* 4

 

Will Darling bewegte sich mit einer, bei einem so großen und kräftigen Mann überraschenden Geschwindigkeit. Er schaffte es, bei Claire Gilbert zu sein, ehe sie mit dem Kopf auf den Boden schlug, und jetzt kniete er neben ihr, hielt ihren Kopf und ihre Schultern an seine Knie gestützt. Als Gemma und Kincaid sich besorgt über sie beugten, flatterten ihre Augenlider, und sie bewegte den Kopf hin und her. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht, was da passiert ist.«

  Sie wollte sich aufsetzen, aber Will hielt sie behutsam zurück.

  »Lassen Sie den Kopf noch ein Weilchen unten. Entspannen Sie sich einfach. Ist Ihnen immer noch schwindlig?« Als sie den Kopf schüttelte, hob er sie ein wenig an. »Wir machen es Schritt für Schritt«, erklärte er, während er sie langsam aufrichtete, bis sie saß, und ihr dann auf einen der Stühle in der Frühstücksnische half.

  »Es tut mir wirklich leid«, sagte Claire Gilbert. »So etwas Albernes!« Sie rieb sich das Gesicht mit zitternden Händen, blieb aber, obwohl ihre Wangen ein klein wenig Farbe bekommen hatten, unnatürlich bleich.

  Kincaid zog einen Stuhl vom Tisch weg und setzte sich ihr gegenüber. »Ich habe Sie doch nicht damit erschreckt?« Er wies auf den Hammer, den er auf die Arbeitsplatte gelegt hatte. Die Haare zerzaust von seinen Bemühungen, sie von Spinnweben zu befreien, und die Augen voll teilnahmsvoller Besorgnis, sah er trügerisch harmlos und gutmütig aus, und Claire Gilbert tat Gemma plötzlich leid. »Es ist nur der alte Hammer aus Ihrem Geräteschuppen«, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu.

  »Sie glauben doch nicht - daß mein Mann damit...« Claire Gilbert fröstelte und schlang beide Arme fest um ihren Oberkörper.

  »Nach der Staubschicht zu urteilen, würde ich sagen, daß den Hammer seit Monaten niemand mehr in der Hand gehabt hat, aber wir müssen sicherheitshalber ein paar Untersuchungen vornehmen.«

  Claire Gilbert schloß die Augen und holte einmal tief Atem. Tränen quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor, als sie zu sprechen begann. »Ja, er hat mich erschreckt. Ich weiß nicht, warum. Gestern abend haben mich die Polizeibeamten immer wieder gefragt, ob ich wüßte, womit - ob irgend etwas im Haus verschwunden sei, aber ich konnte gar keinen klaren Gedanken fassen. An den Geräteschuppen habe ich überhaupt nicht gedacht ...«

  Gemma, die miterlebt hatte, wie Claire Gilbert trotz Schock und Erschöpfung die Kontrolle bewahrt hatte, war erstaunt über ihre jetzige Fassungslosigkeit, aber sie glaubte, den Grund dafür zu verstehen. Trotz der direkten Konfrontation mit den blutigen Tatsachen hatte Claire Gilbert sich nicht vorstellen wollen, was ihrem Mann geschehen war. Sie war den Phantasien ausgewichen, bis der Blick auf den Hammer, dieses konkrete Werkzeug möglicher Gewalt, sie gezwungen hatte, ihnen ins Gesicht zu sehen.

  »Mrs. Gilbert«, begann Gemma in dem Wunsch zu trösten, »machen Sie sich keine ...«

  »Bitte nennen Sie mich nicht dauernd so«, unterbrach Claire Gilbert mit unerwarteter Heftigkeit. »Ich heiße Claire.« Dann schlug sie unterdrückt schluchzend die Hände vor ihr Gesicht.

  Mit einem warnenden Kopfschütteln sagte Will fast lautlos: »Lassen Sie sie weinen.« Er ging zum Kühlschrank, kramte einen Moment darin herum und stellte Brot, Butter und Orangenmarmelade heraus. Er schob zwei Scheiben Brot in den Toaster, nahm einen Teller und Besteck aus dem Schrank, und als Claires Tränen versiegten, hatte er schon schnell und geschickt ein verspätetes Frühstück angerichtet.

  »Sie können doch nicht nur von Tee leben«, sagte er vorwurfsvoll. »Sie müssen essen. Gestern abend haben Sie Ihr Essen auch kaum angerührt. Aber so können Sie nicht weitermachen und dann auch noch erwarten, daß Sie mit allem, was jetzt über Sie hereinbricht, spielend fertigwerden.« Beim Sprechen bestrich er einen Toast mit Butter und Marmelade und reichte ihn Claire.

  Gehorsam biß sie ein kleines Stück ab. Will setzte sich neben sie und beobachtete sie so aufmerksam, daß Gemma beinahe zu hören glaubte, wie er sie zu essen drängte.

  Nach einer kleinen Weile stand Kincaid auf und bedeutete Gemma mit einer Kopfbewegung, mit ihm in den Garten hinauszugehen. Sie folgte ihm mit einem Schritt Abstand durch den schmalen Vorraum, sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, entschlossen, den schwachen Duft seiner Seife, seines Rasierwassers, seiner Haut nicht wahrzunehmen. Aber sie konnte nicht umhin zu sehen, daß er einen frischen Haarschnitt brauchte - er hatte es vergessen wie so oft, und das kastanienbraune Haar berührte fast schon den Rand seines Kragens.

  Plötzlicher Zorn sprang in ihr auf, als hätten es diese widerspenstigen Härchen darauf angelegt, sie zu ärgern, und als sie den Garten erreicht hatten, fuhr sie ihn, völlig irrational, gereizt an: »Mußten Sie Claire Gilbert so aus der Fassung bringen? Die arme Frau hat doch weiß Gott schon genug durchgemacht. Da könnten wir wenigstens...«

  »Da könnten wir wenigstens versuchen herauszubekommen, wer ihren Mann getötet hat«, unterbrach er sie scharf. »Und das heißt, daß wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, ganz gleich, wie weit hergeholt sie erscheint. Und woher hätte ich denn wissen sollen, daß der Anblick eines simplen Hammers sie gleich zu Boden strecken würde?« fügte er gekränkt hinzu. »Oder sollte vielleicht der Anblick meines Gesichts schuld gewesen sein?« Er versuchte, sie mit einem Lächeln zu besänftigen, aber als sie ihn nur weiterhin finster anstarrte, sagte er verärgert: »Was zum Teufel ist eigentlich los mit Ihnen, Gemma?«

  Einen Moment lang maßen sie einander schweigend. Wie kann ein Mensch nur eine so dumme Frage stellen, dachte sie und wurde sich im selben Augenblick bewußt, daß sie ja selbst die Antwort auf diese Frage nicht wußte. Das einzige, was sie in dem Aufruhr ihrer Gefühle klar erkennen konnte, war ihr Wunsch, ihre Verwirrung möge sich endlich auflösen, ihre Welt ihre alte Ordnung wiederfinden. Sie wünschte, es würde alles wieder so sein, wie es gewesen war, sicher und vertraut, aber sie wußte nicht, wie sie das bewirken sollte.

  Ohne ein Wort wandte sie sich ab und ging über den Rasen zum Hundezwinger. Lewis begrüßte sie mit freudigem Schwanzwedeln, und durch den Maschendraht hindurch streichelte sie seine Schnauze.

  Hinter sich hörte sie Kincaids Stimme, ganz neutral jetzt. »Und haben Sie vergessen, daß der Ehepartner immer der Hauptverdächtige ist?«

  »Es gibt keinerlei Indizien«, entgegnete Gemma. »Und außerdem hat sie ein Alibi.«

  »Ja, das ist leider nur zu wahr. Wer ist übrigens dieser Malcolm, von dem sie vorhin gesprochen hat?« Als Gemma es ihm erklärt hatte, überlegte er kurz und sagte dann: »Am gescheitesten teilen wir uns die Arbeit für den Rest des Tages. Sie und Will hören sich in Guildford um; ich warte hier auf Deveney, und dann reden wir vielleicht ein Wörtchen mit Malcolm Reid, ehe wir uns die Leute im Dorf vornehmen.« Er wartete. Als sie nichts sagte, sich nicht einmal herumdrehte, fügte er hinzu: »Wir lassen einen Beamten am Tor, bis der Tumult sich gelegt hat, dann braucht Claire Gilbert sich nicht mit der Presse herumzuschlagen, es sei denn, sie geht aus dem Haus. Ich hoffe, das ist Ihnen eine Beruhigung«, sagte er abschließend in einem Ton, aus dem er den Sarkasmus nicht ganz heraushalten konnte. Dann ging er davon.

  Innerlich kochend vor Empörung saß Gemma neben Will im Wagen. Was bildete sich Duncan Kincaid eigentlich ein? Wie kam er dazu, sie herumzukommandieren wie eine kleine Anfängerin? Er hatte nichts mit ihr besprochen, hatte sie nicht um ihre Meinung gefragt, und als eine feine Stimme sie mahnend darauf aufmerksam machte, daß sie ihm dazu vielleicht gar keine Gelegenheit geboten hatte, sagte sie laut und heftig: »Ach, halt die Klappe.«

  »Bitte?« Will, der am Steuer saß, drehte kurz den Kopf, um ihr einen verblüfften Blick zuzuwerfen.

  »Ach, ich hab nicht Sie gemeint, Will. Ich hab nur laut gedacht.«

  »Das war aber kein sehr erfreuliches Gespräch, das Sie da geführt haben«, stellte er leicht erheitert fest. »Wollen Sie nicht einen Dritten beteiligen?«

  »Ich glaube, Sie bürden sich schon genug auf, um sich auch noch um meine Probleme zu kümmern«, antwortete Gemma, die gern das Thema wechseln wollte. »Wie machen Sie das nur, Will? Wie können Sie objektiv bleiben, wenn Sie so sehr mit den Betroffenen fühlen?« Sie hatte gar nicht die Absicht gehabt, es so offen anzusprechen, aber seine ruhige Freundlichkeit verleitete dazu, die Vorsicht zu vergessen. Hoffend, daß sie ihm nicht zu nahe getreten war, warf sie ihm einen schnellen Blick zu. Er sah sie an und lächelte.

  »Oh, ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten, objektiv zu bleiben, wenn ich Beweise dafür habe, daß jemand etwas Unrechtes getan hat. Aber solange das nicht der Fall ist, sehe ich keinen Grund, andere nicht so menschlich und rücksichtsvoll wie möglich zu behandeln, besonders wenn sie so Schlimmes durchgemacht haben wie Claire Gilbert und ihre Tochter.« Wieder sah er sie flüchtig an und fügte hinzu: »So bin ich erzogen worden. Tut mir leid, ich wollte Ihnen keinen Vortrag halten. Meine Eltern haben sich ihr Leben lang unerschütterlich an die goldenen Sittenregel der Bibel gehalten, obwohl die ja heutzutage bei den Leuten nicht mehr viel gilt.«

  Danach hielt er seine Aufmerksamkeit fest auf die Straße gerichtet, da sie mittlerweile die A25 erreicht hatten, auf der um dieser Morgenstunde starker Verkehr war.

  Gemma betrachtete ihn neugierig. Sie hatte selten erlebt, daß Männer freimütig von ihren Eltern sprachen. Rob hatte sich der seinen geschämt - kleine Handwerker mit ungeschliffener Sprache -, und sie war entsetzt und wütend gewesen, als sie einmal mitangehört hatte, wie er jemandem erzählte, sie wären tot.

  »Will - Sie haben heute morgen gesagt, die Kathedrale habe immer eine besondere Bedeutung für Sie gehabt, und eben haben Sie in der Vergangenheit von Ihren Eltern gesprochen - sind sie tot?«

  Will überholte einen klapprigen alten Lastwagen, ehe er antwortete. »Seit zwei Jahren, Weihnachten.«

  »Ein Unfall?«

  »Sie waren krank«, sagte er. Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Erzählen Sie mir etwas von Ihrer Familie, Gemma. Der Plastikschlüsselbund in Ihrer Tasche ist ja unübersehbar.«

  »Sehr professionell von mir, hm? Aber wenn ich die nicht immer zur Hand habe, verliert mir Toby die richtigen.« Und schon war sie mittendrin in einem Bericht über Tobys letzte Eskapaden.

 

Das Foto zeigte Claire und Lucy. Arm in Arm lachten sie in die Kamera. Die Kulisse im Hintergrund sah aus wie der Pier in Brighton. Gemma hatte sich die Aufnahme, die auf der Kommode im Wintergarten gestanden hatte, ausgeliehen. Der pickelgesichtige junge Verkäufer bei Waterstone studierte es aufmerksam, dann warf er sein Haar zurück und sah Gemma und Will mit wachem, intelligentem Blick an. »Hübsches Mädchen. Sie hat Jude, der Unberühmte gekauft. Leider war sie nicht sehr gesprächig.«

  »Sie meinen doch die Tochter?« fragte Gemma eine Spur ungeduldig.

  »Die jüngere, ja. Obwohl die andere auch nicht übel ist«, fügte er mit einem weiteren taxierenden Blick auf das Foto hinzu.

  »Und Sie sind ganz sicher, daß Sie nicht beide gesehen haben?« Gemma, die Angst hatte, daß er das Foto voller Fingerabdrücke machen würde, hätte ihm die Aufnahme am liebsten aus der Hand gerissen.

  Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie mit skeptischer Miene an. »Beschwören kann ich’s natürlich nicht. Es war ziemlich viel los gestern nachmittag, und ich hätte mich vielleicht nicht mal an sie erinnert«, er tippte auf das Abbild von Lucy, »wenn sie nicht an die Kasse gekommen wäre.« Mit einem übertriebenen kleinen Seufzer des Bedauerns reichte er Gemma das Foto zurück.

  Will, der mit mäßigem Interesse ein Buch auf dem Verkaufstisch durchgeblättert hatte, sah auf. »Um welche Zeit war das?«

  Einen Moment lang vergaß der junge Mann seine Pose, während er überlegte. »Nach vier. Um vier mach ich nämlich immer eine Pause, und ich weiß, daß die schon vorbei war, als die Kleine hier war. Genauer kann ich’s nicht sagen.«

  »Danke«, sagte Gemma und bemühte sich, nicht ironisch zu klingen, und Will gab ihm eine Karte mit der üblichen Bitte, der junge Mann solle sich melden, falls ihm noch etwas einfiele.

  »Trottel«, bemerkte Gemma mit gesenkter Stimme, als sie aus der Buchhandlung gingen.

  »Sehr menschenfreundlich sind Sie heute morgen nicht, hm?« meinte Will. »Ihr kleiner Sohn wird in ein paar Jahren genauso sein.«

  »Um Gottes willen«, sagte Gemma, die den scherzhaften Unterton gehört hatte, mit einem Lachen. »Da kann er was erleben. Ich hasse Männer, die jede Frau anschauen, als würden sie sie am liebsten gleich ausziehen.«

  Doch im Lauf ihrer Erkundigungen bei den anderen Geschäften auf ihrer Liste begann sie den pickligen Jüngling mit freundlicheren Augen zu sehen. Niemand sonst nämlich konnte sich erinnern, Claire Gilbert oder Lucy oder beide zusammen gesehen zu haben.

  »Na, wenigstens haben wir’s warm und trocken, das ist doch immerhin etwas«, tröstete Will und lenkte einen Moment Gemmas Aufmerksamkeit vom Schaufenster einer schicken kleinen Boutique ab. Sie hatten den Wagen auf dem Parkplatz in der Bedford Road stehen gelassen, genau wie am Vortag Claire Gilbert, und waren über die Onslow Street ins Einkaufszentrum hinübergegangen, als draußen die ersten windgepeitschten Regentropfen fielen.

  »Hm«, antwortete sie, den Blick schon wieder auf das Kleid im Fenster gerichtet. Es war kurz und schmal und schwarz, die Art Kleid, die sie nie kaufte, weil sie nie Gelegenheit hatte, so etwas zu tragen.

  »Tolles Kleid. Das würde Ihnen bestimmt prima stehen.« Will musterte sie, und sie wurde sich plötzlich bewußt, wie langweilig ihre Hose und ihr Jackett wirkten. »Wann haben Sie sich das letztemal was gekauft, was Sie nicht für die Arbeit gebraucht haben?«

  Gemma runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. So ein Kleid hab ich sowieso noch nie gehabt.«

  »Dann kaufen Sie es sich doch. Na los«, drängte Will. »Tun Sie sich was Gutes. Gehen Sie rein und probieren Sie es an. Ich ruf inzwischen mal auf der Dienststelle an.«

  »Sie haben einen schlechten Einfluß auf mich, Will. Ich kann mir so was gar nicht leisten. Ich sollte lieber ...« Sie grummelte immer noch vor sich hin, als Will ihr zuwinkte und in Richtung einer Telefonzelle davonging. Ohne Publikum hatten die Selbstvorwürfe nicht mehr viel Sinn, und Will hatte ja völlig recht. Sie kaufte immer praktische Sachen, von guter Qualität, neutral, so daß sie sie kombinieren konnte, konservativ, um im Amt nicht als wilde Hummel angesehen zu werden - und sie hatte plötzlich die Nase voll davon. Kurzentschlossen trat sie in den Laden.

  Als sie wieder herauskam, kam sie sich mindestens ein Jahrzehnt älter - die flotte junge Verkäuferin war grauenvoll gönnerhaft gewesen - und schrecklich leichtsinnig vor. Sie hielt Will die Einkaufstüte unter die Nase und sagte anklagend: »Ich kann doch nicht mit der Einkaufstüte in der Hand rumlaufen und die Leute vernehmen.«

  »Rollen Sie sie zusammen und stecken Sie sie in Ihre Tasche.« Will machte es ihr vor. »In dem Ding können Sie ja die Einkäufe für eine ganze Woche verstauen. Mich wundert’s sowieso, daß ihr Frauen nicht alle schon völlig schief seid, wo ihr tagaus tagein diese Riesenbeutel rumschleppt.« Er sah auf seine Uhr. »Wir müssen noch zu Sainsbury’s, aber jetzt hab’ ich erstmal einen Bärenhunger. Kommen Sie, gehen wir schnell was essen. Vielleicht hört inzwischen der Regen auf.«

  Nach einigem Hin und Her einigten sie sich auf Fish-and-Chip-Imbiß im Innenhof und trugen ihre Tabletts zu einem der Plastiktische. Will machte sich mit Appetit über sein Essen her, aber Gemma hatte schon beim ersten fetttriefenden Bissen das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie schob das Tablett weg, und als Will mit gerunzelter Stirn aufsah, schnauzte sie gereizt: »Halten Sie mir jetzt bloß keinen Vortrag, Will. Ich hab’ keinen Hunger. Und ich hasse verkochte Erbsen.« Angewidert stocherte sie mit ihrer Plastikgabel auf dem Teller herum.

  Als er ohne ein Wort sich wieder über seinen Teller neigte, schämte sich Gemma. »Entschuldigen Sie, Will. Ich bin sonst gar nicht so. Wirklich. Es muß mit diesem Fall zu tun haben. Ich sitze wie auf Kohlen. Und wenn die Presse erst von der Sache Wind bekommt, wird es noch schlimmer.«

  »So empfindlich sind Sie, hm?« meinte Will, während er Fisch und Erbsen auf seine Gabel lud und dann noch eine Fritte dazugab. »Aber nervös müßten doch eigentlich unsere beiden Chefs sein. Wenn der Fall für die Oberen nicht schnell genug geklärt wird, könnten schon ein paar Köpfe rollen. Ich möchte jedenfalls nicht in Kincaids oder Deveneys Schuhen stecken. Da lauf’ ich mir lieber jeden Tag im strömenden Regen die Hacken ab.« Er lächelte, und sie fühlte sich in Gnaden wiederaufgenommen.

  Als er seinen Teller von sich wegschob, sagte sie: »Also dann, zu Sainsbury’s?«

  »Und hinterher fahren wir auf der Dienststelle vorbei, und ich mach’ Sie mit den Kollegen bekannt.«

  Weder der Verkäufer in der Delikatessenabteilung noch das Mädchen an der Kasse bei Sainsbury’s waren im geringsten hilfreich. Gemma und Will waren ziemlich entmutigt, als sie wieder auf die Straße traten, aber wenigstens war Wills Wunsch in Erfüllung gegangen, und es hatte zu regnen aufgehört. Die Bürgersteige waren von Menschen bevölkert, die Einkäufe machten, und am Fuß der steil abfallenden Straße konnte Gemma die zarten Farben der Bäume sehen, die die Flußufer säumten.

  »Sie müssen die Stadt bei freundlicherem Wetter sehen«, bemerkte Will. »Sie ist wirklich hübsch, wenn die Sonne scheint, und im Schloß ist ein erstklassiges Museum.«

  »Sie haben schon wieder meine Gedanken gelesen, Will.« Gemma wich einer Frau mit Regenschirm aus. »Ich finde die Stadt sogar bei Regen hübsch. Es muß schön sein, in so einem Ort aufzuwachsen.« Sie dachte an Toby, der gerade erst anfing, in den Straßen Londons seinen Mann zu stehen.

  »Aber ich bin nicht hier aufgewachsen - jedenfalls nicht in Guildford selbst. Wir haben in einem Dorf in der Nähe von Godalming gewohnt. Ich bin ein Bauernjunge - sieht man mir das nicht an?« Er hielt wie zum Beweis seine große, breite Hand hoch. »Sehen Sie die vielen Narben? Ein kleiner Zusammenstoß mit der Heumaschine.« Er berührte eine helle Narbe, die seine Augenbraue durchschnitt. »Das war Stacheldraht. Meine Eltern haben einiges mit mir durchgemacht.«

  »Sie waren ein Einzelkind«, vermutete Gemma.

  »Ein spätes Geschenk, haben meine Eltern immer gesagt.«

  Gemma hätte ihn gern gefragt, was aus dem Hof geworden war, aber etwas in seinem Gesichtsausdruck hielt sie davon ab. Den Rest des Wegs bis zum Parkplatz legten sie schweigend zurück.

  Sie hatte Will gebeten, sie direkt nach Holmbury St. Mary zurückzufahren, für den Fall, daß sie dort gebraucht werden, und kam sich albern vor, als der Constable am Tor sagte, Kincaid und Deveney seien noch nicht zurück und hätten sich auch nicht gemeldet, um eine Nachricht zu hinterlassen.

  »Ich habe ein paar Anrufe zu erledigen«, erklärte sie Will. »Ich warte im Pub.« Mit einem Lächeln winkte sie ihm nach, als er davonfuhr, dann ging sie langsam über die Straße. Es regnete zwar nicht mehr, aber der Asphalt unter ihren Füßen war schmierig, und die Feuchtigkeit hing schwer in der Luft.

  Im Pub roch es nach kaltem Zigarettenrauch. Es war keine Menschenseele zu sehen. Gemma wartete einige Minuten und wärmte sich die Hände am offenen Kamin, in dem noch die Asche vom Mittagsfeuer glühte. Ihr knurrte der Magen, und sie wurde sich plötzlich bewußt, daß sie völlig ausgehungert war. Ein anderer Tag in Surrey wurde lebendig, ein Tag, an dem sie und Kincaid im Garten einer Teestube gesessen hatten und später am Flußufer spazierengegangen waren.

  Tränen brannten in ihren Augen. »Sei nicht so albern!« sagte sie laut und heftig zu sich selbst. Ihr fehlte nichts als eine Mütze voll Schlaf und ein Happen zu essen, sie sollte die Zeit, die sie jetzt für sich hatte, nutzen. Sie rieb sich energisch die Augen und ging zum Tresen, fand aber trotz intensiver Inspektion nicht einmal einen Beutel Chips. Oben, in ihrer Reisetasche hatte sie eine Packung Kekse - sie würde sich eben damit begnügen müssen.

  Sie hatte sich auf bleiernen Füßen kaum die Hälfte der Treppe hinaufgeschleppt, als jemand von oben um die Ecke gesaust kam und direkt mit ihr zusammenprallte. Der Schlag gegen ihre rechte Schulter riß sie herum, sie verlor den Halt und setzte sich mit einem Plumps auf die Treppe.

  »O Gott! Entschuldigen Sie. Ich hab’ Sie gar nicht gesehen - haben Sie sich weh getan?« Der junge Mann mit dem schulterlangen blonden Haar sah mit ängstlicher Besorgnis zu ihr hinunter. Etwas unschlüssig, als wüßte er nicht, ob er ihr helfen oder sich besser vor ihrem Zorn schützen solle, hielt er ihr eine Hand entgegen.

  »Ich habe Sie gestern nacht gesehen«, sagte sie, noch zu benommen, um etwas Angemesseneres hervorzubringen. »Als ich aus dem Bad gekommen bin.«

  »Ich bin Geoff.« Er senkte die Hand und lächelte zaghaft. »Haben Sie sich auch wirklich nichts getan? Nein? Ich hatte keine Ahnung, daß jemand im Haus ist...« Er verdrehte die Augen und murmelte: »Brian wird mir den Kragen umdrehen.«

  Gemma musterte ihn. Pulli und Jeans, dicke Wollsocken, aber keine Schuhe. Kein Wunder, daß sie ihn nicht gehört hatte. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich hab ja selbst nicht aufgepaßt.« Das ovale Gesicht mit den klaren grauen Augen gefiel ihr. Der kleine Schnurrbart, der seine Oberlippe zierte, war kaum mehr als zarter Flaum, dennoch mußte er, schätzte Gemma, mindestens Mitte Zwanzig sein. An den Winkeln der grauen Augen hatten sich schon die ersten feinen Fältchen zusammengezogen, und die Kerben zwischen Mund und Nase verrieten, daß er die frühe Jugend hinter sich hatte.

  Wieder begann ihr Magen zu knurren, so laut, daß auch er es hören konnte, und sie sagte lachend: »Wenn Sie mir verraten, wo ich hier was zu essen finden kann, verzeihe ich Ihnen auf der Stelle.«

  »Kommen Sie mit in die Küche, dann mach ich Ihnen ein Brot«, sagte er bereitwillig.

  »Wirklich? Aber - geht das denn so einfach?« fragte sie, verwundert darüber, daß ein Gast sich hier solche Freiheiten erlauben konnte.

  Einen Moment sah er sie verblüfft an, dann begriff er. »Ach so! Ich bin hier zu Hause. Das hätte ich Ihnen gleich sagen sollen. Ich bin Geoff Genovase - Brian ist mein Vater.«

  Einen Moment sah sie ihn erstaunt an, dann rief sie: »So ist das! Natürlich! Das hätte ich eigentlich sehen müssen.« Jetzt, da sie es wußte, bemerkte sie die Ähnlichkeit in der Haltung seines Kopfes, im Mienenspiel seines Gesichts, wenn er lächelte. »Na, dann ist es sicher in Ordnung.«

  Ein wenig unsicher folgte sie ihm in die Küche hinunter. Er ließ sie sich an einen kleinen Tisch setzen, der neben dem Gasherd eingezwängt war, öffnete dann den Kühlschrank und sah hinein. »Wie wär’s mit Käse und Gewürzgurken? So ein Brot wollte ich mir selbst eben machen.«

  »Wunderbar.« Während er die Zutaten aus dem Kühlschrank nahm, sah sie sich um. Die Küche war klein, aber professionell ausgestattet, vom Herd aus rostfreiem Stahl bis zur narbigen Arbeitsplatte.

  Geoff schnitt den krümeligen Cheddar auf und richtete die Brote mit einer Routiniertheit, der man ansah, daß er es gewöhnt war, in der Küche auszuhelfen. Zwei Minuten später brachte er zwei Teller mit dicken Vollkornbroten an den Tisch.

  »Greifen Sie zu«, forderte er sie auf. »Nur keine falsche Höflichkeit. Ich hab das Wasser schon aufgesetzt. Gleich gibt’s Tee.«

  Während Gemma in ihr Brot biß, füllte er eine braune Keramikkanne mit heißem Wasser, um sie vorzuwärmen. Sie zwang sich, langsam zu essen und gründlich zu kauen, und genoß die Geschmacksmischung aus der buttrigen Würzigkeit des Käses und der pikanten Schärfe der Gürkchen. Nach den ersten Bissen spürte sie, wie ihre Muskeln sich langsam entspannten.

  Geoff goß das warme Wasser aus der Kanne und gab mehrere Löffel Tee hinein. Mit dem Rücken zu ihr sagte er: »Sie sind die Polizeibeamtin aus London, stimmt’s? Brian hat mir erzählt, daß Sie gestern abend gekommen sind.« Er goß kochendes Wasser aus dem Kessel auf den Tee und trug dann die Kanne und zwei Becher zum Tisch. »Milch?«

  Gemma nickte mit vollem Mund.

  Er kehrte zum Kühlschrank zurück und nahm eine Literflasche Milch heraus. »Der Zucker steht auf dem Tisch«, sagte er und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber.

  »Haben Sie ihn gekannt?« fragte Gemma. »Commander Gilbert, meine ich.«

  »Ja, natürlich. Hier kennt jeder jeden.« Sein Ton klang wegwerfend.

  »Es ist wohl ziemlich langweilig, in so einem kleinen Dorf zu leben«, meinte Gemma, durch seinen Ton neugierig geworden. »Ich meine, hier gibt’s doch sicher nicht viel zu erleben.«

  Viele junge Leute blieben bei ihren Eltern im Haus, wenn sie keine Arbeit finden konnten - das war einfach eine wirtschaftliche Tatsache des Lebens. Nach der Trennung von Rob hatte es auch in ihrem Leben Zeiten gegeben, da sie gefürchtet hatte, sie würde mit Toby in der kleinen Wohnung ihrer Eltern über der Bäckerei unterkriechen müssen, und die Vorstellung war ihr entsetzlich gewesen.

  Doch Geoff zuckte nur die Achseln und sagte: »Es geht schon.«

  »Das Brot schmeckt köstlich«, sagte sie und spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Tee hinunter. Als er sie mit einem erfreuten Lächeln ansah, fragte sie: »Und was tun Sie hier? Ich meine, was arbeiten Sie?«

  Er schluckte hinunter, bevor er antwortete. »Ach, alles mögliche. Meistens helfe ich Brian hier im Pub.« Er stand auf und griff in den Hängeschrank über dem Herd. »Schauen Sie her.«

  Er hielt eine Packung Kekse hoch. »Genau der richtige Nachtisch für uns.«

  »Schokoplätzchen?« fragte Gemma mit einem Seufzer der Zufriedenheit. »Oh, und die einfachen. Das sind meine Lieblingsplätzchen.« Sie schälte einen Keks aus der Verpackung und knabberte an seinem Rand. Es war klar, daß Geoff über persönliche Dinge nicht sprechen wollte. Sie würde also auf das Allgemeine zurückgreifen. »Das mit dem Commander war doch sicher ein ziemlicher Schock für Sie. Waren Sie gestern abend hier?«

  »Ich war in meinem Zimmer, aber Brian hat die Polizeiautos vorbeifahren sehen und die Sirenen gehört. Er hat mich runtergerufen an die Bar - es war Johns freier Abend - und ist gleich rübergelaufen. Aber sie haben ihn nicht durchgelassen. Sie haben ihm nur gesagt, es hätte einen Unfall gegeben. Er war ganz von der Rolle, als er zurückgekommen ist. Wir haben erst erfahren, daß es den Commander erwischt hat und nicht Lucy oder Claire, als Nick Deveney einen Constable rübergeschickt hat, um die Zimmer für Sie und Ihren Chef reservieren zu lassen.«

  »Und das hat Sie erleichtert?« fragte Gemma und dachte, wieviel die Menschen doch allein durch die Konstruktion ihrer Sätze oder durch die Betonung bestimmter Wörter verrieten, ohne es zu wollen.

  »Ja, klar.« Geoff lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Wie ich schon gesagt hab - hier kennt jeder jeden, und Lucy ist ein netter Kerl, und Claire - Claire mögen alle.«

  Merkwürdig, dachte Gemma, daß Claire Gilbert, wenn sie wirklich so beliebt war, bei Will Darling Halt gesucht hatte, statt Trost und Hilfe eines anteilnehmenden Nachbarn anzunehmen. »Aber Alastair Gilbert nicht?« fragte sie. »Um ihn hat es Ihnen nicht so leid getan?«

  »Das hab ich nicht gesagt.« Geoff runzelte unmutig die Stirn. Mit der freundschaftlichen Ungezwungenheit zwischen ihnen war es vorbei. »Aber er ist ja nie hier - ich meine, er war nie hier. Er war fast immer in London.«

  »Ich habe ihn gekannt«, sagte Gemma. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn in eine Hand. Flüchtig überlegte sie, warum sie das Kincaid nicht erzählt hatte, dann schüttelte sie es ab. Sie hatte einfach keine Lust gehabt, etwas anzusprechen, das auch nur im entferntesten persönlicher Natur war.

  »Er war mein Superintendent in Notting Hill, als ich bei der Polizei angefangen habe«, fuhr sie fort. Geoff entspannte sich wieder, zeigte Interesse, machte kein so finsteres Gesicht mehr; als hätte Gemma durch diese persönliche Bemerkung die Gleichstellung zwischen ihnen wiederhergestellt. »Aber richtig gekannt habe ich ihn natürlich nicht«, fuhr sie fort. »In Notting Hill waren wir mehr als vierhundert Beamte, und ich war ein viel zu kleines Mädchen, um von ihm überhaupt bemerkt zu werden. Er hat in der ganzen Zeit vielleicht zehn Worte mit mir gewechselt.«

  Der Mann, den sie in Erinnerung hatte, schien ihr kaum etwas mit dem Toten zu tun zu haben, den sie in seinem Blut liegend auf dem Küchenboden im Haus der Gilberts gesehen hatte. Er war klein und adrett gewesen, kultiviert und sehr eigen in seiner Kleidung und seiner Ausdrucksweise, und hatte dem Fußvolk gelegentlich Vorträge über die Wichtigkeit von Regeln und Vorschriften gehalten.

  »>Gilbert führt ein strenges Regiment^ hat mein Sergeant immer gesagt. Aber ich hatte nicht den Eindruck, daß es als Kompliment gemeint war.«

  »Ja, stimmt, er wollte immer, daß sich alles nach ihm richtet.« Geoff brach einen Keks auseinander und schob die eine Hälfte in den Mund. Undeutlich sagte er: »Er hatte dauernd Zoff mit dem Gemeinderat wegen irgendwas, zum Beispiel wollte er unbedingt, daß rund um den Anger das Parken verboten wird, und solches Zeug.« Die zweite Hälfte des Biskuits folgte der ersten, dann schenkte Geoff ihnen beiden Tee nach. »Und vor ungefähr zwei Wochen hatte er Krach mit der Doktorin. Wenn man das einen Krach nennen kann, wenn keiner laut wird.«

  »Ach was?« sagte Gemma. »Worum ging es denn da?«

  »Keine Ahnung. Ich hab’s nicht gehört. Es war an einem Samstag, und ich helf ’ der Doktorin manchmal bei der Gartenarbeit und so, wissen Sie. Als ich zur Küchentür gegangen bin, weil ich sie was wegen dem Kompost fragen wollte, war Gilbert gerade dabei zu gehen. Aber es war was passiert - Sie wissen doch, manchmal spürt man so was einfach, es ist wie ein schlechter Geruch, der in der Luft hängen bleibt. Und Doc Wilson hat so ein verbissenes Gesicht gemacht.«

  »Sie haben hier also eine Ärztin?« fragte Gemma.

  »Wir sind ein richtig feministisches Dorf - eine Ärztin und eine Pfarrerin. Und ich glaub’, der Commander ist mit beiden nicht ausgekommen.«

  Gemma erinnerte sich sehr wohl daran, wie Gilbert die Frauen in seiner Abteilung behandelt hatte; es hatte ans Herablassende gegrenzt. Und er war berüchtigt dafür gewesen, daß er Frauen einfach übersah, wenn eine Beförderung anstand.

  »Ich kann es gar nicht erwarten, sie kennenzulernen«, sagte sie, mit dem Gedanken spielend, Kincaid ein Schnippchen zu schlagen und ohne vorherige Absprache mit ihm die Ärztin zu vernehmen.

  »Gleich heute nachmittag?« Geoff musterte sie teilnahmsvoll. »Sie schauen total erledigt aus.«

  »Danke.«

  Geoff errötete unter ihrem Sarkasmus. »So hab’ ich’s nicht gemeint. Aber Sie schauen echt müde aus.«

  »Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Vielleicht geh’ ich eine Weile rauf in mein Zimmer. Vielen Dank für Ihre Fürsorge. Ich wäre wahrscheinlich zusammengebrochen, wenn Sie mich nicht gerettet hätten.«

  »Es war mir eine Ehre, edles Fräulein.« Er stand auf und machte eine kleine Verbeugung.

  Gemma lachte. Wams und Strumpfhose, dachte sie, hätten ihm nicht schlecht gestanden.

  Sie folgte ihm die Treppe hinauf. Als sie die Tür zu seinem Zimmer erreicht hatten, blieb er stehen. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie noch etwas brauchen. Ich bin jederzeit...«

  Den Rest hörte Gemma nicht mehr. Ein Computer stand auf dem Schreibtisch auf der anderen Seite seines Zimmers, und sie starrte fasziniert auf das Bild auf dem Schirm. »Was ist das?« fragte sie, ohne den Blick von dem Bild zu wenden. Nebelschwaden schienen sich in der gespenstischen dreidimensionalen Szene zu drehen, dennoch konnte sie ein viel-türmiges Schloß erkennen und durch eines seiner Tore einen Blick auf grüne Wiesen und einen Pfad, der zu einem Berg führte.

  »Das ist ein Rollenspiel, ein Abenteuer. Ein junges Mädchen findet sich in ein fremdes Land versetzt, und sie muß nun versuchen, allein mit Hilfe ihrer Geistesgegenwart, ihrer Geschicklichkeit und ihres geringen Wissens über Zauberei zu überleben. Nur wenn sie einem bestimmten Weg folgt und dabei verschiedene Talismane sammelt, kann sie die Geheimnisse des Landes entdecken, und dann besitzt sie die Macht, entweder zu bleiben oder in unsere Welt zurückzukehren.

  Sie können mitspielen. Kommen Sie, ich zeig es Ihnen.« Er nahm sie beim Arm, aber Gemma widerstand der Verlockung und schüttelte den Kopf.

  »Nein. Jetzt nicht.« Sie riß ihren Blick von dem geheimnisvollen Bild und sah Geoff an. »Wofür entscheidet sich das Mädchen am Ende?«

  Der Ausdruck seiner grauen Augen war unerwartet ernst, als er sie ansah. »Das weiß ich nicht. Das hängt immer vom Spieler ab.«