* 3

 

Die Verletzung war ihm anzusehen gewesen. Gemma hatte es nicht erwartet, und beinahe hätte sie ihren Vorsatz darüber aufgegeben. In den paar Tagen, in denen sie sich bei ihrer Schwester versteckt und, während sie Toby beim Spiel mit seinen Vettern zusah, unablässig darüber nachgedacht hatte, was sie tun sollte, hatte sie es geschafft, sich einzureden, daß er froh sein würde, das Geschehene einfach ignorieren zu können; erleichtert, vielleicht sogar dankbar. Sie hatte deshalb eine kleine Rede vorbereitet, die ihm die Möglichkeit bot, sich mit Anstand aus der Affäre zu ziehen, und hatte sich die Szene so häufig vorgestellt, daß sie seine Antwort beinahe hören konnte. >Natürlich, Sie haben völlig recht, Gemma. Wir lassen einfach alles beim alten, ja?<

  Sie hätte aus Erfahrung wissen müssen, daß Duncan Kincaid niemals genau so reagiert, wie man es erwartete.

  Fröstelnd in der Kälte des Zimmers, schlug sie die Bettdecke zurück und legte ihr Nachthemd zurecht. Sie kramte in ihrer Reisetasche, bis sie ihre Toilettentasche gefunden hatte und wandte sich zur Tür. Aber sie fühlte eine plötzlich aufsteigende Schwäche, die sie zwang, sich aufs Bett zu setzen. Wie hatte sie, in den Tagen, die seit der Nacht in seiner Wohnung wie Ewigkeiten dahingekrochen waren, so töricht sein können zu glauben, sie wäre

imstande, sich mit sofortiger Immunität gegen seine Nähe zu wappnen? Beim ersten Wiedersehen hatte die Erinnerung sie wie eine Flutwelle überschwemmt und ihr Kraft und Atem geraubt. Um ein Haar wären die Mauern der Abwehr, die sie hochgezogen hatte, eingestürzt, und jetzt hatte sie Angst, ihm draußen im Korridor zu begegnen. Der Panzer war aufgeweicht - ein liebevolles Wort, eine zarte Berührung, und all ihre Entschlossenheit würde dahin sein.

  Aber sie mußte ins Bett, sonst würde sie morgen noch weniger fähig sein, sich der Situation zu stellen. Sie lauschte, aber sie hörte nichts, kein Knarren auf der Treppe, keinen Schritt im Korridor. Beruhigt eilte sie aus ihrem Zimmer und huschte den Flur hinunter zum Badezimmer.

  Als sie einige Minuten später wieder herauskam, wurde gerade die Tür des Zimmers gegenüber dem Bad geschlossen. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen, schalt sich albern und blöd, und erkannte dann, dank einem flüchtigen Blick, der sich ihr bot, ehe die Tür zufiel, daß die Person im anderen Zimmer nicht Kincaid war. Stirnrunzelnd versuchte sie, die Teile des kurz gesehenen Bildes zusammenzufügen - lockiges blondes Haar, das auf ein Paar überraschend männlicher Schultern herabfiel. Mit einem Achselzucken kehrte sie zu ihrem Zimmer zurück und schlüpfte mit einem Seufzer der Erleichterung hinein.

  Sie zog ihr warmes Nachthemd über und kroch unter die flauschige Steppdecke, und wenn unter ihrer Erleichterung ein Fünkchen Enttäuschung verborgen war, so vergrub sie es nur noch tiefer.

 

Der Anblick des Royal Surrey County Hospital war nicht geeignet, die Stimmung in dem kleinen Auto aufzuhellen. Gemma betrachtete das weitläufige Gebäude aus schmutzig braunem Backstein und fragte sich, wieso die Architekten gar nicht auf den Gedanken gekommen waren, daß gerade Kranke vielleicht ein wenig Frische und Freundlichkeit brauchten.

  »Ich weiß«, sagte Will Darling, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Es ist so ein richtiger scheußlicher Anstaltsbau. Aber es ist ein gutes Krankenhaus. Sie haben hier mehrere kleinere Krankenhäuser zusammengelegt, als es gebaut wurde, und es bietet so ziemlich alle therapeutischen Möglichkeiten, die man sich vorstellen kann.«

  Darling war im Pub angekommen, als Gemma und Kincaid gerade mit dem Frühstück fertig gewesen waren. Sie hatten in unbehaglichem Schweigen beieinander gesessen, bedient von einem gleichermaßen trübe gestimmten Brian Genovase.

  »Ich bin ein ziemlicher Morgenmuffel«, hatte er mit einem schwachen Lächeln gesagt, das nur ein Schatten seines gestrigen Lächelns war.

  Aber das Frühstück war gut gewesen - der Mann konnte kochen, auch wenn es um seine Stimmung nicht zum besten bestellt war -, und Gemma hatte sich gezwungen, etwas zu frühstücken, da sie wußte, daß sie eine ordentliche Unterlage brauchte, um über den Tag zu kommen.

  »Der Chief Inspector sollte eigentlich schon hier sein.« Darling blickte suchend über die Reihen geparkter Autos, als er den Wagen um das Gebäude herum nach hinten fuhr und in der Nähe der Tür zur Leichenhalle anhielt. »Er wird bestimmt gleich kommen.«

  »Danke, Will.« Kincaid, der hinten gesessen hatte, kroch aus dem kleinen Auto und streckte sich. »Wenigstens können wir den Blick genießen, während wir warten. Ganz im Gegensatz zu den Kunden hier.« Er wies mit dem Kopf zu der unauffälligen Glastür.

  Gemma, die ebenfalls ausgestiegen war, ging ein paar Schritte und sah sich die Umgebung an. Vielleicht war der Aufenthalt hier doch nicht so übel, wenn man von drinnen nach draußen schauen konnte. Das Krankenhaus stand auf der Höhe eines Hügels, der sich westlich von Guildford erhob und zu dessen Füßen sich die roten Backsteinhäuser in die Biegung des River Wey schmiegten. Vereinzelte Nebelschwaden hingen noch über dem Tal und dämpften die leuchtenden Herbstfarben der Bäume. Im Norden, höher noch als der Hügel, ragte der Turm der Kathedrale zum stumpfen grauen Himmel empor.

  »Die Kathedrale ist neu, wußten Sie das?« fragte Darling, der sich zu ihr gesellt hatte. »Der Bau wurde während des Krieges begonnen, und einundsechzig wurde die Kirche geweiht. Man hat nicht oft Gelegenheit, eine Kathedrale zu sehen, die während unserer Lebenszeit gebaut wurde.« Mit einem Blick auf Gemma meinte er lächelnd: »Naja, Sie waren sicher noch nicht auf der Welt, als sie gebaut wurde. Aber sie ist trotzdem schön und einen Besuch wert.«

  »Sie scheinen ja richtig stolz auf sie zu sein«, bemerkte Gemma. »Leben Sie schon immer hier?« Und mit einer Offenheit, zu der er zu ermutigen schien, fügte sie hinzu: »Und Sie können auch nicht alt genug sein, um den Bau miterlebt zu haben.«

  Mit einem leisen Lachen sagte er: »Da haben Sie mich ertappt. Ich bin am Tag der Einweihung zur Welt gekommen. Am siebzehnten Mai einundsechzig. Da hatte die Kathedrale natürlich immer eine besondere Bedeutung für uns -« Er brach ab, als ein Wagen neben dem ihren anhielt. »Ah, da ist ja der Chef.«

  Gemma, die plötzlich merkte, daß Kincaid die ganze Zeit still am Auto gestanden und ihrem Gespräch zugehört hatte, errötete vor Verlegenheit und wandte sich ab.

  Die wenigen Stunden Schlaf schienen Nick Deveney verjüngt zu haben. Munter sprang er aus dem verbeulten alten Vauxhall und eilte zu ihnen, um sich zu entschuldigen. »Tut mir leid. Ich wohne südlich von hier, in Godalming, und bin unterwegs im Stau steckengeblieben.« Er blies sich in die Hände. »In dem verdammten Ding ging die Heizung nicht.« Er wies zur Eingangstür. »Wollen wir mal sehen, was Dr. Ling heute morgen zu bieten hat?« Mit einem Lächeln zu Gemma fügte er hinzu: »Ganz abgesehen von ein bißchen Wärme.«

  Sie folgten Deveney durch das Labyrinth eintöniger weißer Korridore, alle menschenleer, bis sie zu einer zweiflügeligen Tür mit einem sehr amtlich aussehenden Schild kamen. >Kein Eintritt für Unbefugte - Bitte läuten<, stand darauf, doch die Tür war angelehnt, und Deveney stieß sie ohne weitere Umschweife auf. Ein Hauch von Formalin stieg Gemma in die Nase, und ein paar Schritte weiter hörte sie gedämpftes Gemurmel.

  Sie folgten der Stimme in den Obduktionssaal und fanden dort Kate Ling vor, die mit einer Agenda auf dem Schoß auf einem Hocker saß, neben sich einen großen Becher Kaffee.

  »Tut mir leid«, sagte sie, »meine Assistentin liegt mit Grippe im Bett, und ich hielt es für überflüssig, jemanden an der Tür Wache stehen zu lassen. Es ist ja nicht so, daß die Leute ums Verrecken hier herein wollen«, fügte sie hinzu und sah Deveney an, als wartete sie auf sein gequältes Stöhnen. Deveney schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf, ehe er sich nach den anderen umdrehte, die hinter ihm in den kleinen Raum drängten. »Wußten Sie, daß alle Pathologen eine Spezialprüfung ablegen müssen, um in den Orden des grausigen Wortspiels aufgenommen zu werden? Sonst dürfen sie nicht praktizieren. Dr. Ling ist Großmeisterin und stolz darauf.« Er und Kate Ling sahen einander lachend an.

  »Ich bin gerade mit meinen Aufzeichnungen zum äußeren Anschein fertig«, sagte Dr. Ling ernst werdend, kritzelte noch ein paar Worte und legte ihren Block dann zur Seite.

  »Irgendwas von Interesse?« fragte Deveney und blickte mit gerunzelter Stirn auf den Block hinunter, als wollte er das Geschriebene entziffern.

  »Die Leichenflecke entsprechen genau der Lage des Toten, ich würde deshalb sagen, daß er nicht verlagert wurde. Das haben wir natürlich nach den Blutspritzern schon erwartet, aber ich werde für Gründlichkeit bezahlt.« Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und sah sie über den Rand des Bechers mit einem leicht ironischen Lächeln an. »Wenn wir also den Abfall der Körpertemperatur aufgrund der Temperatur in der Küche des Hauses berechnen, können wir sagen, daß er zwischen sechs und sieben Uhr abends getötet wurde.«

  Dr. Ling drehte sich auf ihrem Hocker zu einem Arbeitstisch und nahm ein paar Gummihandschuhe. Während sie sie überstreifte, fügte sie nachdenklich hinzu: »Eines ist allerdings merkwürdig. Sein Hemd hatte an den Schultern ein paar winzige Risse. Nicht so groß, daß ich eine Vermutung darüber wagen konnte, wodurch sie entstanden sind und wieso.« Sie glitt vom Hocker, prüfte das Mikrofon, das über dem Obduktionstisch hing und hob dann den Deckel eines Instrumentenkastens aus rostfreiem Stahl, der auf einem Wagen neben ihr stand. »Also, können wir? Sie müssen einen Kittel und Handschuhe anziehen.« Sie betrachtete die kleine Gruppe skeptisch. »Sie stehen hier zusammengepfercht wie Sardinen in der Dose. Ich brauche ein bißchen Bewegungsfreiheit.«

  Will Darling tippte Gemma auf die Schulter. »Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war! Kommen Sie, Gemma, wir warten im Gang. Auf diesen Spaß kann ich gern verzichten.«

  Will nahm zwei Klappstühle aus einem Nebenzimmer mit, stellte sie vor dem Obduktionsraum auf und ließ Gemma einen Moment allein. »Ich seh mal, ob ich irgendwo eine Tasse Tee auftreiben kann«, rief er ihr über die Schulter zu, als er davonging.

  Gemma setzte sich, schloß die Augen und lehnte ihren Kopf an die Wand. Es ärgerte sie ein wenig, ausgeschlossen worden zu sein, aber gleichzeitig war sie froh, die Kraft, die die Teilnahme an einer Obduktion immer forderte, nicht aufbringen zu müssen. Mit halbem Ohr lauschte sie dem Stimmengemurmel und dem Klappern der Instrumente, stellte sich die methodische Erkundung von Alastair Gilberts totem Körper vor, während ihre Gedanken sich mit Will Darling beschäftigten.

  Er verfügte über eine ruhige Selbstsicherheit, die eigentlich gar nicht zu seinem Dienstgrad paßte, die dennoch nichts Aggressives hatte und nichts von dem Bestreben spüren ließ, den jeweiligen Vorgesetzten zu beeindrucken, wie sie es von sich und anderen kannte. Und er hatte etwas sehr Wohltuendes, vielleicht sogar Tröstliches in seiner Art; es war mehr als die Ungezwungenheit, die sein offenes, freundliches Gesicht versprach, aber sie konnte es nicht recht definieren. Sie machte die Augen auf, als er zurückkam und ihr einen dampfenden Pappbecher hinhielt. In Erwartung des typischen üblichen Anstaltsgebräus kostete sie den Tee und sah ihn erstaunt an. »Wo haben Sie denn den gefunden? Der schmeckt ja richtig gut.«

  »Mein Geheimnis«, antwortete Will und setzte sich neben sie.•

  Kate Lings Stimme drang klar und deutlich durch die offene Tür. »Aufgrund der Blutgeschwindigkeit und der äußeren Untersuchung der Kopfverletzungen sind wir natürlich ziemlich sicher, daß es sich um ein Trauma durch Einwirkung einer Stumpfen Waffe handelt, aber wir wollen doch mal sehen, was sich zeigt, wenn wir tiefer gehen.«

  In der Stille, die folgte, umschloß Gemma ihren heißen Becher mit beiden Händen und trank ab und zu einen Schluck Tee. Sie wußte, daß Dr. Lingjetzt Gilberts Kopfhaut von seinem Schädel entfernte und nach vorn über sein Gesicht klappte wie eine groteske Maske, aber diese Geschehnisse schienen weit entfernt, abgeschnitten von ihren Gefühlen, vom Druck der kalten Metallehne des Stuhls an ihrem Rücken, den vagen Formen und Gestalten, die sie an der getünchten Wand gegenüber wahrzunehmen glaubte.

  Die Lider wurden ihr schwer. Sie zwinkerte im Kampf gegen den Schlaf, der sich über sie senken wollte, aber die Lethargie, aus körperlicher Erschöpfung und seelischer Belastung geboren, überwältigte sie. Dr. Lings Worte klangen abgerissen durch den Nebel,der sie einhüllte. »... Schlag unmittelbar hinter dem rechten Ohr ... mehrere Schläge näher dem Scheitel ... alles leicht rechts ... nicht sicher sein ... auch Linkshänder ... mit der rechten Hand ausführen ...«

  Sie riß die Augen auf, als sie Wills Finger an ihrer Hand spürte. »Verzeihen Sie«, sagte er leise. »Ihr Becher hing ganz schief.«

  »Oh. Danke.« Sie umfaßte ihn fester und strengte sich an, wach zu bleiben und sich zu konzentrieren, aber die Stimme aus dem Obduktionsraum, so klar und präzise, begann von neuem, sie einzulullen. Als Will ihr ein paar Minuten später den Becher aus den Händen nahm, hatte sie nicht einmal die Kraft zu protestieren. Die Worte drangen jetzt mit einer Klarheit, einer beinahe körperlichen Präsenz auf sie ein und verdrängten alle anderen Reize.

  »... am wahrscheinlichsten, daß der Schlag hinter das Ohr der erste war. Er wurde von hinten geführt, und die anderen folgten, als der Mann stürzte. Ah - sehen Sie sich das an ... sehen Sie diese halbmondförmige Einkerbung im Knochen? Genau hier? Und hier? Wir wollen sie sicherheitshalber einmal abmessen, aber ich würde wetten, daß das der Abdruck eines ganz gewöhnlichen Hammers ist ... ganz typisch. Was Scheußliches, so ein Hammer. Ich werde nie den Fall vergessen, mit dem ich in London zu tun hatte ... eine alleinstehende alte Frau, die ihr ganzes Leben lang keiner Fliege etwas zuleide getan hatte, machte eines Tages ihre Wohnungstür auf, und so ein Kerl gab ihr mit einem Hammer eins über den Schädel, daß sie sofort tot war.«

  »Wurde er gefaßt?« Mit halbem Bewußtsein erkannte Gemma Deveneys Stimme.

  »Innerhalb einer Woche. Der Kerl war nicht allzu intelligent und hat sich in sämtlichen Pubs mit seiner Tat gebrüstet. - So, jetzt nehme ich noch ein paar Gewebeproben, Augenblick.«

  Gemma hörte eine Säge und nahm gleich darauf den ekelerregenden Geruch versengten Knochens wahr, aber sie schaffte es dennoch nicht, ganz wach zu werden.

  »... übrigens die Krankengeschichte des Commanders angesehen. Er hat regelmäßig ein gerinnungshemmendes Mittel eingenommen. Er hatte vor zwei Jahren eine Herzoperation. Mal sehen, wie gut das gehalten hat.«

  In der nachfolgenden Stille sank Gemma noch tiefer. Wortfetzen wie »verstopfte Arterien« und »Plaqueablagerungen« hatten keine Bedeutung mehr, und schließlich war alles um sie herum ausgelöscht.

  Als Will sie mit einem geflüsterten »Sie sind jetzt gleich fertig, Gemma«, weckte, fuhr sie mit einem unterdrückten Schrei aus dem Schlaf. Sie hatte geträumt, Kincaid stünde mit einem übermütigen Lächeln vor ihr, und in der Hand hielt er einen Hammer voll mit Blut.

 

Zum erstenmal sah Gemma Holmbury St. Mary bei Tag. Das Pub blickte auf das wie abgezirkelt wirkende Dreieck des Dorfangers, rechts von ihm war die schmale Straße mit dem Haus der Gilberts, links von ihm stand die Kirche. Auf der anderen Seite des Angers waren hinter Bäumen ein paar Dächer und rotgeschindelte Giebel zu sehen.

  Deveney war zur Dienststelle Guildford zurückgefahren, um die eingehenden Berichte durchzusehen, und hatte Will Darling abgeordnet, Gemma und Kincaid zu den Gilberts zu fahren.

  »Wir treffen uns dort in einer Stunde, dann können wir sehen, was wir haben«, hatte er gesagt, ehe er mit übertriebenem Schaudern in seinen Wagen gestiegen war. »Sieht ganz so aus, als werde ich das verdammte Ding in nächster Zeit nicht in die Werkstatt geben können.«

  Will stellte den Wagen hinter dem Pub ab, und sie gingen zu Fuß zum Haus. Die dichte Hecke wuchs über dem geschwungenen schmiedeeisernen Tor beinahe zusammen, und darüber war nur das obere Stockwerk des Hauses zu sehen, schwarze Balken in weiß umrandetem roten Backstein, teilweise von Efeu überwuchert.

  »Eine Vorortfestung«, bemerkte Kincaid leise, als Will dem uniformierten Beamten, der am Tor Wache stand, zunickte. »Und sie hat ihn nicht geschützt.«

  »Irgendwelche Neugierigen?« fragte Will den Constable.

  »Ich hab’ ein paar Nachbarn durchgelassen, die ihre Hilfe anbieten wollten, aber das war alles.«

  »Keine Presse?«

  »Ein paar Schnüffler, weiter nichts.«

  »Na, dann wird’s nicht mehr lang dauern«, meinte Will, und der Constable stimmte resigniert zu.

  »Ich hoffe, Claire Gilbert und ihre Tochter sind auf eine Belagerung vorbereitet«, sagte Kincaid, als sie den Weg entlanggingen, der hinter das Haus führte. »Die Medien werden sich das nicht entgehen lassen.«

  An der Hintertür zögerte Kincaid. »Gemma«, sagte er, »gehen Sie doch mit Will hinein und lassen Sie sich von Mrs. Gilbert genau erzählen, was sie gestern nachmittag getan hat, damit wir das überprüfen können. Ich komme gleich nach.«

  Gemma wollte protestieren, aber er hatte sich schon abgewandt. Einen Moment noch sah sie ihm nach, als er durch den Garten zum Hundezwinger ging, dann drehte sie sich herum und öffnete ein wenig energischer als notwendig die Tür zum Küchenvorraum.

  Der weißgeflieste Boden der Küche blitzte vor Sauberkeit, nirgends ein Spritzer, nirgends ein Fleck. Da hatte jemand gründlich saubergemacht. Gemma warf Will einen fragenden Blick zu; sie erinnerte sich, daß er unter irgend einem Vorwand zurückgeblieben war, als sie in der vergangenen Nacht zum Pub abgefahren waren; aber er antwortete ihr nur mit einem Unschuldslächeln.

  Ein Mann von der Spurensicherung war immer noch damit beschäftigt, Schranktüren und Arbeitsplatten einzupudern, aber abgesehen davon wirkte die Küche ganz alltäglich, ein ganz normaler Raum an einem ganz normalen Tag, der auf den Duft von Toast und Kaffee und schlaftrunkene Frühstücksgäste zu warten schien. Auf dem Tisch vor dem Gartenfenster lagen ein buntes Tischset und eine Serviette und daneben die Times. Es war die Zeitung vom vergangenen Tag, wie Gemma entdeckte, als sie einen Blick darauf warf, doch sie konnte sich nicht erinnern, sie am Abend gesehen zu haben - sie konnte sich kaum daran erinnern, die Frühstücksnische überhaupt wahrgenommen zu haben. So geht das nicht, sagte sie sich und unterbrach Wills leises Gespräch mit dem Spurensicherungs-mann in schärferem Ton als sie beabsichtigt hatte.

  »Mrs. Gilbert hat sich eine Tasse Tee gemacht und gesagt, daß sie im Wintergarten ist, wenn jemand nach ihr fragen sollte«, antwortete der Beamte von der Spurensicherung auf Gemmas Frage und machte sich wieder an seine Arbeit.

  Gemma erinnerte sich des verglasten Anbaus, den sie vom Garten aus gesehen hatte, und ging Will voraus durch die Küche und dann rechts den Gang hinunter. Sie klopfte leicht an die Tür am Ende des Flurs, und als von drinnen keine Erwiderung kam, machte sie auf und warf einen Blick in den Raum dahinter.

  Die verschwenderische Fülle von Grünpflanzen verlieh dem Raum die Atmosphäre, die man in einem Wintergarten erwartete, doch es war ein bewohnter Raum, der offensichtlich viel benutzt wurde. Zwischen zwei bequemen kleinen Sofas stand ein niedriger Tisch, der mit Büchern und Zeitungen beladen war. Vom Rücken des Sofas hing eine Wolldecke herab, und auf einem Beistelltisch lag eine Lesebrille. Unter dem anderen Sofa stand ein Paar Doc Martens, das erste Anzeichen, das Gemma bisher dafür gesehen hatte, daß Lucy Penmaric in diesem Haus lebte.

  Claire Gilbert saß, die Beine hochgezogen, in dem Sofa, das mit dem Rücken zur Tür stand. Auf dem Schoß hatte sie einen Schreibblock, doch ihr Blick ruhte nicht auf dem Papier, sondern war in den Garten gerichtet, und selbst als Will und Gemma eintraten, rührte sie sich nicht.

  »Mrs. Gilbert?« sagte Gemma leise, und Claire Gilbert fuhr ein wenig zusammen, ehe sie den Kopf drehte.

  »Oh, entschuldigen Sie! Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders.« Sie wies auf den Block auf ihrem Schoß. »Es gibt so vieles zu erledigen. Ich wollte mir eine Liste machen, aber ich kann mich einfach nicht konzentrieren.«

  »Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Gemma und verfluchte Kincaid im stillen dafür, daß er ihr diese Aufgabe aufgebürdet hatte.

  »Bitte, setzen Sie sich doch.« Claire Gilbert schob ihre Füße in ihre Schuhe und strich glättend über ihren Rock.

  »Sie sehen ein bißchen besser aus heute morgen«, bemerkte Will, als er sich auf dem Sofa ihr gegenüber niederließ. »Haben Sie doch etwas schlafen können?«

  »Ja, ich hatte es nicht für möglich gehalten, aber ich habe tatsächlich geschlafen. Der Körper verlangt eben einfach sein Recht.« Sie sah in der Tat besser aus, nicht mehr so spitz und zerbrechlich, und ihre Haut war selbst im gnadenlosen klaren Morgenlicht so glatt und fein wie Porzellan.

  »Und wie geht es Lucy?« fragte er, während Gemma, die sich neben ihn gesetzt hatte, ihr Heft herauszog.

  Claire Gilbert lächelte. »Als ich heute morgen nach ihr gesehen habe, lag der Hund wohlig ausgestreckt auf ihrem Bett. Sie hat sich nicht einmal gerührt, als ich ihn mit hinausgenommen habe. Ich habe aber auch gestern abend nicht lockergelassen, bis sie ein Beruhigungsmittel genommen hatte. Sie kann so störrisch sein wie ein Esel, auch wenn man ihr das gar nicht ansieht, und kann es nicht zugeben, wenn sie am Ende ihrer Kräfte ist.«

  »Ein bißchen wie die Mama, nicht wahr?« meinte Will mit feiner Vertraulichkeit, die Gemma, eingeschüchtert durch Claire Gilberts ziemlich förmliches Verhalten, niemals gewagt hätte. Sie erinnerte sich an Claire Gilberts Beunruhigung am vergangenen Abend, als sie bemerkt hatte, daß Will das Zimmer verlassen hatte, und staunte über seine Fähigkeit, in so kurzer Zeit eine solche Beziehung zu schaffen.

  Claire Gilbert lächelte. »Vielleicht haben Sie recht. So zielstrebig wie Lucy war ich allerdings nie. Ich habe mich irgendwie durch die Schule geschwindelt, obwohl ich es sicher besser hätte machen können, wenn ich gewußt hätte, was ich will. Puppen und Mutter und Vater ...« fügte sie leise hinzu und blickte wieder in den Garten hinaus.

  »Bitte?« sagte Gemma, die nicht wußte, ob sie richtig gehört hatte. Claire Gilbert sah sie mit einem entschuldigenden Lächeln an. »Ich war eines von den kleinen Mädchen, die am liebsten mit ihren Puppen Vater und Mutter spielten«, erklärte sie. »Ich war immer überzeugt, Ehe und Familie seien das einzig Wichtige im Leben, und meine Eltern, besonders meine Mutter, haben mich darin bestärkt. Aber Lucy - Lucy wollte immer schon Schriftstellerin werden, seit sie sechs Jahre alt war. Sie hat sich in der Schule immer große Mühe gegeben, und jetzt bereitet sie sich auf die Vorprüfungen für den Abschluß vor, die im Frühjahr abgehalten werden.«

  Will beugte sich vor, und Gemma bemerkte beiläufig, daß der Tweed seines Jacketts an den Ellbogen fast durch war. »Geht sie auf die Gesamtschule hier im Ort?« fragte er.

  »O nein«, antwortete Claire Gilbert rasch, schien dann jedoch einen Moment zu zögern. »Sie geht auf die Duke of York Schule, das ist ein Internat, das sie als externe Schülerin besucht. Ich muß heute noch irgendwann den Direktor anrufen und ihm erklären, was passiert ist.« Bei dem Gedanken schien tiefe Erschöpfung sie zu erfassen. Ihre Lippen zitterten, und flüchtig drückte sie eine Hand auf ihren Mund. »Ich bilde mir ein, ich schaffe das alles ganz gut, bis ich irgend jemandem Bescheid sagen muß. Dann ...«

  »Gibt es denn niemanden, der diese Anrufe für Sie erledigen kann?« fragte Gemma.

  »Nein.« Claire Gilbert straffte die Schultern. »Lucy will ich das nicht aufbürden. Die Situation ist für sie auch so schwierig genug. Und sonst gibt es niemanden. Alastair und ich waren beide Einzelkinder. Meine Eltern sind tot, und der Vater meines Mannes ebenfalls. Bei seiner Mutter war ich schon, ich bin gleich heute morgen hingefahren. Sie ist in einem Pflegeheim in der Nähe von Dorking.«

  Gemma war voller Teilnahme. Es war sicher nicht leicht gewesen, einer alten Frau sagen zu müssen, daß ihr einziger Sohn ermordet worden war, und doch hatte Claire Gilbert sofort das Notwendige getan, und ganz allein. »Das tut mir leid. Das muß sehr schwer gewesen sein für Sie.«

  Claire Gilbert starrte wieder zum Fenster hinaus. Im Widerschein des Lichts zogen sich ihre Pupillen zu kleinen Punkten zusammen, und die Iris ihrer Augen bekam einen goldenen Glanz wie die einer Katze. »Sie ist fünfundachtzig und körperlich schon recht gebrechlich, aber geistig ist sie hellwach. Mein Mann war immer sehr gut zu ihr.«

  In der Stille, die folgte, hörten sie Lewis blaffen, kurz und freudig, und danach erscholl ein freundlich gutmütiger Zuruf von Kincaid. Claire Gilbert fuhr ein wenig zusammen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, den Blick wieder auf Gemma und Will richtend. »Wo waren wir?«

  »Vielleicht könnten Sie uns noch einmal erzählen, wie Sie den gestrigen Nachmittag und Abend verbracht haben«, meinte Gemma und schraubte ihren Füller auf. Sie wartete, doch Claire Gilbert schien verwirrt.

  »Entschuldigen Sie«, sagte sie wieder. »Ich verstehe Sie nicht ganz.«

  »Sie sagten, Sie und Lucy seien beim Einkaufen gewesen«, erinnerte Gemma. »Wo genau waren Sie da?«

  »Aber was spielt denn das ...« Claire Gilberts Protest erstarb, als sie Will ansah.

  Er schüttelte leicht den Kopf. »Woher sollen wir in diesem Stadium wissen, was wichtig ist und was nicht? Eine Kleinigkeit, irgend etwas, das jemand gesagt hat, irgend etwas, was Sie gesehen haben, könnte das Verbindungsglied sein, das alles zusammenhält. Haben Sie also bitte Geduld mit uns.«

  Nach einem kurzen Schweigen sagte Claire Gilbert: »Na schön, ich will es versuchen.« Sie lehnte sich im Sofa zurück. »Wir sind ungefähr um halb fünf zu Hause weggegangen und nach Guildford gefahren. Lucy ist gefahren - sie hat erst seit ein paar Monaten den Führerschein und möchte natürlich jede Gelegenheit zum Üben nutzen. Wir haben den Wagen auf dem Parkplatz in der Bedford Road stehengelassen und sind über die Fußgängerbrücke ins Friary gegangen.«

  »Das ist ein Einkaufszentrum«, erklärte Will Gemma. »Sehr edel.«

  Claire Gilbert lächelte ein wenig über Wills Beschreibung. »Ja, das ist wahrscheinlich richtig, aber ich muß zugeben, daß es mir gefällt. Es hat seine Vorteile, im Trocknen bummeln zu können.« Ihr Lächeln erlosch, als sie in ihrem Bericht fortfuhr. »Lucy wollte sich bei Waterstone ein Buch besorgen - ich glaube, irgend was von Hardy, für ihre Prüfung. Danach ...«. Sie rieb sich die Stirn und blickte einen Moment zum Fenster hinaus. Gemma und Will warteten geduldig, bis sie mit einem leichten Seufzen den Faden wiederaufnahm. »Wir haben in einem Fachgeschäft Kaffee gekauft, dann bei C & A ein Duschgel. Danach sind wir eine Weile herumgebummelt und haben uns dann ins Restaurant im Innenhof gesetzt, um Tee zu trinken. Mir fällt jetzt einfach der Name des Restaurants nicht ein. Es ist absurd. Ich habe richtige Gedächtnislücken. Die alltäglichsten Dinge fallen mir plötzlich nicht mehr ein. Ich weiß noch, als ...« Claire Gilbert hielt abrupt inne und schüttelte heftig den Kopf. »Das gehört nicht hierher. Das spielt jetzt keine Rolle. Vom Einkaufszentrum aus sind Lucy und ich zur High Street gegangen und haben bei Sainsbury’s ein paar Sachen für das Abendessen eingekauft. Als wir alles hatten und nach Hause gefahren sind, war es fast halb acht.«

  Gemma schrieb eilig, bis sie alles auf dem Papier hatte, aber ehe sie eine Frage stellen konnte, begann Claire Gilbert wieder zu sprechen. »Muß ich ... das, was dann kam ... muß ich das noch einmal wiederholen?« Sie hob die Hand zum Hals, und Gemma sah das leichte Zittern ihrer Finger. Sie hatte kleine, feingliedrige Hände, schlanke Finger, deren Nägel sehr kurz waren.

  »Nein, Mrs. Gilbert, im Moment nicht«, antwortete Gemma ein wenig zerstreut, während sie in ihren Aufzeichnungen zurückblätterte. Als sie zum Beginn des Gesprächs kam, hielt sie inne und sah Claire Gilbert an. »Aber berichten Sie uns über den früheren Teil des Nachmittags. Sie haben uns nicht gesagt, was Sie getan haben, bevor Sie nach Guildford gefahren sind.«

  »Ich war arbeiten«, sagte Claire Gilbert mit einem Anflug von Ungeduld. »Ich war gerade erst ein paar Minuten zu Hause, als Lucy von der Schule kam - o Gott!« Sie schlug eine Hand auf ihren Mund. »Ich habe Malcolm noch gar nicht angerufen! Wie konnte ich das nur vergessen?«

  »Malcolm?« Will zog eine Augenbraue hoch.

  »Malcolm Reid.« Claire Gilbert stand auf und trat zum Fenster. Dort blieb sie stehen, ihnen den Rücken zugewandt. »Es ist sein Geschäft - seine Firma - und ich arbeite in dem Geschäft. Aber ich mache auch Beratungen.«

  Gemma drehte sich auf dem Sofa und musterte mit zusammengekniffenen Augen Claire Gilberts vom Licht umflossene Silhouette. »Beratungen?« Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, daß Claire Gilbert berufstätig sein könnte; hatte sie automatisch in die Kategorie der verwöhnten Hausfrau eingereiht, deren anstrengendste Pflicht darin bestand, an den Treffen des Frauenvereins zur Förderung von Kunst und Kultur in ländlichen Gegenden teilzunehmen. Jetzt machte sie sich Vorwürfe wegen ihrer Nachlässigkeit. Vorgefaßte Meinungen waren bei der Ermittlungsarbeit gefährlich - und ein Zeichen dafür, daß sie mit ihren Gedanken nicht bei ihrer Arbeit war.

  »Was ist das für eine Firma?« fragte sie, fest entschlossen, Claire Gilbert ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen.

  »Innenausstattung. Das Geschäft ist in Shere - es heißt Küchenkonzepte, aber wir beschränken uns nicht nur auf Kücheneinrichtungen.« Claire Gilbert sah auf ihre Uhr und runzelte die Stirn. »Es ist erst kurz vor neun - Malcolm wird mich noch nicht vermißt haben.« Ihr glattes helles Haar glänzte im Licht auf, als sie den Kopf schüttelte, und als sie sprach, schwankte ihre Stimme zum erstenmal. »Ich habe von dem Moment an, als ich heute morgen aufgewacht bin, nur daran gedacht, daß ich Gwen Bescheid sagen muß, und als ich das geschafft hatte - was bin ich doch für ein Dussel...« Sie brach ab und lachte plötzlich. »Gott, wann hat man diesen Ausdruck das letztemal gehört? Meine Mutter hat ihn immer gebraucht.« Ihr Lachen brach unvermittelt ab, und sie räusperte sich.

  Will hatte Claire Gilberts Flucht zum Fenster genutzt, um aufzustehen und sich im Wintergarten umzusehen. Er war zu einer Kommode hinübergegangen, die an der hinteren Wand stand, und betrachtete eine Sammlung von Muscheln. »Sie dürfen nicht zu hart zu sich selbst sein«, sagte er, sich nach Claire Gilbert umdrehend. »Sie können nach diesem Schock nicht von sich verlangen, einfach so weiterzumachen, als wäre nichts geschehen.«

  »Das sind Lucys.« Claire Gilbert trat neben ihn und nahm eine kleine grün-rot gefleckte Muschel. Sie drehte sie langsam in ihren Händen. »Sie hatte als Kind ein Buch über das Meer, das sie sehr geliebt hat, und seitdem sammelt sie Muscheln.« Sie legte die Muschel wieder an ihren Platz und schüttelte den Kopf, als wollte sie ihn freimachen. »Ich denke ständig, daß mein Mann von mir erwarten würde, daß ich vernünftig mit der Situation umgehe, und dann fällt mir ein ...« Ihre Stimme verklang. Den Blick auf die Muscheln gerichtet, stand sie mit schlaff herabhängenden Armen vor der Kommode. Dann schien sie sich mit aller Kraft zusammenzunehmen, drehte sich herum und lächelte. »Ich sollte Malcolm anrufen. Der Laden macht um halb zehn auf, und ich möchte nicht, daß er es von Fremden erfährt.«

  Gemma gab nach. »Ich danke Ihnen,Mrs. Gilbert.« Sie schob ihr Heft in ihre Tasche und stand auf. »Sie haben uns sehr geholfen. Wir brauchen Sie jetzt nicht weiter zu stören.« Die Standardwendungen flossen ihr ganz von selbst über die Lippen, während sie sich im stillen aufgebracht fragte, wo eigentlich Kincaid geblieben war und was er die ganze Zeit im Garten zu suchen hatte. Claire Gilbert begleitete sie zur Tür, und als Gemma in den Flur hinaustrat, blieb Will stehen und machte eine leise Bemerkung zu Claire Gilbert, die Gemma nicht mitbekam.

  Der Mann von der Spurensicherung hatte seine Sachen gepackt und war gegangen. Nur das Puder, das er überall in der Küche zurückgelassen hatte, verdarb den Eindruck, daß das Leben im Haus der Gilberts ab sofort wieder seinen normalen Gang gehen würde. Das Licht, das durch das Erkerfenster fiel, war kräftiger geworden, glitzernd tanzten die Staubkörnchen in seinem Strahl. Gemma trat zum Fenster und sah in den Garten hinaus - von Kincaid war keine Spur zu sehen.

  »Und was jetzt?« fragte Will, als er aus dem Flur hereinkam. »Wo ist denn unser Chef abgeblieben?«

  Gemma war heilfroh, daß sie die bissige Antwort, die ihr auf der Zunge lag, zurückgehalten hatte; genau in diesem Augenblick nämlich kam Kincaid durch die Hintertür und fragte mit strahlendem Lächeln: »Warten Sie auf mich? Tut mir leid. Ich hab’ mich im Geräteschuppen verfranzt.« Er wischte sich einen Schmutzfleck von der Stirn und versuchte ohne viel Erfolg, die Spinnweben von seinem Jackett zu entfernen. »Wie haben Sie . . .«

  »Hat der Hund Ihnen geholfen?« unterbrach Gemma und wünschte sofort, als sie den ätzenden Sarkasmus in ihrer Stimme hörte, sie könnte die Worte ungesagt machen. Beschämt setzte sie zu einer Entschuldigung, einer Erklärung an, als sie plötzlich den Hammer sah, den er in der linken Hand hielt.

  Die Tür zum Korridor flog auf, und Claire Gilbert kam wie von Furien gehetzt in die Küche gelaufen. »Malcolm hat mir eben gesagt, daß sich schon alles herumgesprochen hat«, sagte sie atemlos und blickte verzweifelt von einem zum anderen. »Die Leute reden, und Reporter waren auch schon im Laden. Sie sind auf dem Weg hierher. Die Reporter kommen hierher ...« Ihr Blick flog zu Kincaid, ihr vor Erregung gerötetes Gesicht wurde plötzlich leichenblaß, und sie brach zusammen.