Tiefrote Wände und zurückhaltende Eleganz, das war Kincaids erster flüchtiger Eindruck, als er das Zimmer betrat. Im offenen Kamin brannte ein Feuer. In einem Lehnsessel auf der anderen Seite des Raums saß ein Constable in Zivil mit einer Tasse Tee auf dem Knie. Er schien sich wie zu Hause zu fühlen. Aus dem Augenwinkel nahm Kincaid Gemmas verwunderten Blick angesichts dieser männlichen Stütze wahr, dann zogen die beiden Frauen, die nebeneinander auf dem Sofa saßen, seine Aufmerksamkeit auf sich.
Mutter und Tochter - die Mutter blond, zierlich, mit feingeschnittenem Gesicht; die Tochter eine dunklere Version mit langem Haar, das ein herzförmiges Gesicht umrahmte. Ihr Mund über dem spitz zulaufenden Kinn wirkte übergroß, als Wäre er im Wachstum voraus. Wieso hatte er sich Gilberts Tochter als Kind vorgestellt? Gilbert war, auch wenn seine Frau wesentlich jünger zu sein schien, Mitte Fünfzig gewesen, da hätte man ihm doch eine erwachsene oder beinahe erwachsene Tochter Zutrauen können.
Die beiden Frauen blickten ihm fragend entgegen. Ihre Gesichter wirkten ruhig und gefaßt. Der scheinbaren Idylle am häuslichen Herd widersprach allerdings der Zustand von Claire Gilberts Kleidung. Der weiße Rollkragenpullover hatte vorn einen großen Blutfleck, und auch die Knie ihrer marineblauen Hose hatten dunklere Stellen.
Der Constable hatte seine Tasse weggestellt und war durch das Zimmer gegangen, um halblaut ein paar Worte mit seinem Chef zu wechseln. Deveney nickte ihm zu, als er jetzt das Zimmer verließ, und wandte sich dann den beiden Frauen wieder zu. Er räusperte sich. »Mrs. Gilbert, das sind Superintendent Kincaid und Sergeant James von Scotland Yard. Sie werden Uns bei unseren Ermitdungen unterstützen und würden Ihnen jetzt gern einige Fragen stellen.«
»Natürlich.« Ihre Stimme war leise und klang ein wenig heiser - rauher als Kincaid bei einer Frau ihrer zierlichen Statur erwartet hätte -, aber sehr beherrscht. Doch als Claire Gilbert sich vorbeugte, um ihre Tasse auf den niedrigen Couchtisch zu stellen, zitterte ihre Hand sichtlich.
Kincaid und Gemma setzten sich in die beiden Sessel gegenüber der Couch, und Deveney zog sich den Lehnstuhl heran, den der Constable freigemacht hatte, und ließ sich neben Gemma nieder.
»Ich habe Ihren Mann gekannt, Mrs. Gilbert«, sagte Kincaid. »Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.«
»Danke«, erwiderte sie ruhig und fügte dann hinzu: »Möchten Sie eine Tasse Tee?« Auf dem Couchtisch vor ihr stand ein Tablett mit einer Teekanne und mehreren zusätzlichen Tassen. Als Kincaid und Gemma beide bejahten, beugte sie sich vor und goß ein wenig aus der Kanne in ihre eigene Tasse. Dann lehnte sie sich wieder zurück und sah sich zerstreut um. »Wie spät ist es eigentlich?« fragte sie, aber die Frage schien an niemanden im besonderen gerichtet zu sein.
»Lassen Sie mich das machen«, meinte Gemma, als Claire Gilbert keine weiteren Anstalten machte,ihnen Tee einzuschenken. Sie füllte zwei Tassen mit Milch und dem starken Tee und warf dann Deveney einen fragenden Blick zu. Der schüttelte den Kopf.
Kincaid nahm die Tasse, die Gemma ihm reichte, und sagte: »Es ist sehr spät, Mrs. Gilbert, aber ich würde gern ein, zwei Punkte mit Ihnen durchsprechen, solange Sie sie noch klar im Gedächtnis haben.«
Die Uhr auf dem Kaminsims begann Mitternacht zu schlagen. Claire starrte sie stirnrunzelnd an. »So spät ist es schon? Das wußte ich gar nicht.«
Die Tochter hatte bis dahin so still dagesessen, daß Kincaid ihre Anwesenheit beinahe vergessen hatte; jetzt aber bewegte sie sich unruhig und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Stoff ihrer Kleidung rieb sich raschelnd auf dem rot-weiß gestreiften Chintzbezug des Sofas, als sie sich ihrer Mutter zuwandte und ihr Knie berührte. »Mami, bitte, du mußt dich endlich ausruhen«, sagte sie, und dem inständigen Ton ihrer Stimme entnahm Kincaid, daß sie es nicht zum erstenmal sagte. »Du kannst nicht so weitermachen.« Sie sah Kincaid an und fügte hinzu: »Sagen Sie es ihr, Superintendent. Auf Sie hört sie vielleicht eher.«
Kincaid musterte sie. Zu einem voluminösen Pullover trug sie einen engen schwarzen Minirock. Sie hatte etwas Unfertiges an sich, das Kincaid veranlaßte, seine erste Schätzung ihres Alters Zu revidieren. Sie war sicher noch keine Zwanzig, ging wahrscheinlich noch zur Schule. Ihr Gesicht war blaß und angespannt, und noch während Kincaid sie betrachtete, rieb sie mit dem Handrücken über ihre Lippen, als wollte sie sie am Zittern hindern.
»Sie haben völlig recht ...«,begann er und hielt inne, als ihm bewußt wurde, daß er ihren Namen nicht wußte.
Sie gab ihm sofort Auskunft. »Ich bin Lucy. Lucy Penmaric. Können Sie nicht ...« Von irgendwoher war gedämpftes Bellen zu hören, und Lucy brach mitten im Wort ab. »Das ist Lewis«, erklärte sie. »Wir mußten ihn in Alastairs Arbeitszimmer einsperren, sonst wäre er - na ja, er wäre allen in die Quere gekommen.«
»Ja, natürlich«, antwortete Kincaid zerstreut, während er im stillen vermerkte, was er soeben gehört hatte. Ihr Nachname war nicht Gilbert, und sie sprach von dem Toten als »Alastair«. Also keine leibliche Tochter, sondern eine Stieftochter. Er dachte an den Mann, den er gekannt hatte, und wurde sich bewußt, daß er sich Gilbert beim besten Willen nicht locker und entspannt mit einem großen Hund (der Stimme nach war es einer) zu seinen Füßen vorstellen konnte. Und auch dieses Zimmer mit den schweren Samtstoffen und dem dicken Perserteppich schien kaum für einen Hund geeignet. »Ich hätte Commander Gilbert gar nicht für einen Hundeliebhaber gehalten«, bemerkte er. »Es überrascht mich, daß er einen Hund im Haus geduldet hat.«
»Er hat verlangt ...«
»Alastair war es immer lieber, wenn der Hund draußen im Zwinger war«, unterbrach Claire Gilbert, und Lucy senkte den Blick. Zugleich erlosch der Funke, der ihrem Gesicht flüchtige Lebendigkeit verliehen hatte, als sie von dem Hund gesprochen hatte. »Aber unter den Umständen . . .« Claire lächelte entschuldigend, und wieder streifte ihr Blick ziellos durch den Raum. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Danke, Mrs. Gilbert, wir haben uns schon bedient«, antwortete Kincaid. Lucy hatte recht; ihre Mutter brauchte dringend Ruhe. Ihre Augen wirkten glasig, als stünde sie kurz vor einem Zusammenbruch, und ihre Aufmerksamkeit schien ständig zu wandern. Aber obwohl er wußte, daß er sie schonen sollte, wollte er ihr noch einige wenige Fragen stellen, ehe er sie entließ. »Mrs. Gilbert«, sagte er, »ich weiß, wie schwierig die Situation für Sie ist, aber wenn Sie uns kurz berichten könnten, was genau heute abend geschehen ist, brauchen wir Sie nicht weiter zu belästigen.«
»Lucy und ich sind zum Einkaufen nach Guildford gefahren. Sie bereitet sich auf ihren Abschluß vor, wissen Sie, und sie brauchte ein Buch von Waterstones - das ist die Buchhandlung im Einkaufszentrum. Wir haben ein bißchen in den Läden herumgestöbert und sind dann die High Street hinauf zum Sainsbury’s gegangen.« Claire hielt inne,als Lucy neben ihr eine Bewegung machte, dann sah sie Deveney an und runzelte die Stirn. »Wo ist Darling?«
Gemma und Kincaid tauschten einen Blick, und Kincaid zog fragend eine Augenbraue hoch, Deveney neigte sich zu ihm hinüber und flüsterte: »Sie meint den Constable, der eben hier war. Er heißt Darling.« Sich Claire zuwendend sagte er: »Er ist noch hier, Mrs. Gilbert. Er hilft nur im Augenblick den Kollegen draußen.«
Tränen schossen Claire in die Augen und rannen ihr Gesicht hinunter, aber sie wischte sie nicht weg.
»Was haben Sie getan, nachdem Sie Ihre Einkäufe erledigt hatten, Mrs. Gilbert?« fragte Kincaid nach einer kurzen Pause.
Mit einiger Anstrengung konzentrierte sie sich. »Danach? Wir sind nach Hause gefahren.«
Kincaid sah die stille kleine Straße vor sich, in der sie ihren Wagen stehen gelassen hatten. »Hat jemand Sie gesehen? Ein Nachbar vielleicht?«
Claire schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
Während dieses Austauschs hatte Gemma ruhig ihr Heft und ihren Kugelschreiber aus ihrer Handtasche genommen. Jetzt sagte sie leise: »Um welche Zeit war das, Mrs. Gilbert?«
»Halb acht. Vielleicht auch später. Ich kann es nicht genau sagen.« Sie blickte wie hilfesuchend von Gemma zu Kincaid und sprach dann in etwas festerem Ton. »Wir haben meinen Mann nicht zu Hause erwartet.Er hatte eine Besprechung. Lucy und ich hatten bei Sainsbury’s Nudeln und Fertigsoße gekauft. Ein schnelles Essen, nur für uns beide.«
»Darum waren wir so überrascht, als wir sein Auto in der Garage stehen sahen«, fügte Lucy hinzu, als ihre Mutter nicht weitersprach.
»Was haben Sie dann getan?« fragte Kincaid.
Nach einem raschen Blick zu ihrer Mutter übernahm Lucy den Bericht. »Wir haben Mutters Auto in die Garage gestellt. Als wir dann um die Garagenecke in den Garten kamen, haben wir gesehen, daß die Tür offen ...«
»Wo war der Hund?« fragte Kincaid. »Wie heißt er gleich - Lewis?«
Lucy starrte ihn an, als hätte sie die Frage nicht ganz verstanden, dann sagte sie: »Er war in seinem Zwinger, hinten im Garten.«
»Was für ein Hund ist Lewis?«
»Ein Labrador. Ein ganz süßer Hund.« Lucy lächelte zum erstenmal, und er hörte den Besitzerstolz in ihrer Stimme.
»Hat er irgendwie aufgeregt gewirkt? Oder verstört?«
Mutter und Tochter tauschten einen Blick. Dann antwortete Lucy. »Als wir kamen, nicht. Erst später, als die Polizei gekommen ist. Da hat er so getobt, daß wir ihn ins Haus holen mußten.«
Kincaid stellte seine leere Tasse auf den Tisch, und Claire Gilbert zuckte ein wenig zusammen beim Klirren des Porzellans. »Gehen wir noch einmal zu der Stelle zurück, als Sie die offene Tür gesehen haben.«
Das Schweigen zog sich in die Länge. Lucy rückte etwas näher an ihre Mutter heran.
Im Kamin brach ein Scheit. Eine Funkenfontäne sprühte auf und fiel in sich zusammen. Kincaid wartete noch einen Moment, dann sagte er: »Bitte, Mrs. Gilbert, versuchen Sie, uns möglichst genau zu schildern, was dann geschah. Ich weiß, daß Sie das alles schon einmal mit Chief Inspector Deveney durchgegangen sind, aber vielleicht fällt Ihnen noch irgendeine Kleinigkeit ein, die uns weiterhelfen kann.«
Claire Gilbert nahm die Hand ihrer Tochter und hielt sie fest in der ihren, aber Kincaid konnte nicht erkennen, ob sie Beistand leistete oder Trost suchte. »Sie haben es ja selbst gesehen. Es war alles voller Blut - überall. Ich konnte es riechen.« Sie holte tief Atem, ehe sie weitersprach. »Ich wollte ihn hochheben. Dann fiel mir ein ... ich habe Vor Jahren mal einen Erste-Hilfe-Kurs mitgemacht. Als ich keinen Puls finden konnte, habe ich den Notruf angerufen.«
»Ist Ihnen irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie ins Haus kamen?« fragte Gemma. »Vielleicht in der Küche - etwas, das nicht so war, wie es hätte sein sollen?«
Claire Gilbert schüttelte den Kopf. Die Linien der Erschöpfung um ihren Mund schienen sich zu vertiefen.
»Aber wie ich gehört habe«, sagte Kincaid, »haben Sie den Kollegen gesagt, daß einige Dinge aus dem Haus fehlen.«
»Ja, meine Perlen. Und die Ohrringe, die mein Mann mir zum Geburtstag geschenkt hat ... er hatte sie extra anfertigen lassen.« Claire Gilbert ließ sich zurücksinken und schloß die Augen.
»Dann waren sie sicher sehr wertvoll«, bemerkte Gemma.
Als Claire Gilbert nicht reagierte, warf Lucy ihr einen kurzen Blick zu und sagte dann: »Ja, wahrscheinlich. Ich weiß es wirklich nicht.« Sie entzog ihrer Mutter ihre Hand und hob sie mit bittender Gebärde. »Bitte, Superintendent«, sagte sie, und draußen begann wieder der Hund, der sie wohl gehört hatte, zu bellen und an der Tür zu kratzen.
»Sag ihm, er soll ruhig sein, Lucy«, sagte Claire Gilbert, doch ihr Ton klang teilnahmslos, und sie öffnete nicht einmal die Augen.
Lucy sprang auf, aber da beruhigte sich der Hund schon, und das Bellen ging in klägliches Winseln über, das nach einem Moment versiegte. Lucy setzte sich wieder, ihren Blick flehend auf Kincaid gerichtet.
»Nur noch eines, Lucy, ich verspreche es«, sagte er gedämpft. Dann wandte er sich Claire Gilbert zu. »Mrs. Gilbert, haben Sie eine Ahnung, warum Ihr Mann vorzeitig nach Hause gekommen ist?«
Claire Gilbert drückte eine Hand an ihren Hals. »Nein. Tut mir leid.«
»Wissen Sie, mit wem er verabredet ...«
»Bitte!« Lucy stand auf. Sie fröstelte, ihre Zähne schlugen aufeinander. Mit beiden Armen ihren Oberkörper umschlingend, sagte sie: »Sie hat es doch schon gesagt. Sie weiß es nicht.«
»Laß nur, Schatz.« Claire Gilbert riß sich aus ihrer Lethargie und richtete sich mit einer sichtlichen Anstrengung auf. »Es stimmt schon, was Lucy sagt, Superintendent. Es ist nicht - es war nicht die Gewohnheit meines Mannes, über Dienstliches mit mir zu sprechen. Er hat mir nicht gesagt, mit wem er verabredet war.« Sie stand auf. Einen Moment schwankte sie, und Lucy legte ihr hastig den Arm um die Schultern, um sie zu stützen.
»Bitte, Mami, laß das doch jetzt«, sagte sie und sah wieder Kincaid an. »Kann ich sie jetzt nicht nach oben bringen?« Auf Kincaid wirkte sie wie ein Kind, das tapfer versucht, die Rolle eines Erwachsenen zu übernehmen.
»Gibt es denn niemanden, den Sie holen können?« fragte Gemma, die ebenfalls aufgestanden war. »Eine Nachbarin oder Verwandte?«
»Wir brauchen niemanden. Wir werden schon allein fertig«, antwortete Lucy ein wenig brüsk. Dann schien ihre Tapferkeit sie zu verlassen, und sie fragte zaghaft: »Was wird jetzt - ich meine, mit dem Haus und so? Was passiert, wenn ...«
Deveney antwortete ihr in beruhigendem Ton, aber ohne Herablassung: »Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Miss Penmaric. Ich bin sicher, daß die Person, die das getan hat, nicht zurückkommen wird. Und wir lassen die Nacht über jemanden hier, entweder in der Küche oder vor dem Haus.« Er hielt einen Moment inne, und sie hörten wieder das Winseln des Hundes. »Nehmen Sie doch den Hund einfach mit zu sich hinauf, wenn Sie sich dann wohler fühlen«, meinte er lächelnd.
Lucy überlegte mit ernstem Gesicht. »Ja, das würde ihm gefallen.«
»Wenn es sonst nichts mehr zu besprechen gibt. . .« Claire Gilbert konnte sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten, dennoch schaffte sie es, die Form zu wahren.
»Nein, das ist alles für heute abend, Mrs. Gilbert. Ich danke Ihnen beiden für Ihre Geduld«, sagte Kincaid und blieb schweigend neben Gemma und Deveney stehen, als Mutter und Tochter aus dem Zimmer gingen.
Als die Tür sich geschlossen hatte, schüttelte Nick Deveney den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Ich weiß nicht, ob ich unter solchen Umständen so tapfer durchgehalten hätte. Ein Glück für die beiden, daß sie einander haben, nicht wahr?«
In der Küche war die Spurensicherung noch mitten in der Arbeit, doch war Alastair Gilberts Leichnam inzwischen fortgebracht worden. Das getrocknete Blut bedeckte in Streifen und Wirbeln den Boden; es sah aus wie Malübungen eines Kindes mit Fingerfarben. Deveney entschuldigte sich bei Kin-caid und Gemma, die an der Tür stehengeblieben waren, und ging davon, um mit einem der Beamten zu sprechen.
Kincaid spürte, wie die Spannung, die ihn die letzten Stunden aufrechtgehalten hatte, nachließ. Als er den Kopf nach Gemma drehte, bemerkte er, daß sie ihn aufmerksam musterte. Die Sommersprossen in ihrem Gesicht, sonst kaum wahrnehmbar auf ihrer hellen Haut, hoben sich in scharfem Kontrast von der Blässe ihres Teints ab. Er fühlte plötzlich ihre Erschöpfung als wäre es seine eigene, und das vertraute, intime Bewußtsein ihrer Nähe durchzuckte ihn wie ein Schlag. Als er die Hand hob, um ihre Schulter zu berühren, begann sie zu sprechen, und sie erstarrten beide. Sie hatten ihre Unbefangenheit verloren, die ganze selbstverständliche Kameradschaftlichkeit, die sie so sorgfältig aufgebaut und gepflegt hatten, war dahin, und es schien ihm, als könnte sie selbst seine kleine Geste des Trosts mißverstehen. Verlegen senkte er die Hand und schob sie in die Hosentasche wie um sie der Versuchung zu entziehen.
Als Deveney zu ihnen zurückkehrte, entschuldigte sich Gemma abrupt und ging durch die Tür zum Vorraum hinaus, ohne ihn noch einmal anzusehen.
»Dr. Ling hat versprochen, die Obduktion für den frühen Morgen anzusetzen.« Deveney lehnte sich erschöpft an den Türpfosten und sah geistesabwesend zu, wie einer der Männer von der Spurensicherung Blutproben vom Küchenboden schabte. »Den Herren oben kann’s natürlich nicht schnell genug gehen. Ich lasse meine Leute gleich morgen in aller Frühe von Haus zu Haus traben ...« Er brach ab. Zum erstenmal spiegelte sich etwas wie mißtrauische Vorsicht in seinem Gesicht, als er Kincaid ansah. »Das heißt natürlich, wenn Ihnen das recht ist.«
Die Verteilung der Zuständigkeiten konnte heikel sein, wenn das Yard zur Zusammenarbeit mit einer unabhängigen örtlichen Polizeibehörde zugezogen wurde. Strenggenommen war Kincaid hier der ranghöhere Beamte, doch er hatte nicht das geringste Verlangen, sich Nick Deveney zum Feind zu machen, zumal dieser ein intelligenter und fähiger Mann zu sein schien. Er nickte deshalb zustimmend auf Deveneys letzte Bemerkung. »Natürlich. Vielleicht hat ja jemand den Täter beobachtet.«
»Ja, und vielleicht entdecken wir bei Tageslicht, daß er im ganzen Garten fünf Zentimeter tiefe Fußabdrücke hinterlassen hat«, meinte Deveney grinsend.
Kincaid lachte kurz. »Und dazu einen ganzen Satz prächtiger Fingerabdrücke auf dem Türknauf. Glück müßte man haben! Wie früh ist übrigens >in aller Frühe<?« fragte er gähnend und rieb mit der Hand über sein stoppeliges Kinn.
»Sieben, würde ich sagen. Kate Ling scheint keinen Schlaf zu brauchen. Sie lebt von Kaffee und Formaldehyddämpfen«, sagte Deveney. »Aber sie ist gut, und wir haben Glück, daß sie die Sache übernommen hat.«
Als Gemma sich wieder zu ihnen gesellte, schloß Deveney sie mit einem Lächeln in das Gespräch ein. »Schicken Sie doch Ihren Fahrer mit dem Wagen nach London zurück. Ich habe für Sie hier im Pub Zimmer reserviert - Sie haben doch mit einem längeren Aufenthalt gerechnet?« Als beide nickten, fuhr er fort: »Gut. Wir schicken Ihnen morgen jemanden, der Sie in die Pathologie in Guildford bringt. Und dann ...«Er brach ab, als an der Tür zum Vorraum ein Beamter erschien und ihm winkte. Mit einem Seufzer stieß er sich vom Türpfosten ab. »Bin gleich wieder da.«
»Ich kümmere mich um Williams«, sagte Gemma hastig und ließ Kincaid stehen. Einen Moment lang sah er den Leuten von der Spurensicherung zu, dann ging er vorsichtig um ihr Arbeitsgebiet herum zum Kühlschrank, öffnete ihn und inspizierte seinen Inhalt. Milch, Saft, Eier, Butter und, auf dem untersten Bord, ein Paket hausgemachte Nudeln und ein Plastikbehälter mit fertiger Tomatensoße, beide mit einem Sainsbury-Aufkleber versehen. Keiner der Behälter war geöffnet worden.
»Ich habe Brot und Käse genommen und den Damen ein paar Brote gemacht«, sagte jemand hinter ihm.
Kincaid richtete sich auf und drehte sich herum. »Ah, der Trostspender«, murmelte er, als er in das rosige Gesicht von Constable Darling blickte. »Das war sehr aufmerksam von Ihnen ...« Er schaffte es nicht, den Nachnamen anzufugen.
»Auf so einen Schock brauchte man was, das Leib und Seele zusammenhält«, erklärte Darling ernsthaft, »und es war ja keiner da, der sich um sie gekümmert hätte.«
»Nein, Sie haben ganz recht. Sonst erscheinen ja in so einer Situation meistens gleich irgendwelche hilfsbereiten und neugierigen Nachbarn. Oder auch Verwandte.«
»Mrs. Gilbert hat mir erzählt, daß ihre Eltern beide tot sind«, sagte Darling.
»Ach ja?« Kincaid musterte den Constable einen Moment, dann wies er zur Tür. »Kommen Sie, gehen wir hinaus, da ist es ruhiger.« Als sie in dem relativ stillen Flur waren, sagte er: »Sie haben ziemlich lange mit Mrs. Gilbert und ihrer Tochter zusammengesessen, nicht?«
»Mehrere Stunden, würde ich sagen.«
Eine Lampe auf dem Telefontisch beleuchtete Darlings Gesicht von unten und zeigte ein paar Falten in der Stirn und ein Netz von Fältchen an den Außenwinkeln seiner blauen Augen. Vielleicht war er gar nicht so jung, wie Kincaid auf den ersten Blick geglaubt hatte. »Sie scheinen mir die Situation sehr gut gemeistert zu haben«, bemerkte Kincaid, den die ruhige Selbstsicherheit des Mannes neugierig machte.
»Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, Sir. Da habe ich den Tod oft genug erlebt.« Er betrachtete Kincaid einen Moment, dann seufzte er. »Aber die Geschichte hier, die hat’s irgendwie in sich. Nicht nur, weil Commander Gilbert ein hochrangiger Beamter war. Und auch nicht wegen dieser Riesenschweinerei in der Küche.« Kincaid zog fragend eine Augenbraue hoch, und Darling fügte zögernd hinzu: »Es ist alles so - ich weiß auch nicht - so unangemessen.« Er schüttelte den Kopf. »Klingt blöd, ich weiß.«
»Nein, ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete Kincaid. »Angemessen« wäre vielleicht nicht das Wort gewesen, das er bei einem Mord verwendet hätte, aber dieser Mord erschien tatsächlich wie ein greller Mißton in diesem Milieu. Gewalt hatte in einem so wohlgeordneten und disziplinierten Leben keinen Platz. »Haben Mrs. Gilbert und ihre Tochter miteinander gesprochen, während Sie bei ihnen waren?« fragte er.
Darling lehnte sich mit seinen breiten Schultern an die Wand und starrte auf eine Stelle hinter Kincaids Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Höchstens ein paar Worte. Aber sie haben beide mit mir gesprochen. Ich habe ihnen angeboten, jemanden für sie anzurufen, aber Mrs. Gilbert sagte, nein, sie kämen schon allein zurecht. Sie sagte was davon, daß man ihrer Schwiegermutter Bescheid geben müßte, aber die ist offenbar in einem Pflegeheim, und Mrs. Gilbert hielt es für besser, damit bis morgen zu warten. Bis heute genauer gesagt«, fügte er mit einem Blick auf seine Uhr hinzu, und Kincaid hörte die Müdigkeit in seiner Stimme.
»Ich will Sie nicht aufhalten, Constable.« Kincaid lächelte. »Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen und Ihrem Chef ist, aber ich bin jetzt absolut bettreif.«
Trotz der späten Stunde brannte im Pub noch Licht. Deveney klopfte laut an die Glasscheibe der Tür, und gleich darauf zeigte sich eine schattenhafte Gestalt, und man hörte, wie die Riegel zurückgeschoben wurden.
»Herein, herein«, sagte der Mann, sobald er geöffnet hatte. »Ich bin Brian Genovase«, fügte er hinzu und bot erst Kincaid und dann Gemma die Hand.
Das Pub war überraschend klein. Sie waren direkt in den Raum zur Rechten gelangt, wo ein paar Tische vor einem offenen Kamin gruppiert waren. Auf der linken Seite nahm der Tresen die Mitte der Gaststube ein, auf seiner anderen Seite war ein kleiner Speisesaal.
»Vielen Dank, daß Sie unseretwegen aufgeblieben sind, Brian«, sagte Deveney und ging zum Kamin, um sich über der noch glühenden Asche die Hände zu reiben.
»Ich hätte gar nicht schlafen können. Ich habe mir doch ständig Gedanken gemacht, was da oben los ist.« Genovase deutete mit einer Kopfbewegung die Richtung an, in der das Haus der Gilberts sich befand. »Das ganze Dorf überschlägt sich vor Aufregung, aber keiner hatte den Mut, durch die Absperrung zu gehen, um Genaueres zu erfahren. Ich hab’s versucht, aber der Constable am Tor hat mich abgewiesen.« Er war, während er gesprochen hatte, hinter den Tresen getreten, wo Kincaid ihn jetzt deutlicher sehen konnte. Er war ein großer, kräftiger Mann mit dunklem Haar, das grau zu werden begann, und dem Ansatz eines Bauchs. Sein Gesicht war offen und sympathisch. »Sie brauchen jetzt was zum Aufwärmen«, sagte er und nahm eine Flasche Glenfiddich vom Bord, »und dann können Sie mir alles erzählen, was nicht gerade streng geheim ist.« Er lachte sie an und zwinkerte Gemma zu.
Wie die Lemminge, die es unwiderstehlich ins Meer zieht, waren sie ihm zur Bar gefolgt. Als Genovase die Flasche über das vierte Glas neigte, hob Gemma plötzlich abwehrend die Hand. »Nein, danke, ich glaube, das schaffe ich jetzt nicht. Ich bin zum Umfallen müde. Wenn Sie mir nur sagen, wo ...«
»Warten Sie, ich zeige es Ihnen«, fiel Genovase ihr ins Wort. Er stellte die Flasche nieder und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch.
»Nein, das ist wirklich nicht nötig, vielen Dank«, entgegnete Gemma mit einem Kopfschütteln. »Sie haben sich schon genug Umstände gemacht.«
Mit einem gutmütigen Achselzucken sagte Genovase: »Um die Bar herum, die Treppe hoch, den Gang entlang, die letzte Tür rechts.«
»Danke. Also dann - gute Nacht.« Den Blick auf den freien Raum zwischen Kincaid und Deveney gerichtet, fügte sie hinzu: »Wir sehen uns dann morgen.«
Ein Dutzend Vorwände, sie zurückzuhalten, mit ihr hinaufzugehen, blieben Kincaid im Hals stecken. Was immer er getan hätte, es hätte albern gewirkt und vielleicht genau die Spekulationen herausgefordert, die sie unbedingt vermeiden mußten; er blieb darum sitzen, ohne ein Wort zu sagen, und wartete frustriert und unglücklich, bis sie durch die Tür am anderen Ende der Bar verschwunden war. Auch Deveney hatte ihr nachgesehen und schien Mühe zu haben, seinen Blick von der leeren Türöffnung loszureißen.
Genovase hob sein Glas. »Prost. Der geht aufs Haus, Nick, Sie können mich also nicht wegen Verstoß gegen die Schankkonzession drankriegen, aber ich erwarte eine entsprechende Gegenleistung.«
»In Ordnung«, sagte Deveney und trank von seinem Whisky. »Ah, das tut gut.« Er hielt einen Moment inne. »Sie haben wahrscheinlich gehört, daß Commander Gilbert ermordet worden ist?«
Genovase nickte. »Aber was ist mit Claire und Lucy? Alles in Ordnung?«
»Sie stehen beide unter Schock, aber sonst geht es ihnen gut. Sie haben den Commander gefunden.«
Erleichterung und Bekümmerung mischten sich in Genovases Gesichtsausdruck. »Ach Gott.« Er wischte mit seinem Geschirrtuch über einen unsichtbaren Fleck auf dem Tresen. »War es schlimm? Was...?« Er brach ab, als Deveney leicht den Kopf schüttelte. »Oh, das geht mich wohl nichts an? Entschuldigen Sie.«
»Wir wollen die Einzelheiten vorläufig nicht bekannt werden lassen«, erklärte Deveney mit routinierter Diplomatie.
Es würde schwierig sein, in einem Dorf dieser Größe irgend etwas für längere Zeit geheimzuhalten, das war Kincaid klar, aber sie wollten es versuchen; wenigstens bis alle Nachbarn vernommen worden waren. Es konnte ja sein, daß jemand eine Bemerkung machte, die verriet, daß er etwas wußte, was er eigentlich nicht wissen konnte.
»Waren Sie mit den Gilberts befreundet?« fragte Deveney den Wirt und rutschte auf seinem Hocker etwas nach vorn, um die Ellbogen auf den Tresen stützen zu können.
»Lieber Gott, das Dorf ist klein, Nick. Sie wissen doch, wie es ist. Claire und Lucy sind allgemein beliebt.«
Kincaid trank einen Schluck aus seinem Glas und sagte dann wie beiläufig: »Und der Commander war es nicht?«
Zum erstenmal zeigte Brian Genovase vorsichtige Zurückhaltung. »Das hab ich nicht gesagt.«
»Nein.« Kincaid lächelte ihn an. »Aber trifft es zu?«
Nach einem Moment der Überlegung sagte Genovase: »Lassen Sie mich es so sagen - Alastair Gilbert hat es nicht gerade darauf angelegt, sich bei den Leuten beliebt zu machen. Rauh, aber herzlich war nicht sein Fall.«
»Hatte das einen besonderen Grund?« fragte Kincaid. Gilbert hatte es auch im Dienst nicht darauf angelegt, sich bei seinen Leuten beliebt zu machen, jedenfalls nicht nach Kincaids Erfahrungen mit ihm. Es hatte ganz im Gegenteil den Anschein gehabt, als genösse er es, seine Überlegenheit herauszukehren.
»Nein, das eigentlich nicht. Es war mehr eine Ansammlung kleiner Mißverständnisse, die durch den Klatsch hochgejubelt worden sind. Sie können sich sicher vorstellen, wie das in so einem Dorf ist, da wird manches mächtig aufgebauscht.« Offensichtlich nicht bereit, mehr zu erzählen, leerte Genovase sein Glas mit einem Zug und stellte es auf den Tresen.
Deveney tat es ihm nach und seufzte. »Also, auf diese Geschichte freue ich mich überhaupt nicht, das kann ich Ihnen sagen. Ich überlasse Ihnen den Schleudersitz mit Vergnügen«, fügte er zu Kincaid gewandt hinzu.
»Danke«, sagte Kincaid ironisch. Auch er leerte sein Glas, dann stand er auf und nahm seinen Mantel und seine Reisetasche. »So, das war’s für heute.« Er sah auf seine Uhr und fluchte. »Lohnt sich ja kaum noch, zu Bett zu gehen.«
»Sie haben das letzte Zimmer links, Mr. Kincaid«, sagte Genovase. »Frühstücken können Sie morgen früh hier, wenn Sie möchten.«
Kincaid bedankte sich bei den beiden Männern und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Deveney ihm auf den Arm tippte und leise sagte: »Ihr Sergeant - Gemma - sie ist doch nicht verheiratet?«
Kincaid mußte erst schlucken, ehe er es schaffte, ruhig zu antworten: »Nein, sie ist nicht verheiratet.«
»Ist sie - äh - ungebunden?«
»Das«, erwiderte Kincaid zähneknirschend, »müssen Sie sie schon selbst fragen.«