war, war nur zwischen uns, und so soll’s auch bleiben.«
»Ja, das kann ich verstehen.«
Ein paar Minuten saßen sie schweigend nebeneinander. In den kleinen Häusern gegenüber gingen die ersten Lichter an. Schattenhafte Gestalten bewegten sich hinter den Spitzenvorhängen, und hier und dort trat eine alte Frau aus der Tür, um die Milchflaschen hinauszustellen oder einen vergessenen Gegenstand hereinzuholen. Kincaid mußte an die Uhren denken, bei denen mit jedem Stundenschlag ein Figürchen aus dem Gehäuse tritt. Er sah die junge Frau an, die mit gesenktem Kopf neben ihm saß. »Ich sehe zu, daß Sie Ihre Sachen zurückbekommen, Sharon. Mrs. Swann möchte das auch.«
Ihre Reaktion überraschte ihn. »Das, was ich da neulich abend gesagt... Ich hab inzwischen Zeit zum Nachdenken gehabt.« Im schwindenden Licht sah er flüchtig den Glanz ihrer Augen, ehe sie wieder von ihm wegschaute. »Was ich da gesagt hab, war nicht in Ordnung. Sie wissen schon. Über sie ...«
»Sie meinen, als Sie sagten, Julia hätte Connor getötet?«
Sie nickte. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt hab. Ich wollte wahrscheinlich einfach irgend jemandem weh tun.« Nach einer kurzen Pause sagte sie in einem Ton, als hätte sie eine ganz neue Entdeckung gemacht: »Ich glaube, ich wollte unbedingt glauben, daß sie wirklich so gemein ist, wie Con gesagt hat. Das hat mir gutgetan. Da hab ich mich sicherer gefühlt.«
»Und jetzt?« fragte Kincaid. Als sie nicht antwortete, sagte er: »Sie hatten keinen Grund zu diesen Beschuldigungen? Con hat nie etwas gesagt, das Ihnen Anlaß gab zu glauben, Julia habe ihm gedroht?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte so leise, daß er sich zu ihr hinunterneigen mußte, um sie zu hören: »Nein.« Sie roch nach Kernseife, und die gute, saubere Alltäglichkeit dieses Geruchs weckte plötzliche Wehmut in ihm.
Das Zwielicht begann sich zu verdunkeln, und hinter einigen der Fenster gegenüber war das bläulich flackernde Licht von Fernsehapparaten zu sehen. Kincaid stellte sich vor, daß die Alten dort drüben, lauter Frauen, soweit er gesehen hatte, jetzt schon ihr Abendessen einnahmen, damit sie es sich dann ungestört, isoliert von sich selbst und voneinander vor der Flimmerkiste bequem machen konnten. Es fröstelte ihn innerlich bei dem Gedanken, und er mußte eine plötzliche Anwandlung von Melancholie abschütteln. Aber warum sollte er ihnen ihr einsames Vergnügen verübeln?
Sharon richtete sich ein wenig auf und zog ihre Strickjacke enger um sich. Sich die Hände reibend, um sie zu wärmen, wandte er sich ihr zu und sagte: »Eines noch, Sharon, und dann gehen Sie lieber wieder hinein, ehe Sie sich erkälten. Wir haben einen Zeugen, der sicher ist, Connor an dem fraglichen Abend im Red Lion in Wargrave gesehen zu haben. Nachdem er bei Ihnen weggegangen war. Connor traf sich mit einem Mann, auf den die Beschreibung von Tommy Godwin paßt, einem alten Freund der Ashertons. Kennen Sie ihn, oder hat Con je von ihm gesprochen?«
Sie schwieg lange. Er konnte das Rattern ihrer Gedanken förmlich hören und meinte, wenn er nur genau genug hinsähe, würde er ihre in angestrengtem Nachdenken gekrauste Stirn sehen.
»Nein«, sagte sie schließlich, »der Name ist mir unbekannt.« Sie drehte sich nach ihm herum. »Haben sie - haben sie gestritten?«
»Dem Zeugen zufolge war es keine besonders freundliche Unterhaltung. Warum?«
Sie führte ihre Hand zum Mund und begann am Nagel ihres Zeigefingers zu kauen. Nägelkauen war eine Form der Selbstverstümmelung, die bei Kincaid stets Abscheu hervorrief. Er wartete, die Hände gefaltet, um sich daran zu hindern, ihr die Hand vom Mund wegzureißen.
»Ich hab gedacht, ich hätte ihn wütend gemacht«, sagte sie. »Er ist an dem Abend noch mal zurückgekommen. Er hat sich überhaupt nicht gefreut, mich zu sehen - er wollte nur wissen, warum ich nicht zu Gran gegangen war, wie ich gesagt hatte.« Sie berührte Kincaids Ärmel. »Deshalb hab ich das vorher nicht erzählt. Ich bin mir so blöd vorgekommen.«
Kincaid tätschelte ihre Hand. »Und warum waren Sie nicht heimgegangen?«
»Ach, ich bin schon nach Hause gegangen, aber Gran und ihre Freundinnen haben eher mit dem Bridge aufgehört - eine von ihnen hat sich nicht wohl gefühlt. Da bin ich wieder zu Con gegangen. Es hat mir leid getan, daß ich vorher so beleidigt abgedampft war. Ich hab gedacht, er würde sich freuen, mich zu sehen, und wir könnten -« Sie schluckte, unfähig fortzufahren. Doch was sie gehofft hatte, war Kincaid auch so klar.
»War er betrunken?«
»Er hatte was getrunken, ja, aber richtig betrunken war er nicht.«
»Und er hat Ihnen nicht gesagt, wo er gewesen war und mit wem?«
Sharon schüttelte den Kopf. »Er hat nur gesagt >Was tust du denn hier?<, und dann ist er an mir vorbeigegangen, als wär ich ein Möbelstück oder so was.«
»Und weiter? Erzählen Sie mir alle Einzelheiten, alles, woran Sie sich erinnern können.«
Sie schloß die Augen und überlegte einen Moment, dann begann sie gehorsam: »Er ist in die Küche und hat sich was zu trinken gemacht -«
»Nicht an den Barwagen?« fragte Kincaid, der sich des Sortiments von Flaschen auf dem Servierwagen im Wohnzimmer erinnerte.
»Ach, der war nur für die Gäste da. Con hat Whisky getrunken und hatte immer eine Flasche in der Küche stehen. Auf der Arbeitsplatte«, sagte sie und fuhr dann langsamer fort: »Dann ist er wieder ins Wohnzimmer gekommen, und mir ist aufgefallen, daß er sich dauernd den Hals gerieben hat. >Alles in Ordnung?< hab ich ihn gefragt. >Geht’s dir nicht gut?< Aber er hat mir gar nicht geantwortet. Er ist nach oben gegangen, in sein Arbeitszimmer, und hat die Tür zugemacht.«
»Sind Sie ihm gefolgt?« fragte Kincaid, als sie nicht weitersprach.
»Ich hab nicht gewußt, was ich tun soll. Ich wollte gerade raufgehen, da hab ich ihn oben reden hören - er hatte anscheinend jemanden angerufen.« Sie sah Kincaid an, und selbst im trüben Widerschein der Straßenlampen konnte er sehen, wie sehr sie sich quälte. »Er hat gelacht. Das ist es, was ich nicht verstehen konnte. Wieso konnte er lachen, wo er doch zu mir kaum ein Wort gesagt hatte?
Als er wieder runtergekommen ist, hat er gesagt: >Ich geh jetzt noch mal weg, Shar. Sperr ab, wenn du gehst.< Ich war inzwischen unheimlich wütend, das können Sie sich wahrscheinlich denken. Ich hab ihm gesagt, er kann seine verdammte Tür selber zuschließen, ich hätte keine Lust, mich von ihm wie ein kleines Flittchen behandeln zu lassen. Ich hab gesagt, wenn er mich sehen wollte, könnt er mich ja anrufen, und dann würd ich’s mir überlegen, falls ich nicht gerade was Bessres vorhätte.«
»Und was hat Connor darauf gesagt?«
»Er hat nur dagestanden und mich angestarrt, als hätt er kein Wort gehört.«
Kincaid, der Sharon in Wut erlebt hatte, dachte, daß Connor in der Tat mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen sein mußte. »Und sind Sie dann gegangen?«
»Klar, mußte ich ja, oder? Was hätt ich denn sonst tun sollen?«
»Natürlich, die Szene verlangte einen großen Abgang«, sagte Kincaid lächelnd.
Sharon erwiderte das Lächeln ein wenig widerstrebend. »Ich hab die Tür mit solcher Wucht zugeknallt, daß ich mir den Nagel abgebrochen hab. Das hat vielleicht weh getan.«
»Sie haben also nicht selbst gesehen, wie er weggegangen ist?«
»Nein. Ich hab noch einen Moment rumgestanden. Wahrscheinlich hab ich gehofft, er würde nachkommen und sagen, es täte ihm leid. Schön blöd«, fügte sie bitter hinzu.
»Nein, das war gar nicht blöd. Sie hatten ja keine Erklärung für Cons Verhalten - ich glaube, ich an Ihrer Stelle hätte genauso gehandelt.«
Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie stockend: »Mr. Kincaid, wissen Sie, warum Con - warum er mich so behandelt hat?«
Er wünschte, er hätte sie irgendwie trösten können, doch er sagte nur: »Nein« und fügte dann mit einer Bestimmtheit, an die er selbst nicht recht glaubte, hinzu: »Aber ich werde es herausfinden. Kommen Sie, ich bring Sie jetzt wieder nach Hause. Sonst hetzt uns Ihre Großmutter noch die Polizei auf den Hals.«
Ihr Lächeln war so schwach wie sein kleiner Scherz.
Als sie vor dem Häuschen standen, fragte er: »Wie spät war es, als Sie bei Con weggegangen sind, Sharon? Wissen Sie das noch?«
Sie wies mit dem Kopf zu dem trutzigen Kirchturm hinter ihnen. »Es hat gerade elf geschlagen, als ich beim Angel vorbei-gekommen bin.«
Als er sich von Sharon getrennt hatte, schien es Kincaid das Natürlichste von der Welt, weiter den Hügel hinunterzugehen und am Fluß entlang zu Julias Wohnung. Er wollte Sharons Sachen holen, solange er noch daran dachte, und die Gelegenheit benutzen, um Julia noch einmal zu fragen, was sie in jener Nacht getan hatte, nachdem die Galerie geschlossen hatte.
So zumindest sagte sein rationaler Teil. Ein anderer Teil von ihm jedoch beobachtete diese Zurechtlegungen mit spöttisch erheiterter Herausforderung. Warum gab er nicht zu, daß er mit ihr Zusammensein wollte? Daß er den Glanz des Lichts auf ihrem dunklen Haar sehen wollte, die Art, wie ihre Lippen sich an den Winkeln leicht in die Höhe zogen, wenn sie eine Bemerkung von ihm erheiternd fand? Daß seine Haut sich noch immer der Berührung ihrer Finger erinnerte?
»Blödsinn!« sagte Kincaid laut, um den spöttischen Zuschauer zu vertreiben. Es gab noch einige offene Fragen zu klären, das war alles, und sein Interesse an Julia Swann war rein dienstlicher Natur.
Der Wind, der früher am Tag die Wolken weggefegt hatte, hatte sich jetzt gelegt. Der Abend war still, wie in Erwartung gehüllt. Die Lichter, die sich im Fluß spiegelten, verliehen dem Wasser einen eisharten Glanz, und als er am Angel Pub vorüberkam und das Ufer entlangging, fühlte er die kalte Luft, die wie eine Wolke über dem Fluß hing.
Als er Trevor Simons’ Galerie erreichte, sah er Simons gerade aus der Tür kommen. Eilig überquerte er die Straße und berührte den Arm des Mannes, der mit dem Rücken zu ihm stand und sich am Türschloß zu schaffen machte.
»Mr. Simons. Haben Sie Schwierigkeiten mit Ihrem Schloß?«
Simons fuhr hoch und ließ den Schlüsselbund fallen, den er in der Hand gehalten hatte. »Du meine Güte, Superintendent, haben Sie mich erschreckt!« Er bückte sich, um die Schlüssel wieder aufzuheben, und fügte hinzu: »Ja, das Schloß klemmt ein bißchen, aber jetzt hab ich’s schon.«
»Sie gehen jetzt nach Hause?« erkundigte sich Kincaid freundlich und fragte sich dabei, ob zu Simons’ Heimweg ein Besuch bei Julia gehörte. Jetzt, da sie wieder in ihrer Wohnung ganz in der Nähe war, waren verstohlene Treffen in der Werkstatt hinter der Galerie nicht mehr notwendig.
Die Schlüssel in der einen Hand, eine Mappe in der anderen, stand Simons etwas verlegen da. »Ja, stimmt, ich wollte nach Hause. Wollten Sie zu mir?«
»Ich hab nur noch ein paar Fragen«, antwortete Kincaid. »Gehen wir doch rüber und trinken ein Glas zusammen.«
»Es wird doch nicht länger als eine halbe Stunde dauern?« Simons sah auf seine Uhr. »Wir gehen heute abend zum Essen aus. Meine Frau hat die Kinder bei Freunden untergebracht - wenn ich da zu spät komme, skalpiert sie mich.«
Kincaid beruhigte ihn. »Keine Sorge, ich verspreche, daß ich Sie nicht lange aufhalte.«
Im Angel war es voll, aber es ging gedämpft zu - die Gäste, stellte Kincaid sich umblickend fest, waren meist Berufstätige, die nach der Arbeit noch ein Bier tranken, ehe sie nach Hause fuhren.
»Nett hier«, sagte Kincaid, als sie es sich an einem Tisch bei einem der Fenster mit Blick auf den Fluß bequem gemacht hatten. »Prost. Ich muß gestehen, das hiesige Bier schmeckt mir.«
Während er trank, beobachtete er Simons neugierig. Er hatte etwas verlegen gewirkt, als er von seiner Verabredung zum Abendessen gesprochen hatte, doch Kincaid hatte nicht den Eindruck, daß es eine Lüge gewesen war. »Sie und Ihre Frau haben wohl einen romantischen Abend geplant?« sagte er, um ein wenig auf den Busch zu klopfen.
Simons wich seinem Blick aus, jetzt ganz offensichtlich verlegen. »Naja, Superintendent, Sie wissen ja, wie Frauen sind. Sie wäre sehr enttäuscht, wenn ich keinen Enthusiasmus zeigen würde.«
Ein Boot tuckerte langsam unter der Henley Bridge hindurch. Kincaid schob mit einem Finger nachdenklich seinen Bierdeckel hin und her, dann hob er den Kopf und sah Simons an. »Wissen Sie, daß Julia wieder in ihrer Wohnung ist?«
»Jaja, ich weiß. Sie hat mich gestern angerufen.« Ehe Kincaid darauf reagieren konnte, fügte Simons entschlossen hinzu: »Ich habe mir Ihren Rat zu Herzen genommen, Superintendent. Ich habe meiner Frau von - von der Geschichte mit Julia erzählt.« Simons’ schmales Gesicht wirkte erschöpft, und als er von seinem Whisky trank, zitterte seine Hand ein wenig.
»Und?« fragte Kincaid, als er nicht weitersprach.
»Sie war natürlich entsetzt. Und verletzt, wie Sie sich vorstellen können«, sagte Simons leise. »Ich glaube, dieser Schaden wird nicht leicht zu reparieren sein. Wir haben eine gute Ehe, sie ist wahrscheinlich besser als die meisten. Ich hätte niemals so achtlos damit umgehen sollen.«
»Das hört sich ja an, als hätten Sie nicht die Absicht, die Beziehung zu Julia fortzusetzen«, sagte Kincaid, der genau wußte, daß ihn das nichts anging und seine dienstliche Aufgabe keinerlei Rechtfertigung dafür war, die Grenzen des guten Geschmacks derart zu überschreiten.
Simons schüttelte den Kopf. »Nein, das ist unmöglich. Das kann ich nicht, wenn ich meine Ehe erhalten will. Ich habe es Julia schon gesagt.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
»Oh, sie wird nicht an gebrochenem Herzen sterben.« Simons lächelte mit einer Spur Selbstironie. »Ich war nie mehr als ein flüchtiges Abenteuer für Julia. Ich habe ihr wahrscheinlich die Mühe erspart, mir sagen zu müssen: >Tut mir leid, alter Freund, aber es war nur eine nette kleine Abwechslung<.«
Kincaid hatte den Eindruck, daß Simons genau wie Sharon Doyle froh war, mit einer neutralen Person sprechen zu können, und beschloß, seinen Vorteil zu nutzen. »Haben Sie sie geliebt?«
»Liebe? Ich weiß nicht, ob es möglich ist, Julia zu lieben, Mr. Kincaid. Ich bin seit fast zwanzig Jahren verheiratet - für mich bedeutet Liebe gestopfte Socken und >Wer ist denn heute damit dran, den Müll rauszutragen, Schatz?<.« Lächelnd trank er einen Schluck von seinem Whisky. »Das ist vielleicht nicht aufregend, aber man weiß, woran man ist ...« Er wurde plötzlich ernst. »Oder man sollte es wenigstens sein, wenn nicht einer von beiden sich wie ein Idiot benimmt. Ich war verliebt in Julia, fasziniert, verzaubert; aber ich weiß nicht, ob man ihr je nahe genug kommen könnte, um sie zu lieben.«
Es fiel Kincaid schwer, doch er wußte, daß er hier nachhaken mußte. Seine Stimme klang plötzlich hart. »Waren Sie verliebt genug, um für sie zu lügen? Hat sie die Galerie wirklich nicht verlassen, als die Party zu Ende war? Hat sie Ihnen nicht vielleicht gesagt, sie müsse noch einmal weg? Sie würde in ein oder zwei Stunden wieder da sein?«
Der freundlich humorvolle Ausdruck in Trevor Simons’ Gesicht erlosch. Er leerte sein Glas und stellte es dann langsam und mit Bedacht genau in die Mitte des Tischs. »Nein. Ich mag ein Ehebrecher sein, Superintendent, aber ich bin kein Lügner. Und wenn Sie glauben, Julia habe irgend etwas mit Connors Tod zu tun, kann ich Ihnen nur sagen, daß Sie sich auf dem Holzweg befinden. Sie war von dem Zeitpunkt an, als wir die Galerie schlossen, bis Tagesanbruch bei mir. Und da ich nun nichts mehr zu verlieren habe, da ich ja mit meiner Frau gesprochen habe, bin ich bereit, das auch vor Gericht auszusagen, wenn es sein muß.«