* 9

 

Das Geäst der alten Bäume wölbte sich über ihr, die Zweige griffen ineinander wie zusammengeschobene Finger, der Tunnel wurde immer enger - Gemma blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte laut: »Dumme Gans!« Der Klang ihrer Stimme hallte einen Moment nach, dann war es wieder ganz still im Auto, bis auf das gelegentliche durchdringende Quietschen, wenn Zweige und Wurzelwerk, die sich aus den Böschungen streckten, die Fenster streiften. Das Geräusch erinnerte sie an Fingernägel auf einer Schiefertafel.

  London und Tommy Godwins geschliffene Höflichkeit schienen Welten entfernt, und einen Moment lang wünschte sie, sie hätte darauf bestanden, Kincaid zu der Autopsie zu begleiten. Er hatte ihr im Yard eine Nachricht hinterlassen, eine Zusammenfassung der ziemlich nichtssagenden Ergebnisse.

  Sie schaltete in den zweiten Gang hinunter, als die Steigung steiler wurde. Als sie das erste Mal diesen Weg gefahren war, hatte Kincaid sie begleitet, und seine Anwesenheit hatte klau-strophobischen Gefühlen vorgebeugt. Das ist doch wirklich lächerlich, schalt sie sich selbst. Nichts weiter als eine schmale Landstraße. Zum Teil rührte ihr Unbehagen sicherlich daher, daß ihr als geborene Londonerin das Land fremd war.

  Dennoch war sie erleichtert, als sie endlich die Abzweigung zum Haus der Ashertons sah. Keine zwei Minuten später hielt sie in der Lichtung vor dem Haus. Sie stieg aus und blieb einen Moment stehen. Der modrige Geruch faulender Blätter, Essenz des Herbstes, stieg ihr in die Nase.

  In der Stille hörte sie das gleiche merkwürdige Sirren, das ihr und Kincaid zuvor schon aufgefallen war. Auf der Suche nach Stromleitungen blickte sie in die Höhe, sah aber nur herbstliches Laub und ein Fleckchen grauen Himmels. Vielleicht kam das Geräusch von einem Generator oder Transformator, oder - sie lächelte erheitert - von einem UFO. Mal sehen, wie Kincaid reagierte, wenn sie damit herausrückte.

  Immer noch leicht belustigt, ging sie zur Haustür und läutete. Wie zuvor öffnete ihr Vivian Plumley, diesmal jedoch lächelte sie, als sie Gemma erkannte. »Sergeant! Bitte, kommen Sie doch herein.«

  »Ich hätte gern Dame Caroline gesprochen, Mrs. Plumley«, erklärte Gemma, als sie in das geflieste Vestibül trat. »Ist sie zu Hause?«

  »Ja, aber sie gibt gerade Unterricht.«

  Gemma hörte, wie das Klavier einsetzte und gleich darauf eine helle Sopranstimme leicht und trällernd der vorgegebenen Melodie folgte. Unvermittelt brach der Gesang ab, sie hörte jemanden sprechen, dann wiederholte eine zweite Stimme die Melodie. Sie war dunkler und reifer als die erste und besaß ein ganz eigenes Timbre. Selbst durch die geschlossene Tür erkannte Gemma sie sofort. »Das ist Dame Caroline.«

  Vivian Plumley warf ihr einen aufmerksamen Blick zu. »Sie haben ein gutes Ohr, Sergeant. Wo haben Sie sie gehört?«

  »Auf einer Kassette«, antwortete Gemma kurz, nicht bereit, ihr starkes Interesse einzugestehen.

  Vivian sah auf ihre Uhr. »Kommen Sie und trinken Sie eine Tasse Tee. Die Stunde ist bald zu Ende.«

  »Was singen sie?« fragte Gemma, als sie Vivian durch den Flur folgte.

  »Rossini. Eine von Rosinas Arien aus dem Barbier von Sevilla. Gott sei Dank auf italienisch.« Sie warf Gemma über ihre Schulter hinweg einen lächelnden Blick zu, als sie die Tür zur Küche aufstieß. »In diesem Haus allerdings ist es nicht unbedingt politisch korrekt, das zu sagen.«

  »Wegen der Auffassung, die man an der National Opera vertritt?«

  »Genau. Sir Gerald stimmt absolut mit ihrer Position überein. Ich glaube, Caro hat immer lieber in der Originalsprache gesungen, aber sie hält mit ihrer Ansicht zurück.« Vivian lächelte wieder, mit liebevoller Nachsicht. Diese Meinungsverschiedenheit hatte offensichtlich lange Tradition in der Familie.

  »Irgend etwas riecht hier köstlich«, bemerkte Gemma schnuppernd und sah sich um. Neben dem roten Herd lagen zum Abkühlen zwei braune Brotlaibe.

  »Ich hab das Brot gerade aus dem Rohr geholt«, sagte Vivian, während sie Becher und eine Keramikteekanne auf ein Tablett stellte. Auf dem Herd stand leise dampfend ein Kupferkessel.

  »Sie nehmen keinen elektrischen Wasserkochtopf?« erkundigte sich Gemma neugierig.

  »Ich gehöre wahrscheinlich zu den Dinosauriern. Für diesen ganzen modernen Schnickschnack hab ich nichts übrig.« Sie drehte sich nach Gemma um und fragte: »Sie essen doch etwas frisches Brot? Es ist ja bald Teezeit.«

  »Ich habe etwas zu Mittag gegessen, bevor ich aus London weggefahren bin«, antwortete Gemma und dachte an die fetttriefenden Würstchen, die sie sich nach dem Gespräch mit Tommy Godwin in der Kantine des Yard genehmigt hatte. »Aber doch, ich nehme eine Scheibe. Vielen Dank.« Sie trat näher, als Vivian das Brot aufzuschneiden begann. »Vollkorn?«

  »Ja. Mögen Sie das?« Vivian war sichtlich erfreut. »Das ist gewissermaßen mein Markenzeichen und meine Therapie. Man muß es zweimal mit der Hand richtig durchkneten und dann dreimal gehenlassen, aber im Rohr geht es dann auf wie ein Traum.« Sie warf Gemma einen heiteren Blick zu. »Wenn man sich beim Kneten so richtig ins Zeug legt, verschwinden alle Frustrationen.«

  Als sie sich an den großen Eichentisch setzten, sagte Gemma: »Ich bin in einer Bäckerei großgeworden. Meine Eltern haben einen kleinen Laden in Leyton. Das meiste wird natürlich maschinell gemacht, aber meine Mutter hat uns fast immer beim Kneten und Backen helfen lassen, wenn wir wollten.«

  »Ich kann mir vorstellen, daß das Spaß gemacht hat«, meinte Vivian, während sie Gemma Tee einschenkte.

  Eine blumige Duftwolke stieg zu Gemma auf. »Earl Grey?«

  »Ich hoffe, Sie mögen ihn. Ich hätte Sie fragen sollen. Das ist die Gewohnheit - ich trinke nämlich nachmittags immer Earl Grey.«

  »Doch, ich mag ihn, vielen Dank«, versicherte Gemma brav. Wenn ich schon eine Gewohnheit daraus mache, mich in solchen Häusern zum Tee einladen zu lassen, dachte sie, muß ich eben verdammt noch mal lernen, Earl Grey zu mögen.

  Sie aß ihr Butterbrot mit stillem Genuß und tupfte die letzten Krümel noch mit der Fingerspitze vom Teller. »Mrs. Plumley -«

  »Alle nennen mich Plummy«, unterbrach Vivian einladend. »Die Kinder haben damit angefangen, und der Name ist mir geblieben. Inzwischen gefällt er mir sogar.«

  »Also gut dann, Plummy.« Gemma fand, daß der Name zu ihr paßte. Selbst in dem orangefarbenen Jogginganzug, den sie anhatte, hatte Vivian Plumley etwas altmodisch Gemütliches an sich.

  Schweigend saßen sie beieinander und tranken ihren Tee, und in der entspannten, beinahe schläfrigen Atmosphäre kamen Gemma die Fragen so leicht über die Lippen, als spreche sie mit einer Freundin. »Fanden Sie es nicht merkwürdig, daß Connor nach der Trennung von Julia noch immer so eine enge Beziehung zu der Familie hatte? Zumal ja keine Kinder da waren ...«

  »Aber er kannte ja Caro und Gerald schon vorher, müssen Sie wissen. Er hatte sie über seine Arbeit kennengelernt und sich sehr um ihre Freundschaft bemüht. Ich weiß, daß ich damals den Eindruck hatte, er sei bis über beide Ohren in Caro verliebt. Aber sie hat ja immer schon Verehrer gesammelt, wie andere Leute Schmetterlinge sammeln.«

  Obwohl Plummy dies ohne eine Spur von Tadel gesagt hatte, sah Gemma plötzlich einen wild flatternden, aufgespießten Schmetterling vor sich. »Puh«, sagte sie und rümpfte voll Abscheu die Nase. »Ich hab das immer schon grauenvoll gefunden.«

  »Was denn?« fragte Plummy. »Ach, Sie sprechen von den Schmetterlingen. Na ja, das war vielleicht ein etwas grausamer Vergleich, aber die Männer schwirren wirklich immer ganz hilflos um sie herum. Sie glauben alle, sie brauche jemanden, der für sie sorgt, aber Tatsache ist, daß sie sehr wohl imstande ist, für sich selbst zu sorgen. Mir selbst ist so was noch nie passiert.« Sie lächelte Gemma an. »Ich glaube, ich habe noch nie bei jemandem den Wunsch ausgelöst, für mich zu sorgen.«

  Gemma dachte daran, mit welcher Selbstverständlichkeit Rob angenommen hatte, sie würde jederzeit all seine Bedürfnisse, sowohl körperlicher als auch emotionaler Art, bedienen. Der Gedanke, daß auch sie einige Bedürfnisse haben könnte, war ihm nicht gekommen. Sie sagte: »Darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber für mich haben sich die Männer auch kein Bein ausgerissen.« Sie trank einen Schluck Tee und fuhr fort: »Um noch einmal auf Dame Caroline zurückzukommen - Sie sagten, daß Sie zusammen zur Schule gegangen sind? Wollte sie immer schon singen?«

  Plummy lachte. »Caro stand vom Tag ihrer Geburt an im Mittelpunkt. In der Schule sang sie bei jeder Aufführung die erste Partie. Die meisten anderen Mädchen haben sie nicht gemocht, aber das schien sie gar nicht zu merken. Sie hätte ebensogut Scheuklappen tragen können - sie wußte genau, was sie wollte, und alles andere hat sie nicht interessiert.«

  »Für eine Sängerin hat sie ihre Karriere sehr früh begonnen, nicht wahr?« fragte Gemma eingedenk dessen, was sie von Alison Douglas gehört hatte.

  »Da hatte Gerald die Hand im Spiel. Er hat sie aus dem Chor geholt und direkt an die Rampe gestellt, und sie besaß die Dynamik und den Ehrgeiz, dieser Herausforderung gerecht zu werden, obwohl sie kaum Erfahrung hatte.« Sie brach sich von einer Scheibe des Brots, das sie auf den Tisch gestellt hatte, ein Stück ab und knabberte daran. »Nur um zu probieren«, sagte sie lächelnd. »Qualitätskontrolle.« Nachdem sie das Brot mit einem Schluck Tee hinuntergespült hatte, fuhr sie zu sprechen fort. »Aber das alles ist mehr als dreißig Jahre her, und es gibt nur noch wenige, die Gerald und Caro aus der Zeit kennen, als sie noch keine großen Stars waren.«

  Plummys Beispiel folgend, nahm sich Gemma noch eine Scheibe Brot und sagte dann: »Lassen sie sich gern daran erinnern, daß sie einmal ganz gewöhnliche Leute waren?«

  »Ich glaube, es hat etwas Tröstliches für sie.«

  Wie war es für Julia gewesen, im Schatten dieser Eltern aufzuwachsen? Es war schon unter normalen Umständen schwierig genug, sich vom Einfluß der Eltern zu befreien und ein selbstbestimmter Mensch zu werden.

  »Und Julia hat Connor über ihre Eltern kennengelernt?« fragte sie.

  Plummy überlegte einen Moment. »Ich glaube, es war bei einem Empfang in der Oper. Damals ging Julia noch hin und wieder zu solchen musikalischen Veranstaltungen. Sie fing gerade erst an, sich als Malerin zu entfalten, und hatte sich noch nicht ganz von ihren Eltern gelöst.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war von Anfang an völlig überrascht - Julia hatte immer den intellektuellen, musischen Typ bevorzugt, und davon war Con so weit entfernt, wie man sich das überhaupt vorstellen kann. Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie wollte nichts hören.«

  »Haben sie wirklich so schlecht zueinander gepaßt, wie Sie dachten?«

  »O ja«, antwortete sie seufzend. »Noch schlechter.«

  Als sie nicht näher darauf einging, fragte Gemma: »Wußten Sie, daß Connor fremdgegangen ist?«

  Plummy sah überrascht aus. »Vor kurzem erst, meinen Sie? Er hatte eine Freundin?«

  »Ja. Eine junge Frau mit einer kleinen Tochter.«

  »Nein. Nein, das hab ich nicht gewußt.« Voll Mitgefühl, wie Gemma es bei ihr nicht anders erwartet hatte, fügte sie hinzu: »Ach Gott, das arme Ding. Sein Tod hat sie sicher schrecklich getroffen.«

  Die Worte >im Gegensatz zu Julia< schienen unausgesprochen zwischen ihnen zu hängen.

  »Sie ist übrigens wieder in die Wohnung gezogen«, sagte Plummy unvermittelt. »Julia, meine ich. Ich habe ihr gesagt, das mache sich nicht sehr gut, aber sie meinte, es sei schließlich ihre Wohnung und sie habe das Recht, zu tun und zu lassen, was sie für richtig halte.«

  Gemma dachte an das Atelier im oberen Stockwerk, das jetzt leer war, frei von Julia Swanns verwirrender Persönlichkeit, und verspürte eine unerklärliche Erleichterung. »Wann ist sie ausgezogen?«

  »Heute morgen, in aller Frühe. Sie hatte ihr Atelier vermißt, das arme Kind - ich hab nie verstanden, weshalb sie Con die Wohnung überlassen hat. Aber wenn sie sich einmal zu irgend etwas entschlossen hat, ist nicht mit ihr zu reden.«

  Der leicht gereizte und doch liebevolle Ton erinnerte Gemma an ihre eigene Mutter, die bei jeder Gelegenheit behauptete, ihre rothaarige Tochter sei störrisch zur Welt gekommen.

  »War Julia immer schon so eigensinnig?« fragte sie.

  Plummy sah sie einen Moment lang unverwandt an, dann antwortete sie: »Nein, nicht immer.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Haben Sie Ihren Tee ausgetrunken? Die Stunde müßte jetzt eigentlich zu Ende sein. Aber nachher kommt noch eine Schülerin, da ist es besser, wir schieben Sie jetzt gleich ein.«

  »Caro, das ist Sergeant James«, sagte Plummy, als sie Gemma ins Wohnzimmer führte. Dann zog sie sich zurück, und Gemma spürte den kühlen Luftzug, als die Tür hinter ihr zufiel.

  Caroline Stowe stand vor dem Feuer, genau wie ihr Mann vor zwei Tagen, als Gemma und Kincaid mit ihm gesprochen hatten. Mit ausgestreckter Hand trat sie auf Gemma zu. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sergeant. Was kann ich für Sie tun?«

  Ihre Hand war klein und kühl, weich wie die eines Kindes. Unwillkürlich warf Gemma einen Blick auf die Fotografie auf dem Klavier. Es hatte ihr zwar einen Eindruck von der Zartheit dieser Frau vermittelt, ihre Vitalität jedoch hatte es nicht gezeigt.

  »Ich würde mich, gewissermaßen im Nachtrag zu der Aussage, die Sie bei der Kriminalpolizei Thames Valley gemacht haben, gern noch einmal mit Ihnen unterhalten, Dame Caroline«, sagte Gemma, und ihre Stimme klang ihr hart in den Ohren.

  »Bitte, nehmen Sie Platz.« Caroline Stowe ging zum Sofa und klopfte einladend auf das Polster. Das Granatrot des langen Pullovers, den sie zur hellen Hose trug, brachte die helle Haut und das dunkle Haar wirkungsvoll zur Geltung.

  Gemma, die sich an diesem Morgen mit besonderer Sorgfalt angekleidet hatte, fand ihr olivfarbenes Seidenensemble plötzlich so langweilig wie einen Tarnanzug, und als sie sich setzte, kam sie sich linkisch und plump vor. Hastig sagte sie: »Dame Caroline, Ihrer ersten Aussage zufolge waren Sie am letzten Donnerstag abend hier zu Hause. Können Sie mir sagen, was Sie an diesem Abend getan haben?«

  »Aber natürlich, Sergeant, wenn Sie das für notwendig halten«, antwortete Caroline freundlich resigniert. »Ich habe mit Plummy - das ist Vivian Plumley - zu Abend gegessen, dann haben wir uns im Fernsehen etwas angesehen. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, was es war. Spielt das eine Rolle?«

  »Was haben Sie danach getan?«

  »Plummy hat uns einen Kakao gekocht, das muß so gegen zehn gewesen sein. Wir haben uns noch eine Weile unterhalten, dann sind wir beide zu Bett gegangen.« Beinahe entschuldigend fügte sie hinzu: »Es war ein ganz normaler Abend, Sergeant.«

  »Erinnern Sie sich, um welche Zeit Ihr Mann nach Hause kam?«

  »Nein, leider nicht. Ich habe einen sehr gesunden Schlaf, und wir haben getrennte Betten. Da stört er mich nur selten, wenn er nach einer Vorstellung spät nach Hause kommt.«

  »Und Ihre Tochter hat Sie auch nicht geweckt, als sie in den frühen Morgenstunden nach Hause kam?« fragte Gemma, die den Wunsch hatte, Carolines selbstzufriedene Gelassenheit ein wenig zu erschüttern.

  »Nein. Meine Tochter ist eine erwachsene Frau und kommt und geht, wie es ihr paßt. Es ist nicht meine Art, sie zu kontrollieren.«

  Mitten ins Schwarze, dachte Gemma. Sie hatte offensichtlich einen wunden Punkt getroffen. »Von Mrs. Plumley hörte ich eben, daß Ihre Tochter in die Wohnung zurückgekehrt ist, die sie mit ihrem Mann geteilt hat. War es Ihnen angesichts der Umstände recht, daß sie so bald wieder Ihr Haus verließ?«

  Caroline schien eine scharfe Erwiderung zu unterdrücken, dann seufzte sie. »Ich fand es etwas unbedacht, aber auf meine Meinung hat Julia nie viel gegeben. Sie hat sich meiner Ansicht nach in dieser Sache - ich meine, Connors Tod - von Anfang an unmöglich verhalten.« Plötzlich müde wirkend, rieb Caroline sich mit den Fingern über ihre Wangenknochen, aber Gemma fiel auf, daß sie darauf achtete, die Haut nicht zu dehnen.

  »In welcher Hinsicht?« fragte Gemma, obwohl sie bereits Beweise genug hatte, daß Julia nicht die trauernde Witwe spielte.

  Mit einem Achselzucken antwortete Caroline: »Es gibt gewisse Dinge, die nun mal getan werden müssen, und die Leute haben gewisse Erwartungen ... Julia ist schlicht und einfach ihren Verpflichtungen ausgewichen.«

  Gemma fragte sich, ob Julia sich anders verhalten hätte, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, daß ihre Eltern für sie ein-springen und alles erledigen würden. Die Tatsache, daß Julia genau das übelzunehmen schien, war nur ein Ausdruck der Verdrehtheit der menschlichen Natur, und Gemma gewann langsam den Eindruck, daß die Beziehung zwischen Julia und ihren Eltern verdrehter war als die meisten.

  Sie schlug eine neue Seite in ihrem Block auf und sagte: »Soviel ich weiß, war Connor Swann am letzten Donnerstag zum Mittagessen hier.« Auf Carolines Nicken fuhr sie fort: »Ist Ihnen da an seinem Verhalten irgend etwas Ungewöhnliches auf-gefallen?«

  Lächelnd erwiderte Caroline: »Con war sehr amüsant, aber das war nichts Ungewöhnliches.«

  »Erinnern Sie sich, worüber Sie sich unterhalten haben?« fragte Gemma und dachte, sie habe noch nie zuvor eine Frau so anmutig ihre Stirn runzeln sehen.

  »Ach, wir haben im Grunde nur über Belanglosigkeiten gesprochen, Sergeant. Über Klatschgeschichten, die wir gehört hatten, über Geralds Vorstellung am Abend -«

  »Connor Swann wußte also, daß Ihr Mann in London sein würde?«

  Perplex entgegnete Caroline: »Aber natürlich wußte er das.«

  »Haben Sie eine Ahnung, warum Ihr Schwiegersohn am selben Nachmittag im Coliseum gewesen sein könnte?«

  »Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Zu uns hat er jedenfalls nichts davon gesagt, daß er nach London wollte - wollen Sie damit sagen, daß er im Theater war?«

  »So steht es jedenfalls im Anmeldebogen des Portiers, aber bis jetzt hat niemand sonst das bestätigen können.«

  »Wie merkwürdig«, sagte Caroline langsam, und zum erstenmal hatte Gemma den Eindruck, daß sie von einem wohl-einstudierten Skript abwich. »Hm, sein Abgang war natürlich ziemlich -«

  »Was war denn los?« Gemma spürte ein Prickeln der Erregung. »Sie sagten doch eben, er hätte sich in keiner Weise ungewöhnlich verhalten.«

  »Ich weiß nicht, ob ich das als ungewöhnlich beschreiben würde. Con war nun mal ein ruheloser Mensch. Das Stillsitzen lag ihm nicht. Als Gerald und ich unseren Kaffee tranken, entschuldigte er sich einen Moment. Er sagte, er wolle Plummy in der Küche helfen, und weg war er. Ein paar Minuten später hörten wir ihn wegfahren, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben.«

  »Und Sie glaubten, es hätte ihn vielleicht etwas verstimmt?«

  »Nun, wir fanden es auf jeden Fall etwas merkwürdig, daß er sich nicht einmal von uns verabschiedet hatte.«

  Gemma blätterte in ihren Notizen zurück und richtete dann ihren Blick wieder auf Caroline. »Mrs. Plumley hat gesagt, daß sie allein abgespült hat. Sie hat Ihren Schwiegersohn nicht mehr gesehen, nachdem sie das Speisezimmer verlassen hatte. Halten Sie es für möglich, daß er nach oben gegangen ist, um mit Julia zu sprechen? Daß die beiden vielleicht eine Auseinandersetzung hatten?«

  Caroline faltete ihre Hände im Schoß, und die Schatten auf dem granatroten Pullover verschoben sich, als sie seufzte. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sergeant. Aber wenn es so gewesen wäre, bin ich sicher, Julia hätte etwas davon erwähnt.«

  Gemma teilte ihre Überzeugung nicht. »Wußten Sie eigentlich, daß Ihr Schwiegersohn eine Freundin hatte, Dame Caroline?«

  »Eine Freundin? Con?« sagte Caroline leise. Sie blickte ins Feuer und fügte noch leiser hinzu: »Davon hat er nie etwas gesagt.«

  »Ihr Name ist Sharon Doyle«, bemerkte Gemma, »und sie hat eine vierjährige Tochter. Es war allem Anschein nach eine ziemlich ernste Beziehung, und er ... Nun, sie war sehr viel bei ihm in der Wohnung.«

  »Ein Kind?« Caroline wandte ihr Gesicht wieder Gemma zu. Ihre dunklen Augen hatten sich geweitet, und Gemma sah darin die Widerspiegelung des Feuers.

  Während ihres Gesprächs war es draußen langsam dunkel geworden, und der Schein des Feuers und der Lampen hüllten den stillen Raum jetzt in warmes gelbes Licht. Gemma konnte sich die Abende hier vorstellen, heitere Stunden bei Musik und angeregten Gesprächen, köstliche Muße in Gesellschaft eines Buchs, niemals jedoch zornig erhobene Stimmen.

  »Angenommen, Julia hätte von Sharon erfahren? Wäre es darüber zum Streit gekommen? Wäre es Julia recht gewesen, daß ihr Mann eine andere Frau in ihrer Wohnung empfing?«

  Nach einem langen Schweigen sagte Caroline: »Julia ist häufig unberechenbar, Sergeant. Ich weiß nie, wie sie auf eine Situation reagiert. Und was spielt es schon für eine Rolle?« fügte sie müde hinzu. »Sie glauben doch nicht etwa, Julia hätte etwas mit Cons Tod zu tun?«

  »Wir bemühen uns, für das Verhalten Ihres Schwiegersohns an diesem letzten Nachmittag und Abend eine Erklärung zu finden. Er hat einen unerwarteten Besuch im Theater gemacht. Als er später am selben Abend wieder in Henley war, traf er sich noch einmal mit jemandem, aber wir wissen nicht, wer das war.«

  »Was wissen Sie überhaupt?« Caroline richtete sich auf und sah Gemma direkt in die Augen.

  »Der Autopsiebefund hat uns nicht viel verraten. Wir warten noch auf einige Laborberichte - bis dahin können wir nur versuchen, möglichst umfassende Informationen zu sammeln.«

  »Sergeant, ich habe den Eindruck, Sie drücken sich absichtlich vage aus«, sagte Caroline mit neckender Herausforderung.

  Gemma, die nicht bereit war, sich aus der Reserve locken zu lassen, konzentrierte sich auf das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam. Sie hatte während des Gesprächs beiläufig die Bilder betrachtet, von denen Kincaid und Julia gesprochen hatten - wie hatte Julia gleich wieder gesagt, hieß der Maler? Flynn? Nein, Flint. Richtig. Die rosigen barbusigen Frauen waren üppig, irgendwie unschuldig und gleichzeitig leicht dekadent, und der Glanz ihrer Satingewänder erinnerte Gemma an die Kostümstoffe, die sie an diesem Morgen im LB-Haus gesehen hatte.

  »Ich habe heute einen alten Freund von Ihnen kennengelernt, Dame Caroline. Tommy Godwin.«

  »Tommy? Du lieber Gott, was wollen Sie denn von Tommy?«

  »Er ist ein sehr geistreicher Mann.« Gemma lehnte sich tiefer in das Sofa und steckte ihren Block in ihre Handtasche. »Er hat mir sehr viel von früher erzählt, als Sie alle bei der Oper anfingen. Das muß eine aufregende Zeit gewesen sein.«

  Carolines Gesicht wurde weich. Geistesabwesend blickte sie ins Feuer, und nach einem kurzen Schweigen sagte sie: »Es war herrlich. Aber ich hatte natürlich keine Ahnung, was für eine besondere Zeit das war, weil ich ja keinen Vergleich hatte. Ich dachte, das Leben könnte nur schöner werden, und alles, was ich anfaßte, würde sich in Gold verwandeln.« Sie hob den Blick und sah wieder Gemma an. »Tja, so ist das Leben, nicht wahr, Sergeant? Man lernt, daß der Zauber vergänglich ist.«

  Die Worte enthielten eine so tiefe Trauer, daß Gemma bis ins Innerste berührt war. Die Fotografien auf dem Flügel übten einen beinahe unwiderstehlichen Sog auf sie aus, doch sie hielt ihren Blick fest auf Carolines Gesicht gerichtet. Sie brauchte die Fotografien nicht anzusehen - das Bild des strahlenden Matthew Asherton hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie holte tief Atem und sagte mit einer Kühnheit, die ihrer eigenen Furcht entsprang: »Wie schaffen Sie es weiterzumachen?«

  »Man schützt das, was man hat«, sagte Caroline leise und heftig. Dann lachte sie und brach den Bann. »Tommy war damals noch nicht ganz so elegant, obwohl man das heute nicht mehr glauben möchte. Er hatte seine Herkunft schon abgeschüttelt wie eine Schlange, die sich häutet, aber der Prozeß war noch nicht ganz abgeschlossen. Es waren noch ein paar ungeschliffene Kanten da.«

  »Das kann ich mir gar nicht vorstellen«, sagte Gemma, und sie lachten beide.

  »Tommy war immer ein höchst amüsanter Mensch, auch als es ihm noch ein bißchen an Kultur fehlte. Wir hatten herrliche Zeiten zusammen ... Wir hatten so große Pläne. Gerald und Tommy und ich - wir wollten die ganze Oper verändern.« Caroline lächelte.

  Wie hast du es ertragen, das alles aufzugeben? dachte Gemma. Laut sagte sie: »Ich habe Sie singen hören. Ich habe mir eine Kassette gekauft. La Traviata. Einfach wunderbar.«

  Caroline verschränkte ihre Arme locker unter ihrer Brust und streckte ihre kleinen Füße dem Feuer entgegen. »Ja, nicht wahr? Ich habe Verdi mit Leidenschaft gesungen. Seine Heldinnen haben eine spirituelle Qualität, die man bei Puccini nicht findet, und sie geben einem mehr Interpretationsfreiheit. Puccini muß man genauso singen, wie es niedergeschrieben ist, sonst wird es vulgär - bei Verdi muß man das Herz der Heldin finden.«

  »Genau das hab ich empfunden, als ich Ihre Violetta gehört habe«, erklärte Gemma eifrig. Caroline hatte ihr eine Definition ihrer eigenen vagen Eindrücke gegeben.

  »Kennen Sie die Geschichte der Traviata?« Als Gemma den Kopf schüttelte, fuhr Caroline fort: »Etwa um 1840 herum lebte in Paris eine junge Kurtisane namens Marie Duplessis. Sie starb am zweiten Februar 1846, neunzehn Tage nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Unter ihren zahlreichen Liebhabern in ihrem letzten Lebensjahr waren Franz Liszt und Alexandre Dumas der Jüngere. Dumas schrieb ein Stück, das auf Maries Leben basierte, La Dame aux Camelias oder die Kamelien -«

  »Und Verdi nahm es als Grundlage für seine Traviata.«

  »Ach, Sie haben gespickt«, sagte Caroline mit gespielter Enttäuschung.

  »Ich hab nur die Anmerkungen gelesen. Und ich wußte nicht, daß Violetta ein lebendes Vorbild hatte.«

  »Marie Duplessis ist auf dem Friedhof am Montmartre begraben, gleich unterhalb von Sacré Coeur. Man kann ihr Grab besuchen.«

  Gemma wagte nicht zu fragen, ob Caroline selbst eine solche Pilgerfahrt unternommen hatte - sie fürchtete, damit dem verbotenen Terrain von Matthews Tod zu nahe zu kommen.

  Draußen läutete es, und Gemma fiel ein, daß Caroline noch eine Schülerin erwartete.

  »Entschuldigen Sie, Dame Caroline. Ich habe Sie zu lange aufgehalten.« Sie schob den Riemen ihrer Tasche über ihre Schulter und stand auf. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich so viel Zeit genommen haben.«

  Auch Caroline stand auf. Sie bot Gemma die Hand. »Auf Wiedersehen, Sergeant.«

  Als Gemma sich der Tür näherte, wurde sie von Plummy geöffnet, die sagte: »Cecily ist hier, Caro.«

  Im Vestibül sah Gemma im Vorübergehen flüchtig ein junges Mädchen mit dunkler Haut und dunklen Augen, dann brachte Plummy sie hinaus in den dämmrigen Abend. Die Tür schloß sich, und Gemma blieb einen Moment wie benommen in der kühlen feuchten Luft stehen. Sie schüttelte den Kopf, um wieder zur Besinnung zu kommen, aber das machte die langsam heraufziehende Erkenntnis auch nicht angenehmer.

  Sie war verführt worden.

 

»Hier ist eine Nachricht für Sie, Mr. Kincaid«, rief Tony aus der Bar, als Kincaid das Chequers betrat. »Und Ihr Zimmer ist fertig.« Tony schien hier das Mädchen für alles zu sein und behielt dabei immer seine gute Laune. Jetzt zog er einen Zettel unter dem Tresen hervor und reichte ihn Kincaid.

  »Jack Makepeace hat angerufen?«

  »Ja, Sie haben ihn nur um ein paar Minuten verpaßt. Sie können nebenan telefonieren, wenn Sie wollen.« Tony wies zu dem kleinen Speiseraum gegenüber der Bar.

  Kincaid rief beim Revier High Wycombe an und wurde sofort mit Makepeace verbunden. »Wir haben möglicherweise Ihren Kenneth Hicks aufgetan, Superintendent. Angeblich soll er Stammgast in einem Pub in Henley sein, das Fox and Hounds heißt. Es ist an der Straße nach Reading.«

  Kincaid fluchte im stillen. Er war gerade auf der Rückfahrt von Reading über Henley gekommen; jetzt würde er den ganzen Weg noch einmal zurückfahren müssen. Doch er machte Makepeace keinen Vorwurf, daß er ihn nicht im Auto angerufen hatte - das hätte nur die gute Zusammenarbeit getrübt.

  »Ist irgend etwas über ihn bekannt?«

  »Ein paar kleine Vorstrafen - Jugendsachen. Er scheint nur ein kleiner Gauner zu sein. Hat hier und da mal einen Griff in die Kasse getan.«

  »Und seine Beschreibung?«

  »Zwischen eins siebzig und eins fünfundsiebzig groß, Gewicht etwa sechzig Kilo, helles Haar, blaue Augen. Keine bekannte Adresse. Wenn Sie mit ihm reden wollen, werden Sie sich wohl im Fox and Hounds einen hinter die Binde gießen müssen.«

  Kincaid seufzte resigniert. »Vielen Dank, Sergeant.«

  Im Gegensatz zu dem Pub, in dem er in Reading zu Mittag gegessen hatte, erwies sich das Fox and Hounds als genauso öde, wie er es sich vorgestellt hatte. Die wenigen Nachmittagsgäste vergnügten sich am Billardtisch im Hinterzimmer, Kincaid jedoch setzte sich in die Bar, an einen schlecht gewischten Plastiktisch. In Jeans und Pullover kam er sich im Vergleich mit den anderen Gästen auffallend gepflegt vor. Er sog den Schaum von seinem Bier und lehnte sich zurück. Jetzt konnte er nur warten.

  Er hatte sein Bier so langsam wie möglich fast bis zur Neige getrunken, als ein Mann hereinkam, auf den Kenneth Hicks’ Beschreibung paßte. Kincaid beobachtete ihn, als er sich an den Tresen lehnte, mit dem Barkeeper einige leise Worte tauschte und dann ein Glas Bier entgegennahm. Er trug teure Kleider, die an seinem schmächtigen Körper schlecht saßen, und das schmale Gesicht war knochig wie das eines unterernährten Kindes. Über den Rand seines Glases hinweg beobachtete Kincaid den Mann, der sich nervös umsah, dann zu einem Tisch in der Nähe der Tür ging.

  Diesen Kerl hätte schon seine Verfolgungsangst verraten, dachte Kincaid und lächelte befriedigt. Er trank noch einen Schluck Bier, dann stand er auf und ging mit seinem Glas zum Tisch des anderen hinüber.

  »Haben Sie was dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?« fragte er und zog sich schon einen Stuhl heran, um sich darauf niederzulassen.

  »Und wenn?« entgegnete der Mann, der ein wenig zurückgeschreckt war und sein Glas wie einen Schild vor seinem Körper hielt.

  Kincaid konnte die Schuppen in dem von Gel glänzenden Haar des Mannes sehen. »Wenn Sie Kenneth Hicks sind, haben Sie Pech gehabt. Ich möchte nämlich ein Wörtchen mit Ihnen reden.«

  »Was geht es Sie an, wer ich bin? Weshalb sollte ich mit Ihnen reden?« Sein Blick huschte hin und her, doch die Sicht auf die Tür war ihm durch Kincaids Körper versperrt. Im grauen Licht, das durch das vordere Fenster hereinfiel, wirkte sein Gesicht kalkig. Am Kinn hatte er eine blutverkrustete Schnittwunde vom Rasieren.

  »Weil ich Sie höflich darum gebeten habe«, versetzte Kincaid und zog seinen Dienstausweis heraus. Er hielt ihn Hicks hin. »Ihre Ausweispapiere bitte.«

  Auf Hicks’ Oberlippe bildete sich ein feiner Schweißfilm. »Wie kommen Sie dazu! Das ist reine Schikane, weiter nichts.«

  »Von Schikane kann keine Rede sein«, sagte Kincaid gedämpft, »aber wenn es Ihnen lieber ist, holen wir die Freunde vom zuständigen Revier und halten unseren kleinen Schwatz auf der Polizeidienststelle.«

  Im ersten Moment glaubte er, Hicks wolle türmen, und machte sich zum Sprung bereit. Dann aber stellte Hicks sein Glas krachend auf den Plastiktisch und reichte Kincaid wortlos seinen Führerschein.

  »Ah, eine Adresse in Clapham?« meinte Kincaid, nachdem er ihn sich angesehen hatte.

  »Das ist die Wohnung von meiner Mutter«, erklärte Hicks mürrisch.

  »Aber Sie wohnen doch hier in Henley, nicht wahr?« Kincaid schüttelte den Kopf. »Sie sollten wirklich darauf achten, daß Ihre Papiere auf dem laufenden sind. Wir wissen gern, wo Sie zu finden sind, wenn wir Sie brauchen.« Er zog ein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Hüfttasche seiner Hose und schob beides über den Tisch. »Am besten schreiben Sie mir Ihre Adresse auf, ehe wir es vergessen. Und bitte die richtige«, fügte er hinzu, als Hicks widerstrebend den Kugelschreiber nahm.

  »Was geht Sie das überhaupt an?« fragte Hicks, während er ein paar Zeilen auf das Papier kritzelte und Kincaid das Buch dann wieder hinschob.

  Kincaid hielt ihm die geöffnete Hand entgegen, um seinen Kugelschreiber zurückzufordern. »Tja, mir liegt sehr daran, mit Ihnen in Verbindung zu bleiben. Ich untersuche nämlich den Tod von Connor Swann, und ich glaube, Sie wissen eine ganze Menge über Connor Swann. Wenn man bedenkt, wieviel Geld er Ihnen jeden Monat bezahlt hat, wäre es schon sehr seltsam, wenn Sie jetzt behaupten würden, nichts über ihn zu wissen.« Kincaid sah Hicks lächelnd an. Das kalkige Gesicht hatte bei der Erwähnung von Connors Namen beinahe einen Grünschimmer angenommen.

  »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden«, stieß Hicks mit Mühe hervor, und jetzt konnte Kincaid seine Furcht förmlich riechen.

  »O doch, ich denke, das wissen Sie sehr genau. Soweit ich gehört habe, spielen Sie den Kassierer für einen hiesigen Buchmacher, ganz inoffiziell natürlich, und Connor hatte Schulden bis über beide Ohren -«

  »Wer hat Ihnen den Quatsch erzählt? Wenn das dieses kleine Flittchen war, das er sich gehalten hat, dann werd ich ihr -«

  »Sie werden Sharon Doyle nicht anrühren.« Kincaid beugte sich vor, alle äußere Liebenswürdigkeit jetzt wie weggeblasen. »Und hoffen Sie, daß sie nicht zu Unfällen neigt, ich werde Sie nämlich zur Verantwortung ziehen, wenn sie sich auch nur den kleinen Finger bricht. Haben Sie das kapiert, Sportsfreund?« Er wartete, bis Hicks nickte, dann sagte er: »Gut. Ich wußte gleich, daß Sie ein heller Junge sind. Also - leider hat Connor über seine finanziellen Probleme nicht mit Sharon gesprochen, deshalb werden Sie mir weiterhelfen müssen. Wenn Connor Ihrem Boß Geld geschuldet hat, wieso hat er dann an Sie bezahlt?«

  Hicks nahm einen tiefen Zug von seinem Bier und wühlte in seiner Jackentasche, bis er eine zerdrückte Packung Benson & Hedges fand. Er zündete sich eine Zigarette an und schien neuen Mut zu fassen, als er den Rauch einsog. »Ich weiß echt nicht, was Sie von mir wollen, und Sie können mir nicht -«

  »Und wie ich kann! Connor war vielleicht in manchen Dingen sehr nachlässig, in anderen jedoch war er äußerst genau. Er hat über jeden Scheck, den er ausgestellt hat, Buch geführt - wußten Sie das, Kenneth? Es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie Kenneth nenne?« erkundigte sich Kincaid, wieder ganz Höflichkeit. Als Hicks nicht antwortete, sagte er: »Er hat Ihnen regelmäßig große Beträge bezahlt. Es würde mich interessieren, ob die Beträge mit denen übereinstimmen, die er Ihrem Chef geschuldet hat -«

  »Lassen Sie den ja aus der Sache raus!« schrie Hicks beinahe und sah sich sofort erschrocken um, um zu sehen, ob jemand ihn gehört hatte. Dann beugte er sich weit über den Tisch und senkte die Stimme. »Ich sag’s Ihnen noch mal, lassen Sie den ja -«

  »Wieso? Was haben Sie denn getrieben, Kenneth? Ein bißchen Wucherei nebenbei? Haben Sie sich von Con für seine Schulden Zinsen zahlen lassen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Ihrem Chef recht wäre, daß Sie bei seinen Kunden auf die Weise absahnen.«

  »Con und ich hatten eine private Vereinbarung. Ich hab ihm ausgeholfen, wenn er in der Patsche gesessen hat. Genauso wie er es für mich getan hätte. Wie man’s eben für jeden Kumpel tut.«

  »Ach, Sie beide waren Kumpel? Tja, das ist natürlich was ganz anderes. Ich bin überzeugt, in dem Fall hat es Connor nichts ausgemacht, daß Sie an seinen Schulden verdient haben.« Kincaid beugte sich wieder vor. Am liebsten hätte er Hicks gepackt und einmal kräftig durchgeschüttelt. »Sie sind ein Blutsauger, Kenneth. Wenn man Freunde wie Sie hat, braucht man keine Feinde. Ich möchte wissen, wann Sie Connor Swann das letzte Mal gesehen haben, und ich möchte ganz genau wissen, worüber Sie mit ihm gesprochen haben, weil ich nämlich allmählich glaube, daß Connor es satt hatte, sich von Ihnen ausnehmen zu lassen. Vielleicht hat er gedroht, zu Ihrem Chef zu gehen - war es so, Kenneth? Sie beide sind sich in die Haare geraten, und Sie haben ihn in den Fluß gestoßen. Was meinen Sie dazu, Sportsfreund? War es so?«

  Die Bar begann sich langsam zu füllen, und Hicks mußte etwas lauter sprechen, um von Kincaid gehört werden zu können. »Nein, ich sag Ihnen doch, daß es nicht so war. Überhaupt nicht, Mann.«

  »Wie war es denn?« fragte Kincaid ruhig. »Klären Sie mich doch auf.«

  »Con hat ein paarmal schwer verloren, kurz nacheinander, und konnte das Geld nicht aufbringen. Ich war damals gerade flüssig, da bin ich für ihn eingesprungen. Daraus wurde dann so eine Art Gewohnheit.«

  »Eine schlimme Gewohnheit, genau wie das Glücksspiel. Ich kann mir vorstellen, daß Connor Swann davon ziemlich schnell genug hatte. Er hatte Ihnen in den letzten Wochen vor seinem Tod keinen Scheck mehr ausgestellt. Wollte er nicht mehr, Kenneth? Hatte er die Nase voll?«

  Hicks wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Oberlippe. »Nein, Mann, er hat in den letzten Wochen zur Abwechslung einfach mal Glück gehabt. Er hat seine Schulden bezahlt - wir waren quitt. Sie können’s mir glauben.«

  »Das ist ja wirklich herzerwärmend, genauso wie es sich unter braven kleinen Pfadfindern gehört. Wahrscheinlich haben Sie beide sich auch noch die Hand drauf gegeben, was?« Kincaid nahm wieder einen Schluck aus seinem Glas, dann sagte er im Konversationston: »Gutes Bier brauen die hier, finden Sie nicht?« Ehe Hicks etwas antworten konnte, beugte er sich so weit über den kleinen Tisch, daß sein Gesicht nur noch etwa eine Handbreit von dem des Mannes entfernt war. »Selbst wenn ich Ihnen glauben würde, was ich nicht tue, bin ich sicher, Sie hätten einen anderen Weg gefunden, ihn bluten zu lassen. Sie scheinen eine Menge über sein Privatleben zu wissen, wenn man bedenkt, daß Sie nur geschäftlich miteinander zu tun hatten. Sie haben wohl nach einem anderen Druckmittel gesucht, was, Ken? Haben Sie vielleicht etwas über Connor herausbekommen, das er geheimhalten wollte?«

  Hicks wich zurück. »Ich weiß nicht, was Sie da reden. Fragen Sie doch seine Freundin, dieses Flittchen, was die weiß? Vielleicht ist sie dahintergekommen, daß er sie nie im Leben geheiratet hätte.« Er grinste höhnisch mit nikotinbraunen Zähnen. »Vielleicht hat die ihn in den Fluß befördert - haben Sie sich das schon mal überlegt, Sie Schlaumeier?«

  »Wie kommen Sie darauf, daß er Sharon nicht geheiratet hätte?«

  »Weshalb hätte er sie heiraten sollen? Sich so eine dämliche kleine Kuh aufzuhalsen - und dazu noch den Balg von einem andern? Niemals!« Immer noch grinsend nahm sich Hicks eine weitere Zigarette aus der Packung und zündete sie an der Kippe der ersten an. »Mit dem Mundwerk, das die hat! Wie ein Fischweib.«

  »Sie sind wirklich ein Schatz, Kenneth«, erklärte Kincaid generös. »Woher wissen Sie überhaupt, daß Sharon dachte, Connor Swann würde sie heiraten? Hat sie Ihnen das erzählt?«

  »Genau. Sie sagen es. >Dann wirst du abserviert, Kenneth Hicks<, hat sie zu mir gesagt. >Dafür werd ich sorgen.< Die blöde -«

  »Wissen Sie was, Kenneth, wenn man sie in der Themse gefunden hätte, wären wir, glaube ich, um ein Motiv nicht verlegen gewesen.«

  »Wollen Sie mir vielleicht drohen? Das dürfen Sie nicht - das -«

  »Schikane, ich weiß. Nein, Kenneth, ich drohe Ihnen nicht, ich mache nur eine Feststellung.« Kincaid lächelte. »Ich bin Überzeugt, Ihnen lag nur Connor Swanns Wohl am Herzen.«

  »Er hat mir einiges erzählt, wenn er ein paar gehoben hatte.« Hicks senkte seine Stimme. »Der war total abhängig von seiner Frau. Die brauchte nur den kleinen Finger zu krümmen, und er ist mit eingekniffenem Schwanz zu ihr gerannt. Er hatte einen Riesenkrach mit ihr an dem Tag, das Luder -«

  »An welchem Tag, Kenneth?« sagte Kincaid sehr deutlich und sehr betont.

  Hicks starrte Kincaid so erschrocken an wie eine Ratte, die von einem Frettchen überrascht worden ist. »Keine Ahnung. Sie können nichts beweisen.«

  »Es war der Tag, an dem er gestorben ist, stimmt’s, Kenneth? Sie haben Connor Swann an dem Tag seines Todes gesehen. Wo?«

  Hicks wich Kincaids scharfem Blick nervös aus und sog tief an seiner Zigarette.

  »Raus damit, Kenneth. Herausbekommen werde ich es auf jeden Fall. Ich fange einfach damit an, daß ich diese netten Leute hier frage.« Kincaid wies mit dem Kopf zur Bar. »Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr?«

  »Und - was ist schon dabei, wenn ich ein Bier mit ihm getrunken hab? Woher hätte ich wissen sollen, daß es ein besonderer Tag war?«

  »Wo und wann?«

  »Hier, wie immer. Die Zeit weiß ich nicht mehr«, antwortete Hicks ausweichend, sagte aber, als er Kincaids Gesicht sah: »War vielleicht so um zwei rum.«

  Nach dem Mittagessen, dachte Kincaid. Von den Ashertons aus war Connor Swann direkt hierhergefahren. »Und er hat Ihnen erzählt, daß er mit Julia Krach gehabt hatte? Worum ging es?«

  »Das weiß ich doch nicht. War schließlich nicht meine Sache.« Hicks klappte so resolut seinen Mund zu, daß Kincaid es für angebracht hielt, das Thema zu wechseln.

  »Worüber haben Sie sonst noch gesprochen?«

  »Nichts. Wir haben nur in aller Freundschaft ein Bier zusammen getrunken. Das ist doch wohl nicht verboten?« fragte Hicks mit anschwellender Stimme.

  »Haben Sie Connor Swann danach noch einmal gesehen?«

  »Nein. Er ist hier weggegangen und das war’s.« Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückte sie im Aschenbecher aus.

  »Wo waren Sie an dem fraglichen Abend, Kenneth? Von acht Uhr an?«

  Kopfschüttelnd sagte Hicks: »Das geht Sie überhaupt nichts an. Ich hab die Nase voll von Ihrer Fragerei. Ich hab nichts verbrochen, Sie haben kein Recht, mir die Hölle heiß zu machen.« Mit einer heftigen Bewegung stieß er sein leeres Glas weg und schob, ohne Kincaid aus den Augen zu lassen, seinen Stuhl zurück.

  Kincaid überlegte, ob es Sinn hatte, ihn noch ein bißchen härter anzufassen, und entschied sich dagegen. »Also gut, Kenneth, wie Sie wollen. Aber halten Sie sich zur Verfügung für den Fall, daß wir noch einmal miteinander sprechen müssen.«

  Hicks stand auf, die Beine seines Stuhls schrammten quietschend über den Boden. Als er an Kincaid vorbei wollte, packte ihn dieser beim Arm. »Wenn Sie auch nur daran denken zu verschwinden, mein Freund, werde ich Ihnen die Truppe so schnell auf den Hals hetzen, daß Sie gar keine Zeit mehr haben, sich irgendwo zu verstecken. Haben wir uns verstanden?«

  Nach einem Moment trotzigen Schweigens nickte Hicks schließlich, und Kincaid ließ ihn lächelnd los. »Braver Junge. Wir sehen uns.«

  Als die Tür zur Straße hinter Hicks zugefallen war, wischte sich Kincaid sorgfältig seine Hand an seiner Jeans ab.