* Prolog

 

»Gib acht, daß du nicht ausrutschst!« Mit ängstlich besorgtem Gesicht strich Julia die feinen Strähnen dunklen Haars zurück, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. Die Luft war schwül und schwer, so dicht wie Watte. Feuchtigkeit glänzte auf ihrer Haut, und von den Bäumen tropfte es auf den durchnäßten Boden unter ihren Füßen. »Wir kommen bestimmt zu spät zum Tee, Matty. Und du weißt, was Vater sagt, wenn du nicht rechtzeitig zum Üben mit deinen Hausaufgaben fertig wirst.«

  »Ach, hör doch auf, Julia«, entgegnete Matthew, ein Jahr jünger als seine Schwester, blond und stämmig. Er hatte die schmale, dunkle Julia im Lauf des letzten Jahres körperlich überflügelt, und das hatte ihn noch selbstherrlicher gemacht. »Du bist eine richtige alte Glucke. >Matty, gib acht..., Matty, paß auf ...<«, äffte er sie spöttisch nach. »Als könnte ich mir noch nicht mal selbst die Nase putzen.« Die Arme in Schulterhöhe ausgebreitet, balancierte er auf einem umgefallenen Baumstamm am Ufer des angeschwollenen Bachs. Seine Schultasche lag achtlos hingeworfen im Schmutz.

  Die eigenen Bücher fest an ihre Brust gedrückt, wippte Julia ungeduldig auf den Fußballen. Geschieht ihm ganz recht, wenn Vater ihn ausschimpft. Aber das Gewitter, selbst wenn es heftig war, würde sich rasch verziehen und alles wieder seinen normalen Gang gehen - wobei >normal< bedeutete, daß sich alle benahmen, >als ginge mit Matthew die Sonne auf und unter<, wie Plummy zu sagen pflegte, wenn sie besonders verärgert über ihn war.

  Mit einer kleinen Grimasse stellte Julia sich vor, was Plummy sagen würde, wenn sie seine schmutzige Schultasche und die verdreckten Stiefel sah. Aber ganz gleich, ihm wurde immer alles verziehen; Matthew nämlich besaß eine Gabe, die ihre Eltern über alles schätzten. Er konnte singen.

  Er sang mühelos, leicht wie ein Hauch lösten sich die klaren reinen Soprantöne von seinen Lippen. Und beim Singen verwandelte er sich. Der tolpatschige Zwölfjährige mit den Zahnlücken schien sich zu verklären, wenn er sich voll ernster Anmut auf seinen Gesang konzentrierte. Sie pflegten sich nach dem Tee im Wohnzimmer zu versammeln, wo ihr Vater geduldig mit Matthew die Feinheiten der Bachkantate übte, die er zu Weihnachten mit dem Chor singen sollte, während ihre Mutter laut und häufig unterbrach, um Kritik oder Lob anzubringen. Julia schien es, als gehörten diese drei einer verzauberten kleinen Welt an, zu der ihr aufgrund eines Versehens bei ihrer Geburt oder einer unerklärlichen Laune Gottes der Zutritt auf immer verwehrt bleiben würde.

  Die Kinder hatten am Nachmittag ihren Bus verpaßt. Julia hatte in der Hoffnung auf ein Gespräch mit ihrer Zeichenlehrerin zu lange gewartet. Vollbeladen war der Bus an ihnen vorbeigerumpelt und hatte dunkle Schlammspritzer auf ihre Beine geschleudert. Sie mußten zu Fuß nach Hause gehen, und auf dem Weg quer über die Felder wurden ihre Schuhe so schwer vom Lehm, daß sie Mühe hatten, die Füße zu heben, und sie sich fühlten wie Besucher von einem leichteren Planeten. Als sie den Wald erreichten, faßte Matthew Julia bei der Hand und zog sie rutschend und schlitternd durch die Bäume den Hang hinunter zum Bach in der Nähe ihres Hauses.

  Fröstelnd blickte Julia auf. Der Tag hatte sich merklich verdunkelt, und sie fürchtete, auch wenn jetzt im November die Tage deutlich kürzer waren, das würde neuen Regen bedeuten. Seit Wochen gab es jeden Tag schwere Regenfälle. Scherze über die vierzig Tage und die vierzig Nächte hatten sich längst totgelaufen; jetzt folgte auf die Blicke zum düsteren Himmel nur noch schweigendes und resigniertes Kopfschütteln. Hier, in den Kreidehügeln nördlich der Themse, sickerte das Wasser unablässig aus dem durchtränkten Boden in die bereits überlasteten Flüsse und Bäche.

  Matty hatte seinen Seiltänzerakt auf dem umgestürzten Baumstamm beendet; er hockte jetzt am Bachufer und stocherte mit einem Stock im Wasser herum. Der Wasserlauf, bei normalem Wetter ein trockener Graben, war jetzt bis zu den Uferböschungen gefüllt, das brodelnde Wasser so trübe wie milchiger Tee.

  Julia, die immer ärgerlicher wurde, sagte: »Komm jetzt endlich, Matty. Bitte!« Ihr Magen knurrte. »Ich hab Hunger. Und kalt ist mir auch.« Sie drückte ihre Bücher fester an ihre Brust. »Wenn du nicht kommst, geh ich ohne dich.«

  »Schau mal, Julia!« Unbeeindruckt von ihrem Drängen, wies er mit dem Stock aufs Wasser. »Da hat sich was im Wasser verfangen, gleich unter der Oberfläche. Eine tote Katze vielleicht?« Er drehte sich nach ihr um und grinste.

  »Sei nicht so eklig, Matty.« Sie wußte, daß ihr pingeliger, scharfer Ton ihn in seiner Necklust nur bestärken würde, aber es war ihr inzwischen egal. »Ich geh wirklich ohne dich.« Als sie sich zornig abwandte, spürte sie, wie sich ihr Magen unwillig zusammenzog. »Ehrlich, Matty, ich hab keine Lust -« Das aufspritzende Wasser klatschte ihr an die Beine, gerade als sie herumwirbelte. »Matty! Sei nicht so -«

  Er war in den Bach gefallen, lag mit Armen und Beinen strampelnd rücklings im Wasser. »Das ist vielleicht kalt«, rief er mit verblüfftem Gesicht. Lachend robbte er auf das Ufer zu und schüttelte sich dabei das Wasser aus den Augen.

  Julia sah, wie sein Lachen erlosch. Wie seine Augen sich weiteten, sein Mund sich mit einem Ausdruck des Schreckens öffnete.

  »Matty -«

  Die Strömung erfaßte ihn und riß ihn fort. »Julia, ich kann nicht -« Wasser überschwemmte sein Gesicht und füllte seinen Mund.

  Stolpernd rannte sie am Ufer entlang und riefseinen Namen. Es begann zu regnen. Große Tropfen schlugen ihr ins Gesicht und nahmen ihr die Sicht. Sie blieb mit dem Fuß an einem Stein hängen und stürzte. Sie rappelte sich hoch und rannte weiter, den Schmerz an ihrem Schienbein kaum wahrnehmend.

  »Matty! Oh, Matty! Bitte!« Die immer selben Worte wurden zur Beschwörung. Durch das schlammige Wasser konnte sie das Blau seiner Schuluniform sehen und den hellen Fleck seines Haars.

  An der Stelle, wo der Bach breiter wurde und sich von ihr abwandte, fiel das Gelände jäh ab. Julia schlitterte den Hang hinunter und hielt an. Auf der anderen Seite hing eine alte Eiche über den Bach, ihre starken Wurzeln freigelegt vom Wasser, das das Ufer unterhöhlt hatte. Hier hing Matthew fest, unter den Wurzeln eingeklemmt wie von einer Riesenhand.

  »Oh, Matty!« schrie sie, lauter jetzt und voller Angst. Sie watete ins Wasser, und warmes, salziges Blut sickerte in ihren Mund, als sie sich die Unterlippe aufbiß. Die Kälte war ein Schock, betäubte ihre Beine. Sie zwang sich weiterzugehen. Das Wasser wirbelte um ihre Knie, riß an ihrem Rock. Es erreichte ihre Taille, dann ihre Brust. Sie schnappte nach Luft, als die Kälte sie einschloß. Ihre Lunge schien wie gelähmt von der Kälte, unfähig, sich auszudehnen.

  Die Strömung riß an ihr, zerrte an ihrem Rock, drohte ihre Füße von den bemoosten Steinen zu stoßen. Die Arme ausgebreitet, um die Balance zu halten, schob sie vorsichtig ihren rechten Fuß vorwärts. Nichts. Sie tastete nach der einen Seite, dann nach der anderen, auf der Suche nach Grund. Noch immer nichts.

  Kälte und Anstrengung raubten ihr schnell die Kraft. Sie atmete mit zitternden, keuchenden Stößen, und die Strömung schien fester zuzupacken. Sie blickte bachauf und bachab, sah keinen Weg, zur anderen Seite zu kommen. Aber das hätte sowieso nicht geholfen - von dem steilen Ufer aus hätte sie ihn niemals erreichen können.

  Sie begann leise zu jammern. Sie streckte ihre Arme nach Matty aus, aber er war viel zu weit weg, und sie hatte zu große Angst, um der Strömung zu trotzen. Hilfe. Sie mußte Hilfe holen.

  Sie spürte, wie das Wasser sie hochhob und vorwärtsriß, als sie sich herumdrehte, aber sie stolperte weiter, stemmte ihre Absätze und Zehen in die Steine, um Halt zu finden. Die Strömung ließ nach, und sie kletterte aus dem Wasser. Von einer Welle der Erschöpfung überschwemmt, blieb sie einen Moment am schlammigen Ufer stehen. Noch einmal sah sie zu Matty hinüber, sah seine Beine, die sich seitwärts in der Strömung drehten. Dann rannte sie los.

  Das Haus hob sich aus dem Dunkel der Bäume, seine weißen Kalksteinmauern schimmerten geisterhaft im frühen Zwielicht. Ohne zu überlegen rannte Julia an der Haustür vorbei, um das Haus herum, zur Küche, wo Wärme und Geborgenheit warteten. Keuchend vom steilen Anstieg den Hügel hinauf, rieb sie sich das Gesicht, das von Regen und Tränen naß war. Sie hörte ihren eigenen Atem, das Quietschen ihrer Schuhe bei jedem Schritt und spürte das Kratzen der dicken feuchten Wolle ihres Rocks an ihren Oberschenkeln.

  Sie riß die Tür zur Küche auf, stürzte hinein, blieb stehen. Wasser sammelte sich auf den Fliesen zu ihren Füßen. Plummy, die mit einem Holzlöffel in der Hand am Herd stand, das dunkle Haar zerzaust wie immer, wenn sie kochte, fuhr herum. »Julia! Wo seid ihr so lange geblieben? Was wird eure Mutter sagen -?« Sie brach plötzlich ab. »Julia, Kind, du blutest ja. Ist etwas passiert?« Sie warf den Holzlöffel weg und eilte voller Besorgnis auf Julia zu.

  Julia roch Apfel, Zimt, sah den Mehlfleck auf Plummys Busen, registrierte automatisch, daß Plummy dabei war, einen Apfelkuchen zu backen, Mattys Lieblingskuchen. Sie spürte, wie Plummy mit beiden Händen ihre Schultern umfaßte, sah durch Tränenschleier das gütige und vertraute Gesicht, das sich ihr näherte.

  »Julia, was ist passiert? Was ist los? Wo ist Matty?«

  Plummys Stimme klang atemlos vor plötzlicher Angst, doch immer noch stand Julia stumm und starr, mit zugeschnürter Kehle, unfähig, ein Wort hervorzubringen.

  Behutsam streichelte Plummy ihr Gesicht. »Julia. Was ist mit deiner Lippe? Was ist passiert?«

  Sie begann zu schluchzen, so heftig, daß es weh tat. Sie drückte ihre Arme fest auf ihre Brust, um den Schmerz zu lindern. Ein losgelöster Gedanke schoß ihr durch den Kopf - sie konnte sich nicht erinnern, ihre Bücher weggeworfen zu haben. Matty. Wo hatte Matty seine Bücher gelassen?

  »Schätzchen, sag es mir. Was ist passiert?«

  Sie lag jetzt in Plummys Armen, ihr Gesicht an der weichen Brust. Als wäre plötzlich ein Damm gebrochen, brachen die Worte aus ihr hervor. »Matty! Oh, Plummy, Matty ist in den Bach gefallen. Er ist ertrunken.«