* 5

 

Verwirrt streckte Gemma den Arm zur anderen Seite des Doppelbetts aus und klopfte auf das Kissen. Leer. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie, daß das schwache graue Licht auf der falschen Seite des Zimmers durchs Fenster fiel.

  Mit einem Ruck fuhr sie in die Höhe. Natürlich. Eine neue Wohnung. Kein Ehemann. Sie schob sich das wirre Haar aus der Stirn. Sie hatte seit Monaten nicht mehr von Rob geträumt und geglaubt, dieser Teil ihrer Vergangenheit sei endlich abgeschlossen.

  Heißes Wasser begann glucksend durch die Heizröhren zu fließen, als der Thermostat sich einschaltete. Erschrocken fragte sie sich, weshalb der Wecker nicht geläutet hatte, dann fiel ihr ein, daß Sonntag war, und sie entspannte sich. Sie schloß die Augen und kuschelte sich wieder in die Kissen, mit diesem besonderen Wohlgefühl, das man empfindet, wenn man früh aufwacht und weiß, daß man noch nicht aufzustehen braucht.

  Doch der Schlaf ließ sich nicht zurückholen. Gedanken an das Gespräch, zu dem sie sich für den späteren Vormittag im Coliseum verabredet hatte, machten sich in ihrem Bewußtsein breit, bis sie schließlich mit einem tiefen Gähnen die Bettdecke zurückschob und die Beine aus dem Bett schwang. Es war ihr logisch erschienen, mit der Überprüfung von Gerald Ashertons Aussage in der Oper selbst anzufangen, und sie stellte fest, daß sie dem kommenden Tag mit einer gewissen angenehmen Aufregung entgegensah.

  Sie krümmte unwillkürlich die Zehen, als ihre Füße den eiskalten Boden berührten, und während sie in ihren Morgenrock schlüpfte, angelte sie nach ihren Hausschuhen. Nun, wenigstens konnte sie die Zeit vor Tobys Erwachen dazu nützen, in aller Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken und sich auf den Tag vorzubereiten.

  Ein paar Minuten später wurde es behaglich warm in der Wohnung. Ihre heiße Kaffeetasse mit beiden Händen umschließend, setzte sie sich an den schwarzen Lattentisch vor dem Gartenfenster und fragte sich wieder einmal, ob sie das Richtige getan hatte.

  Sie hatte ihr Haus in Leyton verkauft - eine Doppelhaushälfte mit vier Zimmern und Garten, ein Symbol aus Ziegelsteinen und Rauhputz für Robs illusorische Zukunftspläne - und anstatt die vernünftige Wohnung in Wanstead zu kaufen, wie sie das eigentlich vorgehabt hatte, hatte sie - das hier gemietet. Kopfschüttelnd sah sie sich um.

  Ihre Maklerin hatte gesagt: »Sie sollen es sich ja nur einmal ansehen, Gemma, mehr verlang ich ja gar nicht. Ich weiß, es ist nicht das, was Sie suchen, aber Sie müssen es einfach sehen.« Und so war sie hergekommen, hatte gesehen und auf der gestrichelten Linie unterzeichnet, unversehens Mieterin der umgebauten Garage hinter einem stattlichen viktorianischen Haus in einer von Bäumen gesäumten Straße in Islington. Das Haus an sich schon war unerwartet, wie es da zwischen zwei von Islingtons elegantesten georgianischen Reihenhauszeilen stand, doch es nahm seinen Platz mit selbstsicherer Würde ein.

  Die Garage war alleinstehend und lag tiefer als der Garten, so daß die Fenster, die eine ganze Wand der Wohnung einnahmen, sich von außen zu ebener Erde befanden. Die Eigentümer, ein Psychiater, der seinen Arbeitsplatz in einem Gartenhäuschen hatte, und seine holländische Frau, hatten die Garage in einem Stil eingerichtet, den die Maklerin als >japanischen Minimalismus< bezeichnete.

  Gemma lachte beinahe laut heraus, als ihr das einfiel. Für mich ist es eher eine Übung in >minimalistischem Wohnen<, dachte sie. Die Wohnung bestand im Grunde genommen aus einem einzigen großen Raum, der mit einem Futon und einigen anderen schicken modernen Stücken möbliert war. Küche und Bad waren in kleinen Nischen untergebracht, und eine Vorratskammer mit einem kleinen Fenster war in Tobys Zimmer umfunktioniert worden. Auf Ungestörtheit konnte man hier nicht hoffen, aber wenn man ein kleines Kind hatte, war Ungestörtheit sowieso nur ein Wunschtraum, und Gemma konnte sich nicht vorstellen, daß sie in der vorhersehbaren Zukunft wieder mit einem Mann Zusammenleben würde.

  Gemmas Möbel und andere Besitztümer waren derweil im Keller unter der Bäckerei ihrer Eltern in der Leyton High Street gelagert. Ihre Mutter hatte über ihre Entscheidung nur den Kopf geschüttelt und mit leichter Mißbilligung gefragt: »Was hast du dir nur dabei gedacht, Kind?«

  Eine ruhige Straße mit Bäumen und einem Park an ihrem Ende. Ein grüner eingefriedeter Garten voll verschwiegener Eckchen und Winkel, in denen sich ein kleiner Junge verstecken kann. Ein Ort voller Geheimnisse und Verheißung. Doch Gemma hatte nur gesagt: »Mir gefällt es, Mama. Und es ist näher beim Yard«, obwohl sie bezweifelte, daß ihre Mutter das verstehen würde.

  Sie fühlte sich von Ballast befreit, auf das Wesentliche reduziert, heiter und zufrieden in der Klarheit dieses Raums.

  Jedenfalls war es bis zu diesem Morgen so gewesen. Stirnrunzelnd überlegte sie, warum sie sich plötzlich so unruhig fühlte, und das Bild des zwölfjährigen Matthew Asherton stieg vor ihr auf.

  Abrupt stand sie auf, schob zwei Weißbrotscheiben in den Toaster, der auf dem Tisch stand, und ging zu Toby, um ihn zu wecken.

  Nachdem sie Toby bei ihrer Mutter abgesetzt hatte, fuhr sie mit der Untergrundbahn bis zum Charing Cross. Der Luftwirbel des davonfahrenden Zugs schlug ihr ihren Rock um die Beine, und fröstelnd hielt sie das Revers ihrer Jacke zusammen. Als sie oben, in der Fußgängerzone hinter St. Martin-in-the-Fields, ins Freie trat und um die Kirche herum in die St. Martins Lane ging, stellte sie fest, daß es draußen nicht besser war. Ein kalter Windstoß, der Staub und Papierfetzen mit sich trug, fegte die Straße hinunter.

  Sie rieb sich die Augen und zwinkerte mehrmals, um wieder klar sehen zu können, dann blickte sie sich um. Vor ihr an der Ecke war das Chandos Pub, und gleich dahinter stand ein großes vertikales Schild mit schwarzen Lettern auf weißem Grund: >London Coliseum<. Blaue und weiße Flaggen mit den aufgedruckten Buchstaben ENO umgaben es und zogen ihren Blick aufwärts. Scharf hob sich die weiße Kuppel vom blauen Himmel ab. Die Aufschrift >English National Opera<, die sich in weißen Lettern quer über die Kuppel zog, war ziemlich zurückhaltend, Gemma vermutete, daß sie abends beleuchtet war.

  Ihr fiel plötzlich ein, daß sie hier schon einmal gewesen war. Sie und Rob hatten sich ein Stück im Albury Theater etwas weiter die Straße hinauf angesehen und waren hinterher zu einem Drink ins Chandos gegangen. Es war ein warmer Abend gewesen, und sie hatten ihr Bier draußen im Freien getrunken, um dem Gedränge und dem Qualm in der Bar zu entkommen. Gemma hatte die Leute beobachtet, die aus dem Opernhaus strömten, angeregt, in lebhaftem Gespräch über die Aufführung, die sie gesehen hatten. »Ich würde auch gern mal in die Oper gehen«, hatte sie sehnsüchtig zu Rob gesagt.

  Er hatte auf seine herablassende Art gelächelt und spöttisch erwidert: »Damit du dir von dicken alten Kühen in albernen Kostümen die Ohren vollkreischen lassen kannst? Sei nicht blöd, Gem.«

  Gemma lächelte bei dem Gedanken an das Foto Caroline Stowes, das sie gesehen hatte. Rob wäre ganz schön von den Socken gewesen. Von wegen alte Kuh.

  Mit einem kleinen Prickeln der Erregung bei ihrem Eintritt in diese glitzernde Märchenwelt stieß sie die Tür zum Foyer auf. »Ich möchte zu Alison Douglas«, sagte sie zu der korpulenten grauhaarigen Frau am Empfang. »Der stellvertretenden technischen Leiterin des Orchesters. Ich bin mit ihr verabredet.«

  »Da müssen Sie nach hinten gehen, Schätzchen«, antwortete die Frau und machte eine Drehbewegung mit ihrem Finger. »Um das Gebäude herum, gleich neben der Laderampe.«

  Einigermaßen ernüchtert ließ Gemma die Pracht und die Wärme des Foyers hinter sich und umrundete das Gebäude in der angezeigten Richtung, bis sie in eine Gasse mit lauter Lieferantenzufahrten für Pubs und Restaurants gelangte. Der Bühneneingang zum Coliseum mit seiner Betontreppe und der schäbigen Tür, von der die Farbe abblätterte, war nur durch das ENO-Logo neben der Tür kenntlich. Gemma stieg die Treppe hinauf und trat durch die Tür in ein kleines Vestibül.

  Links von ihr saß ein Portier in einer verglasten Loge; geradeaus versperrte eine weitere Tür den Weg in die tieferen Regionen. Sie meldete sich beim Portier an, und er reichte ihr lächelnd ein Anmeldeformular zu ihrer Unterschrift. Er war jung, mit sommersprossigem Gesicht und braunem Haar, das verdächtig danach aussah, als hätte es vor nicht allzu langer Zeit ein Irokesenschnitt geziert. Gemma sah genauer hin und bemerkte das kleine Loch in seinem Ohrläppchen, in dem eigentlich ein Ring hätte hängen sollen. Er bemühte sich offensichtlich sehr, bei der Arbeit nur ja keinen ausgeflippten Eindruck zu machen.

  »Ich gebe Miss Alison Bescheid«, sagte er und gab ihr einen Aufkleber, den sie sich ans Revers ihrer Jacke klebte. »Sie wird gleich kommen und Sie holen.« Er griff zum Telefon und murmelte ein paar unverständliche Worte.

  Gemma hätte gern gewußt, ob er am vergangenen Donnerstagabend im Dienst gewesen war. Sein freundliches Lächeln versprach Gutes für eine Befragung, doch sie wollte lieber warten, bis sie ungestört mit ihm sprechen konnte.

  In der Nähe begannen Kirchenglocken zu läuten. »St. Mar-tin’s?« fragte sie.

  Er nickte und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand hinter ihm. »Punkt elf. Man kann seine Uhr danach stellen.«

  Gab es für einen Elfuhrgottesdienst eine Gemeinde, oder war die Kirche nur für Touristen da?

  Sich ihrer Überraschung erinnernd, als Alison Douglas zugesagt hatte, sie an diesem Sonntagmorgen zu treffen, fragte sie den Portier: »Hier geht wohl sogar an einem Sonntagmorgen alles seinen normalen geschäftlichen Gang?«

  Er nickte lächelnd. »Die Sonntagsmatinee. Eines unserer stärksten Zugpferde, besonders wenn so was Populäres wie die Traviata gegeben wird.«

  Verwundert zog Gemma ihren Block aus ihrer Handtasche und blätterte rasch. »Ich dachte, es gäbe Pelleas und Melisande.«

  »Donnerstags und samstags. Die Inszenierungen -«

  Er hielt inne, als eine junge Frau zur Tür hereinkam, dann sagte er kurz zu Gemma: »Sie werden schon sehen.« Er zwinkerte ihr zu. »Alison wird es Ihnen schon erklären.«

  »Guten Tag, ich bin Alison Douglas.« Ihre Hand war kühl, ihr Händedruck energisch. »Lassen Sie sich von Danny nur nicht irre machen. Was kann ich für Sie tun?«

  Sie hatte kurzes hellbraunes Haar, trug einen schwarzen Pulli zum schwarzen Rock und Schuhe mit Plateausohlen, mit denen sie fast so groß wie Gemma war. Das Bemerkenswerteste an ihr jedoch war ihre Art, sich selbst ganz ernst zu nehmen.

  »Können wir uns hier irgendwo in Ruhe unterhalten? In Ihrem Büro vielleicht?«

  Alison zögerte, öffnete dann die Tür zu den inneren Räumen und gab Gemma mit einer Kopfbewegung zu verstehen, daß sie ihr vorausgehen solle. »Am besten kommen Sie einfach mit. Wir haben in knapp drei Stunden eine Aufführung«, fügte sie hinzu, »und ich habe noch eine Menge zu tun. Wenn Sie nichts dagegen haben, könnten Sie mich einfach begleiten, und wir unterhalten uns unterwegs.«

  »In Ordnung«, stimmte Gemma zu, da sie bezweifelte, daß ihr ein besseres Angebot gemacht werden würde.

  Sie befanden sich in einem unterirdischen Labyrinth dunkelgrüner Korridore. Gemma, die sofort die Orientierung verloren hatte, blieb Alison Douglas dicht auf den Fersen, während es in verwirrender Folge rechts und links ging, auf und ab, rundherum. Ab und zu sah sie auf den schmutzig grünen Teppich unter ihren Füßen und fragte sich, ob sie die Form einzelner besonderer Schmutzflecken wiedererkennen würde. Würde sie ihnen folgen können wie Hänsel und Gretel den Brotkrumen? Die Gerüche nach feuchtem Moder und Desinfektionsmitteln reizten sie zum Niesen.

  Alison drehte sich nach ihr herum, um etwas zu ihr zu sagen, blieb plötzlich stehen und lächelte. Gemma war sicher, daß sie ihr ihre Verwirrung angesehen hatte, und war ausnahmsweise einmal dankbar dafür, daß ihr Gesicht jede ihrer Regungen verriet.

  »Wir sind hier hinter der Bühne«, erklärte Alison, nicht mehr ganz so brüsk, wie sie zu Anfang gewesen war. »Ziemlich ernüchternd, nicht wahr? Aber hier ist in Wirklichkeit das Herz des Theaters. Ohne das hier alles« - sie machte eine umfassende Handbewegung - »passiert vorn gar nichts.«

  Gemma vermutete, Alisons Zunge lasse sich am ehesten lösen, wenn man mit ihr über ihre Arbeit sprach. »Miss Douglas, ich verstehe offen gestanden nicht ganz, was Sie hier für eine Aufgabe haben.«

  Alison setzte sich wieder in Bewegung, während sie sprach. »Mein Chef - Michael Blake - und ich sind für die gesamte Verwaltungsarbeit, die zur Führung eines Orchesters gehört, zuständig. »Wir -« Mit einem Blick auf Gemmas Gesicht zögerte sie, offenbar bemüht, die einfachste Erklärung zu finden. »Wir sorgen dafür, daß alles und jeder an dem Ort ist, wo er sein sollte. Das kann manchmal sehr anstrengend und mühsam sein. Und Michael ist im Augenblick für einige Tage verreist.«

  »Haben Sie auch mit den Dirigenten selbst zu tun?« hakte Gemma sofort nach, aber da machte der Korridor wieder einen Knick, und Alison schob den verschossenen Plüschvorhang zur Seite, der ihnen den Weg versperrte. Sie wich zurück, um Gemma den Vortritt zu lassen.

  Überrascht blieb Gemma stehen. Alison, die neben sie getreten war, sagte gedämpft: »Es ist schon erstaunlich, nicht wahr? Ich habe mich schon so daran gewöhnt, daß es mir nur noch auffällt, wenn ich es mit den Augen eines anderen sehe. Wir haben hier das größte Theater im West End, mit dem größten Bühnenhaus in London. Das macht es uns möglich, mehrere Produktionen gleichzeitig auf die Bühne zu bringen.«

  Der riesige Raum summte vor Geschäftigkeit. Bühnenbilder verschiedener Inszenierungen standen in surrealem Nebeneinander herum. »Oh«, sagte Gemma, während sie zusah, wie ein riesiges Stück Steinmauer von zwei Männern in Overalls mit Leichtigkeit durch den Raum gerollt wurde. »Das meinte Danny also. Donnerstags und samstags dirigiert Sir Gerald Pelleas und Melisande, freitags und sonntags wird das andere Stück aufgeführt - ich weiß nicht mehr, wie es hieß.«

  »La Traviata. Da, schauen Sie.« Alison wies zur Bühne. »Da ist Violettas Ballsaal, in dem sie und Alfredo ihr erstes Duett singen. Und dort« - sie zeigte auf das Stück Steinmauer, das jetzt säuberlich in eine Aussparung eingepaßt worden war - »das ist ein Teil von König Arkels Schloß aus Pelleas.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, sah dann wieder Gemma an und sagte: »Ich muß dringend noch ein paar Dinge erledigen. Sehen Sie sich inzwischen hier um, ja? Sobald ich fertig bin, hol ich Sie hier wieder ab. Dann können wir auf einen Sprung in die Kantine gehen.« Mit den letzten Worten entfernte sie sich bereits von Gemma.

  Gemma ging über die Bühne zur Rampe und sah sich um. Vor ihr stiegen die Sitzreihen des Zuschauerraums an, barocke Pracht in blauem Samt mit Goldverzierung. Die Leuchter hingen wie glitzernde Monde hoch über ihr aus der Kuppel herab. Sie stellte sich den riesigen Saal mit Menschen gefüllt vor, die gespannt ihre Blicke auf sie richteten und darauf warteten, daß sie den Mund öffnete und zu singen begann. Ihr wurde plötzlich ganz kalt. Caroline Stowe mochte zierlich und zart wirken, aber sich auf einer solchen Bühne zu präsentieren und der erwartungsvollen Menge gegenüberzutreten, bedurfte einer Art von Kraft, die Gemma nicht besaß.

  Sie blickte in den Orchestergraben hinunter und lächelte. Sir Gerald wenigstens genoß einen gewissen Schutz und konnte den Zuschauern den Rücken kehren.

  Von irgendwoher vernahm sie Musik, eine eingängige, heitere Melodie, die von Frauenstimmen getragen wurde. Sie machte kehrt und ging wieder nach hinten, lauschte, um mehr zu hören, doch das Klopfen und Hämmern rund um sie herum übertönte die Musik, so daß sie nicht einmal feststellen konnte, aus welcher Richtung sie kam. Sie merkte erst, daß Alison Douglas wieder da war, als diese sie ansprach. »Haben Sie den Orchestergraben gesehen? Wir quetschen hundertneunzehn Musiker in diesen Raum, wenn Sie sich das vorstellen können, Ellbogen an -«

  Gemma berührte ihren Arm. »Diese Musik - was ist das?«

  »Was -?« Alison lauschte einen Moment verwundert, dann lächelte sie. »Ach so, das ist aus Lakme, MaUikas Duett mit Lakme im Garten des Hohen Priesters. Eine der Sängerinnen, die in La Traviata auftritt, singt im nächsten Monat im Covent Garden die Mallika. Sie versucht sich wahrscheinlich darauf einzustimmen, indem sie Platten hört.« Schon wieder sah sie auf die Uhr und sagte dann: »Wir können eine Tasse Tee zusammen trinken, wenn Sie das möchten.«

  Die Musik verklang. Während Gemma Alison wieder durch das Gewirr von Korridoren folgte, fühlte sie sich seltsam traurig, als hätte etwas sehr Schönes und Flüchtiges sie berührt. »Und nimmt diese Oper ein glückliches Ende?« fragte sie Alison.

  Alison warf einen Blick über ihre Schulter und lachte erheitert. »Natürlich nicht. Am Ende opfert sich Lakme, um ihren Geliebten zu schützen.«

  In der Kantine roch es nach Bratenfett. Gemma saß Alison Douglas gegenüber, trank Tee, der so stark war, daß der Löffel darin steckenblieb, und versuchte vergeblich, es sich in dem vorgeformten Plastiksessel bequem zu machen. Um sie herum tranken Männer und Frauen in völlig normaler Kleidung Tee und aßen Sandwiches, doch die Gesprächsfetzen, die Gemma auffing, enthielten so viele technische Ausdrücke, daß man hätte meinen können, eine fremde Sprache zu hören. Sie zog ihren Block aus ihrer Handtasche und legte ihn auf den Tisch.

  »Miss Douglas«, sagte sie, als sie sah, daß Alison mit einer Fingerspitze auf ihre Armbanduhr klopfte. »Ich verstehe, daß Ihre Zeit knapp ist. Ich werde Sie nicht länger als unbedingt nötig aufhalten.«

  »Ich weiß nicht recht, wie ich Ihnen überhaupt helfen kann. Ich meine, ich weiß natürlich von der Geschichte mit Sir Geralds Schwiegersohn. Wirklich schlimm.« Ihre Miene trübte sich, und sie sah plötzlich sehr jung und unsicher aus wie ein Kind, das zum erstenmal mit einem tragischen Ereignis konfrontiert wird. »Aber ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.«

  Gemma schlug ihren Block auf und legte ihren Kugelschreiber neben ihn. »Arbeiten Sie eng mit Sir Gerald zusammen?«

  »Nicht enger als mit den anderen Dirigenten.« Alison hielt inne und lächelte. »Aber es macht mir mehr Spaß. Er ist ein ausgesprochen netter Mann. Die Ruhe selbst, im Gegensatz zu manchen anderen.«

  Gemma, die nicht gern zugeben wollte, daß sie keine Ahnung hatte, wie das System funktionierte, improvisierte und fragte. »Dirigiert er häufig?«

  »Mehr als alle anderen außer unserem Musikdirektor.« Alison beugte sich über den Tisch zu Gemma und senkte ihre Stimme. »Man hat ihm die Position einmal angeboten, aber er hat sie abgelehnt. Das war allerdings Vor Jahren, lange vor meiner Zeit. Er sagte damals, er wolle mehr Freiheit haben, mit anderen Orchestern zusammenzuarbeiten, aber ich glaube, es hatte mit seiner Familie zu tun. Er und Dame Caroline hatten damals im Sadler’s Wells zusammen bei der Truppe angefangen - es wäre nun naheliegend gewesen, ihn zum Direktor zu machen.«

  »Singt Dame Caroline noch hier an der Oper? Ich meine, ist sie nicht - sie hat doch eine erwachsene Tochter ...«

  Alison lachte. »Sie meinen, daß sie für ihren Beruf zu alt ist, stimmt’s?« Wieder beugte sie sich vor. Ihr lebhaftes Mienenspiel verriet, welche Freude es ihr machte, die Uneingeweihten zu belehren. »Die meisten Sopransängerinnen finden erst in ihren Dreißigern wirklich zu ihrer Form. Es braucht jahrelange Arbeit und Übung, um eine Stimme zu entwickeln, und wenn man zu früh zuviel singt, kann der Stimme nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt werden. Viele erreichen ihren Höhepunkt, wenn sie in den Fünfzigern sind, und einige Ausnahmesängerinnen können auch danach noch weitermachen. Ich muß allerdings zugeben, daß es manchmal etwas komisch wirkt, wenn sie dann noch die jugendliche Naive spielen.« Sie lachte und fuhr dann ernst fort: »Aber bei Caroline Stowe wäre das sicherlich nicht der Fall gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie je lächerlich wirkt, ganz gleich, wie alt sie ist.«

  »Sie sagten eben >es wäre nicht der Fall gewesen<. Ich verstehe nicht -«

  »Sie hat sich ganz von der Bühne zurückgezogen. Vor zwanzig Jahren schon, als ihr Sohn umkam. Sie ist danach nie wieder öffentlich aufgetreten.« Alison hatte wieder die Stimme gesenkt, und obwohl sie ein angemessen betrübtes Gesicht machte, erzählte sie die Geschichte mit dem Genuß, in dem sich die Leute im allgemeinen über das Unglück anderer ergehen. »Und sie war wirklich genial. Sie hätte eine der berühmtesten Sopranistinnen unserer Zeit werden können.« Mit echtem Bedauern schüttelte Alison den Kopf.

  Gemma trank einen letzten Schluck von ihrem bitteren Tee und schob die Tasse weg. »Wieso dann der Titel, wenn sie aufgehört hat zu singen?«

  »Sie ist eine der besten Gesangslehrerinnen in England, wenn nicht der Welt. Viele Sängerinnen, von denen wirklich Großes zu erwarten ist, sind von ihr unterrichtet worden und werden immer noch von ihr unterrichtet. Außerdem hat sie unheimlich viel für unser Unternehmen getan.« Alison lächelte ein wenig ironisch und fügte hinzu: »Sie ist eine sehr einflußreiche Frau.«

  »Offensichtlich«, meinte Gemma, die daran dachte, daß es Dame Caroline und Sir Gerald gewesen waren, die erreicht hatten, daß Scotland Yard die Ermittlungen über Connor Swanns Tod übernahm. Etwas abrupt das Thema wechselnd, sagte Gemma: »Wissen Sie, um welche Zeit Sir Gerald am Donnerstag abend das Theater verlassen hat?«

  Alison überlegte einen Moment mit gekrauster Stirn. »Nein, das weiß ich wirklich nicht. Ich habe unmittelbar nach der Aufführung in seiner Garderobe mit ihm gesprochen, das war so gegen elf, aber ich bin höchstens fünf Minuten geblieben. Ich hatte noch eine Verabredung«, fügte sie mit einem vielsagenden Lächeln hinzu. »Am besten fragen Sie Danny. Der hatte an dem Abend Dienst.«

  »Wirkte Sir Gerald in irgendeiner Weise erregt? War an diesem Abend irgendwas anders als sonst?«

  »Nein, nicht daß ich -« Alison brach ab, die Hand an der Teetasse. »Warten Sie. Da war doch was. Tommy war bei ihm. Die beiden kennen sich praktisch seit Ewigkeiten«, fügte sie eilig hinzu, »aber wir sehen Tommy sehr selten nach einer Aufführung, und schon gar nicht in der Garderobe des Dirigenten.«

  Gemma, die das Gefühl hatte, daß ihr die Fäden dieses Gesprächs entglitten, fragte: »Und wer genau ist Tommy?«

  Alison lächelte. »Ach, ich hab vergessen, daß Sie das nicht wissen können. Tommy ist Tommy Godwin, unser Kostümier. Und er ist nicht so einer, der so tut, als sei ein Besuch von ihm hier eine göttliche Gnade, wie ich das von einigen anderen Kostümbildnern kenne« - sie verdrehte die Augen -, »aber wenn er hier im Theater ist, hat er im allgemeinen mit dem Kostümwechsel und dergleichen alle Hände voll zu tun.«

  »Ist er heute hier?«

  »Nicht daß ich wüßte. Aber ich denke, Sie können ihn morgen im LB-Haus erreichen.« Diesmal war Gemmas Verwirrung wohl offensichtlich; ehe sie eine Frage stellen konnte, setzte Alison hinzu: »Das ist das Lilian-Baylis-Haus in West Hampstead, wo unsere Kostümwerkstätten sind. Moment.« Sie griff nach Gemmas Block. »Ich schreibe Ihnen Adresse und Telefonnummer auf.«

  Ein Gedanke kam Gemma, als sie Alison schreiben sah. »Haben Sie eigentlich Sir Geralds Schwiegersohn Connor Swann einmal kennengelernt?«

  Alison Douglas errötete. »Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet. Er kam manchmal zu ENO-Veranstaltungen.« Sie schob Block und Kugelschreiber über den Tisch und griff sich an den Kragen ihres schwarzen Pullovers.

  Gemma neigte leicht den Kopf, während sie die Frau betrachtete, die ihr gegenübersaß - attraktiv, etwa in ihrem Alter, unverheiratet, nach der schmucklosen linken Hand und der Verabredung, von der sie gesprochen hatte, zu urteilen. »Heißt das, daß er Annäherungsversuche gemacht hat?«

  »Es war ihm überhaupt nicht ernst damit«, erwiderte Alison beinahe entschuldigend. »Sie wissen doch, das merkt man.«

  »Viel Gedöns und nichts dahinter?«

  Alison zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hatte einfach ein Faible für Frauen - er gab einem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.« Sie blickte auf, und zum erstenmal bemerkte Gemma, daß sie sehr klare, hellbraune Augen hatte. »Wir haben natürlich alle darüber gesprochen. Sie wissen ja, wie geklatscht wird. Aber eben hab ich mir eigentlich zum erstenmal wirklich vorgestellt ...« Sie schluckte einmal, dann fügte sie langsam hinzu: »Er war ein sehr netter Mann. Es tut mir leid, daß er tot ist.«

  Die Tische in der Kantine leerten sich rasch. Alison blickte auf und schnitt eine Grimasse, dann führte sie Gemma eilig in das Gewirr dunkelgrüner Korridore zurück. Mit einer kurzen Entschuldigung ließ sie Gemma im kleinen Vestibül in der Obhut des Portiers zurück.

  »Hallo, Miss«, sagte Danny vergnügt. »Na, haben Sie bekommen, was Sie wollten?«

  »Nicht ganz.« Gemma lächelte ihn an. »Aber vielleicht können Sie mir helfen.« Sie zog ihren Dienstausweis aus ihrer Handtasche und zeigte ihn ihm.

  »Wahnsinn!« Er riß die Augen auf und betrachtete sie von oben bis unten. »Sie sehen überhaupt nicht wie ein Bulle aus.«

  »Nur nicht frech werden, Sportsfreund«, sagte sie lachend. Sie stützte ihre Ellbogen auf die Ablage unter dem Portiersfenster und beugte sich mit ernster Miene vor. »Können Sie mir sagen, um welche Zeit Sir Gerald am vergangenen Donnerstag abend hier weggegangen ist?«

  »Aha, jetzt geht’s wohl um Alibis?« fragte Danny, so gespannt und begierig wie ein kleiner Junge, der Detektiv spielt.

  »Im Moment geht es nur darum festzustellen, was jeder, der möglicherweise mit Connor Swann am Tag seines Todes Kontakt hatte, zur fraglichen Zeit getan hat«, antwortete Gemma, die Mühe hatte, nicht zu lachen.

  Danny zog sich einen Hefter heran, der auf einem Stapel anderer lag, und öffnete ihn hinten. »Hier«, sagte er, nachdem er einige Seiten zurückgeblättert hatte, und hielt das Blatt hoch, so daß Gemma es sehen konnte. »Punkt Mitternacht. So hatte ich’s auch in Erinnerung, aber ich dachte, Sie wollen wahrscheinlich - wie sagt man gleich, eine Bestätigung?«

  Sir Geralds Unterschrift paßte zu dem Mann, fand Gemma, großzügig und kräftig. »Bleibt er immer so lang nach einer Aufführung, Danny?«

  »Manchmal.« Der junge Mann richtete seinen Blick wieder auf das Blatt. »Aber an dem Abend war er der letzte, der ging. Ich erinnere mich daran, weil ich endlich abschließen wollte - ich hatte noch was vor, verstehen Sie.« Er zwinkerte Gemma zu. »Aber irgendwas war da«, sagte er zögernd. »An dem Abend ... Sir Gerald ... Naja, er hatte einen in der Krone.«

  Gemma gelang es nicht, ihre Überraschung zu verbergen. »Sir Gerald war betrunken?«

  Danny senkte verlegen den Kopf. »Ich sag’s nicht gern, Miss. Sir Gerald hat für jeden immer ein freundliches Wort. Ganz im Gegensatz zu einigen anderen.«

  »Ist so etwas schon einmal vorgekommen?«

  Danny schüttelte den Kopf. »Soweit ich mich erinnern kann, nicht. Und ich bin jetzt seit über einem Jahr hier.«

  Gemma schrieb sich das alles eilig auf, dann steckte sie ihren Block wieder ein. »Vielen Dank, Danny. Das war eine echte Hilfe.«

  Um einiges gedämpfter als zuvor, schob er ihr das Anmeldeformular zur Unterschrift hin.

  »Also dann, Tschüs«, sagte sie, als sie sich zur Tür wandte.

  Noch ehe sie sie geöffnet hatte, rief Danny ihr nach: »Da ist noch was, Miss. Der Schwiegersohn, Sie wissen schon, der jetzt tot ist ...« Er hob seinen Hefter hoch und wies auf einen Eintrag nicht weit von dem Sir Geralds. »Der war an dem Tag auch hier.«