Gemma ließ sich von Will, der nach Guildford zurück mußte, in Holmbury St. Mary absetzen, wo sie sich mit Kincaid verabredet hatte. Es war fast zwei Uhr, und die Sonne hatte den Morgendunst aufgeweicht. Will fuhr los und Gemma blieb einen Moment am Rand des Angers stehen, hob ihr Gesicht dem Licht entgegen, bis Sterne hinter ihren geschlossenen Lidern zu tanzen begannen. Selten war der November so freundlich, und es war nicht damit zu rechnen, daß es dauern würde. Dies war ein Tag, um Modellsegelboote fahren zu lassen, ein Tag, um Erinnerungen an Sonne und Wärme für die langen dunklen Wintertage zu speichern.
Sie hörte, wie unmittelbar vor ihr ein Auto anhielt, und als sie die Augen öffnete, sah sie einen kleinen roten Vauxhall vor sich am Bordstein stehen. Die Frau am Steuer kurbelte ihr Fenster herunter und beugte sich hinaus. »Sie scheinen sich hier nicht auszukennen. Kann ich Ihnen weiterhelfen?« Sie hatte eine etwas rauchige, angenehme Stimme, platinblondes Haar und eine unglaublich große Höckernase.
Verlegen, in ihrer Tagträumerei ertappt worden zu sein, stotterte Gemma: »Ich - äh - vielen Dank, ich komm’ schon zurecht. Ich warte nur auf jemanden.«
Die Frau musterte sie, bis Gemma sich unbehaglich zu fühlen begann. »Sie sind wohl Sergeant James. Ich habe schon von Ihnen gehört, vor allem von Geoff. Ich bin Madeleine Wade.« Sie schob ihre Hand durch das Fenster, und Gemma ergriff sie zu kurzer Begrüßung. »Falls Sie nach Ihrem Superintendent Ausschau halten, ich habe ihn in letzter Zeit nicht gesehen. Tschüs.« Mit einem Winken legte Madeleine Wade den Gang ein und fuhr davon.
Gemma, die ihr verblüfft nachblickte, klappte ihren Mund zu und fragte sich, wieso sie das Gefühl hatte, soeben auseinander-genommen und wieder zusammengesetzt worden zu sein. Und hatte sie auf dem Wörtchen »Ihr« vor dem »Superintendent« eine besondere Betonung vernommen oder bildete sie sich das nur ein? Mit einem Achselzucken überquerte sie die Straße und ging zum Parkplatz des Pub, aber der Rover stand nicht dort.
Langsam wanderte sie die zwischen Hecken eingebettete Straße hinauf und betrachtete nachdenklich das Haus der Gilberts. Sollte sie die Gelegenheit ergreifen und mit Claire Gilbert allein sprechen, oder würde sie Kincaid damit ins Handwerk pfuschen? Sie hatte den Eindruck, daß zwischen ihr und Claire sich eine Art Beziehung angebahnt hatte, und sie vielleicht allein eher die Möglichkeit haben würde, Claires Vertrauen zu gewinnen.
Sie trat durch das Gartentor, ging aber nicht zu der düsteren, streng wirkenden Haustür, die ihr Alastair Gilberts Anwesenheit im Haus zu symbolisieren schien, sondern folgte dem Weg zum Garten.
Der Anblick, der sie empfing, war idyllisch. Auf einem Stuhl aus weiß lackiertem Schmiedeeisen, der auf ein sonniges Fleckchen im grünen Rasen hinausgebracht worden war, saß Claire Gilbert in einer viktorianisch anmutenden Bluse mit Stehkragen und einem buntgeblümten Sommerrock. Lucy hockte neben ihr auf dem Boden, den Kopf ans Knie ihrer Mutter gelehnt, und Lewis sprang übermütig mit einem Tennisball im Maul herum, den er prompt fallen ließ, um Gemma entgegenzustürmen.
»Hallo, Sergeant«, sagte Claire, als Gemma über den Rasen kam. »Holen Sie sich noch einen Stuhl und setzen Sie sich zu uns. Ist dieses Wetter nicht götttlich?« Sie hob eine Hand zum wolkenlos blauen Himmel. »Trinken Sie ein Glas Zitronenlimonade. Lucy hat sie selbst gemacht.«
»Ich hole Ihnen nur schnell ein Glas«, erklärte Lucy lächelnd und sprang auf. »Nein, Lewis«, schimpfte sie, als sie Gemma einen Stuhl brachte. »Sie will jetzt nicht mit dir spielen, du dummer Kerl.« Der Hund neigte hechelnd mit hängender rosa Zunge, die sich hell von seiner dunklen Schnauze abhob, den Kopf zur Seite.
»Ich komme mir vor wie ein Erzfaulpelz«, sagte Gemma, als sie sich auf den Stuhl niederfallen ließ.
Claire schloß die Augen. »Nichtstun ist manchmal das Beste. Wir gönnen es uns nur viel zu selten.«
»Ich habe das Gefühl, ich bekomme das heute von allen Seiten zu hören. Ist da vielleicht eine Verschwörung im Gang?«
Claire lachte. »Hat man Ihnen als Kind auch eingebleut, daß sich regen Segen bringt? Merkwürdig, wie schwer es ist, diese alten Regeln abzuschütteln.«
Lucy kam mit einem Glas Zitronenlimonade für Gemma zurück und setzte sich wieder neben den Stuhl ihrer Mutter. »Was abzuschütteln?« fragte sie, zu den beiden Frauen aufblickend.
»Dinge, die wir von Kindesbeinen an gelernt haben«, antwortete Claire in leichtem Ton und strich ihrer Tochter über das Haar. »Brav zuzuhören, zu gefallen, zu tun, was von einem erwartet wird. Richtig, Sergeant?« Sie warf Gemma einen leicht spöttischen Blick zu. »Ich kann Sie nicht >Sergeant< nennen - Sie heißen Gemma, nicht wahr?«
Gemma nickte. Sie dachte an den Unabhängigkeitsgeist ihrer Mutter, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, wenn es darum ging, ihrer Meinung Ausdruck zu geben. Aber obwohl Gemma seit ihrer Kindheit diesem Einfluß ausgesetzt gewesen war, hatte sie vor Rob gekuscht und sich jeder seiner Launen gebeugt, als wäre er der große Herrscher. Es schauderte sie bei der Erinnerung. Wodurch wurde solches Verhalten hervorgebracht, und wie schützte man sich davor?
»Ich mach’ mich jetzt lieber schon mal fertig«, sagte Lucy, Gemma aus ihren Gedanken reißend. »So kann ich ja schlecht gehen. Lewis hat mich ganz vollgesabbert.« Sie wischte sich über die Bluse.
»Ach, wohin gehen Sie denn?« fragte Gemma.
»Wir führen Gwen zum Tee aus, und Mama hat gesagt, ich soll mich >ordentlich< anziehen. Ich hasse dieses Wort, Sie auch?«
»Ja, es ist gräßlich« stimmte Gemma lächelnd zu. »Wie geht es denn Ihrer Schwiegermutter?« wandte sie sich an Claire.
»Ich komme auch gleich, Schatz«, sagte Claire zu ihrer Tochter, ehe sie sich wieder Gemma zuwandte. »Den Umständen entsprechend, könnte man sagen. Der Schock scheint sie ein wenig verwirrt zu haben. Manchmal vergißt sie, was passiert ist, aber wenn es ihr wieder einfällt, macht sie sich Gedanken wegen der Beerdigung.« Claire blickte in die Bäume am Hang hinter dem Garten. Als die Küchentür hinter Lucy zugefallen war, sagte sie: »Da wir keine Ahnung haben, wann der Leichnam freigegeben wird, meint Becca, wir sollten eine kleine Gedenkfeier abhalten, ohne der Presse Stoff zu liefern.« Mit der Spur eines Lächelns fügte sie hinzu: »Alastair wäre sicher enttäuscht, daß man so gar kein Aufhebens von ihm macht.«
Sie trank ihre Limonade aus und sah auf ihre Uhr. »Tja, ich sollte mich auch noch umziehen, ehe ich nach Dorking fahre, um Gwen abzuholen.«
»Nur noch ein Wort«, sagte Gemma, »wenn Sie noch einen Moment bleiben können.«
Claire ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken und sah Gemma aufmerksam an.
»Es handelt sich um Ihr Bankkonto, Mrs. Gilbert. Das Konto, das Sie in Dorking eröffnet haben. Warum haben Sie alle Korrespondenz an Ihren Arbeitsplatz schicken lassen?«
»Das Bankkonto?« sagte Claire verständnislos. »Aber wie ...« Sie zwinkerte verwirrt und sah weg. »Ich war ein sehr behütetes Einzelkind«, sagte sie, den Blick immer noch abgewendet. »Ich habe Stephen geheiratet, als ich neunzehn war. Abgesehen von der kurzen Zeit nach Stephens Tod habe ich niemals allein gelebt.« Erst jetzt sah sie Gemma wieder an. Ihre Augen brannten. »Wissen Sie, wie es ist, wenn man etwas ganz für sich allein haben möchte? Kennen Sie dieses Gefühl? Das war mein einziger Wunsch - ich wollte etwas haben, an das niemand sonst heran konnte. Ich brauchte niemanden um Erlaubnis zu fragen, ob ich dieses Geld ausgeben darf, ich brauchte mich nicht zu rechtfertigen. Es war wunderbar und es war mein Geheimnis.« Sie sah auf ihre Hände hinunter und holte tief Atem. »Woher wissen Sie von dem Konto? Malcolm hat es Ihnen gewiß nicht gesagt.«
»Nein«, antwortete Gemma, »er hat nichts gesagt. Wir haben die Kontonummer auf einem Zettel in einer Tasche Ihres Mannes gefunden.«
Gemma saß an einem Tisch im Garten vor dem Pub und beobachtete das Treiben rundherum. Brian brauste in einem kleinen weißen Lieferwagen vorüber; Claire und Lucy fuhren in ihrem Volvo los; Geoff blieb einen Moment bei ihr stehen, um ein paar Worte zu wechseln, ehe er zur Pfarrerin ging, um ihr bei der Gartenarbeit zu helfen.
Nach einer Weile schloß sie die Augen und versuchte, an gar nichts zu denken, nicht an Jackie, nicht an Alastair Gilbert, nicht an - einfach an gar nichts. Die Sonne lag warm auf ihrer Haut, und erst als ein Schatten kühl auf ihr Gesicht fiel, öffnete sie hastig die Augen.
»Gut geträumt?« fragte Kincaid.
»Woher sind Sie denn - ich habe Sie gar nicht kommen sehen.«
»Offensichtlich nicht.« Er zog eine Braue hoch und setzte sich auf die Bank ihr gegenüber.
Leicht verärgert über seinen neckenden Ton, begann Gemma ohne weitere Umschweife von ihrer Fahrt nach Dorking zu berichten und danach, etwas zögerlicher, von ihrem Besuch bei Claire Gilbert.
Kincaids einziger Kommentar bestand darin, daß er die Augenbraue noch ein wenig höher zog. Dann erzählte er ihr in ausdruckslosem Ton von seinem Gespräch mit Gabriella Wilson.
Als er zum Ende gekommen war, starrte sie ihn einen Moment ungläubig an, dann sagte sie entschieden: »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Doch, leider.«
»Aber wie konnte er dieser Frau etwas antun? Sie wirkt so - zerbrechlich.« Gemma meinte das Geräusch splitternder Knochen zu hören und sah wieder Claires Hals unter dem auseinanderfallenden Haar, so zart wie ein Lilienstengel.
Kincaid sah auf seine Hände hinunter, die auf dem rauhen Holztisch ruhten. »Ich kann es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich habe das Gefühl, daß vielleicht gerade ihre Zerbrechlichkeit den Mann reizte.«
Die Vorstellung entsetzte Gemma und sie kreuzte wie zum Schutz ihre Arme über ihrer Brust. »Sie haben keine Beweise.«
»Das hat Nick auch gesagt.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe mich schon früher geirrt. Aber ich muß sie danach fragen. Ich glaube im übrigen auch nicht, daß sie Ihnen die ganze Wahrheit über das Bankkonto gesagt hat. Sie glauben, der Polizeibeamte, der beim Filialleiter war, war Ogilvie?«
Jetzt zuckte Gemma die Achseln. »Wer sonst könnte es gewesen sein? Gilbert kann man bestimmt nicht als räuberisch aussehend beschreiben. Vielleicht stimmt unsere Theorie über Claire und Brian nicht. Sie und David Ogilvie kennen sich seit längerer Zeit; vielleicht haben sie den Faden einfach da wiederaufgenommen, wo er abgerissen war.«
»Aber wenn Ogilvie Claires Liebhaber war, weshalb sollte er Claire nachspionieren ...«
»Ob nun so oder so, wie ist Gilbert zu der Kontonummer gekommen? Wenn Ogilvie nichts damit zu tun hatte, ließe es sich höchstens damit erklären, daß Claire einfach nachlässig war. Vielleicht hat sie ihr Scheckbuch in ihrer Handtasche gelassen - man wird schnell leichtsinnig, wenn man sich sicher fühlt -, und Gilbert hat es gefunden.«
»Oder vielleicht haben Claire und Ogilvie geplant, Gilbert zu beseitigen, und Ogilvie hatte den Verdacht, sie könnte ihn hintergehen, und hat ihr deshalb nachspioniert.« Kincaid schien recht zufrieden mit seiner Theorie.
»Ich glaube nicht, daß Claire Gilbert vorsätzlich geplant hat, ihren Mann zu töten, ganz gleich, was er ihr angetan hat«, widersprach Gemma aus unerfindlichen Gründen heftig aufgebracht.
Kincaid seufzte. »Ich möchte es auch nicht glauben, aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wenn sie ihn getötet hat, dann kann sie es meiner Ansicht nach nicht allein getan haben. Deswegen haben wir sie ja zunächst überhaupt nicht verdächtigt. Man mag über Gilbert sagen, was man will, ein Softie war er bestimmt nicht, und ich glaube nicht, daß sie es geschafft hätte, sich von hinten an ihn anzuschleichen und ihn niederzuschlagen, ohne daß er rechtzeitig reagiert hätte, um sich noch zu retten.«
Mit einem Blick auf seine Uhr sagte er: »Passen Sie auf, Gemma, ich hab eine Idee. Mit Claire können wir sowieso erst sprechen, wenn sie aus Dorking zurück ist. Ich habe eben, als ich Nick nach Guildford zurückgefahren habe, im Yard angerufen - keine Spur von Ogilvie. Wir sitzen also im Augenblick erst einmal fest.« Er sah blinzelnd zur Sonne hinauf. »Kommen Sie mit auf einen Spaziergang.«
»Einen Spaziergang?«
»Sie wissen schon«, er ließ seine Finger über den Tisch spazieren, »Vorwärtsbewegung auf zwei Beinen. Ich glaube, wir haben noch Zeit, ehe die Sonne untergeht. Wir könnten auf den Leigh Hill hinaufsteigen. Das ist der höchste Punkt in Südengland.«
»Ich hab’ keine Stiefel«, protestierte sie. »Und ich bin auch nicht dafür angezogen.«
»Leben Sie gefährlich. Sie haben doch bestimmt ein Paar Turnschuhe in Ihrer Reisetasche im Kofferraum, und ich leihe Ihnen meinen Anorak. Es ist warm genug - ich brauch’ ihn nicht. Na, was haben Sie zu verlieren?«
Und so marschierte Gemma wenig später in seinem Anorak neben ihm die Straße hinunter. Kurz nach einem adretten Bauernhof, der Bulmer Farm, bogen sie ab und trafen auf den ausgeschilderten Wanderweg, der langsam aufwärts führte. Anfangs fiel das Gelände zu ihrer Rechten in einem steilen Hang ab, von nackten, skelettähnlich wirkenden Bäumen bestanden und mit rotbraunem Laub bedeckt. Aber bald begannen die Böschungen zu beiden Seiten steil anzusteigen und aus dem Wanderweg wurde ein matschiger, von Furchen durchzogener Trampelpfad.
Gemma sprang wie ein Kaninchen von einer trockenen Stelle zur anderen, hielt sich an Ästen und Wurzeln fest, um das Gleichgewicht zu bewahren und verwünschte Kincaid wegen seiner längeren Beine.
»Und das soll ein Vergnügen sein?« fragte sie keuchend, doch ehe er antworten konnte, hörten sie hinter sich ein lautes Surren, und ein mit Helm und Schutzbrille angetaner Bursche auf einem Mountain Bike raste mit voller Geschwindigkeit den Weg herauf, direkt auf sie zu. Gemma sprang zur Seite und krabbelte die Böschung hinauf, als der Radler an ihnen vorüberflitzte und sie mit Schlamm bespritzte.
»Dieser Mistkerl!« schimpfte sie wütend. »Anzeigen sollte man den!«
»Bei wem denn?« fragte Kincaid, während er die Dreckflecken auf seiner Hose besichtigte. »Der Verkehrspolizei?«
»Wie kommt dieser Kerl dazu ...« sagte Gemma, als sie die Baumwurzel losließ, an der sie sich festgehalten hatte, und vorsichtig die Böschung hinunterstieg zum Weg. Plötzlich rutschte der Fuß unter ihr weg. Sie drehte sich noch im Fallen und landete unsanft auf einer Hüfte und einer Hand. Die Hand brannte wie Feuer. Laut schimpfend hob sie sie hoch.
Kincaid kniete neben ihr nieder. »Alles in Ordnung?« Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, daß er nur mit Mühe das Lachen zurückhielt, und das machte sie noch wütender.
»Müssen Sie denn auch unbedingt mitten in die Brennesseln greifen?« fragte er, nachdem er ihre Hand genommen und untersucht hatte. Er rieb mit dem Daumen einen Schmutzfleck von ihrem Finger, und bei seiner Berührung brannte ihre Haut fast so heftig wie beim Kontakt mit der Brennessel.
Sie entriß ihm ihre Hand und rappelte sich hoch. Vorsichtig stieg sie zum nächsten Fleckchen trockenen Bodens hinunter.
»Schauen Sie, ob Sie ein Ampferblatt finden«, sagte Kincaid hinter ihr, immer noch Erheiterung im Ton.
»Wozu?« fragte Gemma unwirsch.
»Gegen das Brennen natürlich. Haben Sie als Kind nie Urlaub auf dem Land gemacht?«
»Meine Eltern haben sieben Tage in der Woche gearbeitet«, antwortete sie, ganz gekränkte Würde. Aber dann lenkte sie doch ein. »Manchmal sind wir ans Meer gefahren.«
Sie erinnerte sich daran, und hatte plötzlich wieder den Geruch von feuchter Salzluft und Zuckerwatte in der Nase. Sie spürte wieder die eisige Kälte des Wassers, die glitschige Nässe des Badeanzugs an ihrem Körper, den warmen Sand auf ihrer Haut. Sie dachte an die Zankereien mit ihrer Schwester im Zug nach Hause. Immer hatten sie danach heiß gebadet, warme Suppe gegessen, schläfrig vor dem Feuer gelegen. Einen Moment lang hatte sie Sehnsucht nach diesen Tagen, als alles so einfach gewesen war.
Als sie eine halbe Stunde später den Gipfel erreichten, setzte sie sich dankbar auf eine Bank am Fuß des Turms und ließ sich von Kincaid einen Becher Tee vom Kiosk holen. Ihre Oberschenkel schmerzten von der Anstrengung des Kletterns und ihre Hüfte von dem Sturz, aber als sie von der Höhe über das Hügelland blickte, fühlte sie sich so beschwingt, als hätte sie das Dach der Welt erklommen. Als er mit zwei dampfenden Pappbechern zurückkam, war sie schon wieder bei Atem und sah lächelnd zu ihm auf.
»Jetzt bin ich froh, daß ich mitgekommen bin. Danke.«
Er setzte sich neben sie und reichte ihr einen Becher. »Es heißt, daß man an klaren Tagen vom Turm aus Holland sehen kann. Wie wär’s? Kommen Sie mit?«
Sie schüttelte den Kopf. »Höhen sind mir nicht geheuer. Das hier reicht mir vollkommen.«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, tranken den dampfenden Tee und blickten hinüber zu der grauen Dunstglocke Londons, die im Norden über der Ebene hing. Dann zog Gemma ihre Beine hoch, drehte sich seitlich und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen.
Kincaid machte es ihr nach und beschirmte seine Augen mit der Hand. »Könnte das da drüben am Horizont der Kanal sein?« fragte er.
Gemma spürte das Brennen der Tränen hinter ihren Lidern. Sie konnte nicht sprechen.
Kincaid sah sie an und fragte erschrocken: »Gemma, was ist denn? Ich wollte nicht...«
»Jackie ...« stammelte sie, schluckte und versuchte es noch einmal. »Es ist mir plötzlich eingefallen. Jackie hat gesagt, daß sie in ihrem nächsten Urlaub vielleicht da runter fahren würde. Sie wollte schon immer mal nach Brighton, und dann wollten sie und Susan nach Dover weiterfahren und mit dem Zug durch den Tunnel rüber nach Frankreich. Wenn ich nicht...«
Kincaid nahm ihr den Becher aus den zitternden Händen und stellte ihn auf die Bank. Er legte seine Hand flach auf ihren Rücken und begann langsam kreisend zu reiben. »Gemma, Trauer ist gut und richtig, aber Sie müssen aufhören, sich an Jackies Tod die Schuld zu geben. Erstens wissen wir noch immer nicht mit Sicherheit, ob es da überhaupt einen Zusammenhang gibt. Und selbst wenn ja - Jackie war erwachsen und für ihre Entscheidungen selbst verantwortlich. Sie hat Ihnen geholfen, weil sie es wollte, nicht weil Sie sie dazu gezwungen haben, und sie ist weiter gegangen, als Sie von ihr erwartet haben, weil sie neugierig war. Sehen Sie das denn nicht?«
Mit fest geschlossenen Augen schüttelte sie stumm den Kopf, aber nach einigen Minuten entspannte sie sich unter der warmen Berührung seiner Hand, und das Engegefühl in ihrer Brust begann zu weichen. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Sein Gesicht verriet deutlich seine Sorge um sie. Sie dachte daran, daß er extra mitten in der Nacht von Surrey nach London gefahren war, um zu verhindern, daß sie durch einen unpersönlichen Anruf von Jackies Tod erfuhr. Er hatte es wirklich nicht verdient, daß sie ihn so schlecht behandelte, wie sie das in letzter Zeit getan hatte.
»Die Sonne geht langsam unter«, sagte er. »Es wird bald dunkel werden. Wir sollten lieber losgehen, solange wir noch was sehen.«
Sie stolperten die letzten zwei-, dreihundert Meter des Fußwegs im dunkler werdenden Zwielicht hinunter, und als sie das Dorf erreichten, gingen in den Häusern bereits die ersten Lichter an.
Kincaid sah Gemma an, die sich im aufkommenden Wind tief in den Anorak gehüllt hatte. Auf dem Rückweg vom Turm war kaum ein Wort von ihr gefallen, aber er nahm in ihrem Schweigen nichts Feindseliges wahr, nur eine Tendenz, sich zurückzuziehen. Unterwegs hatte sie an unsicheren Wegstellen bereitwillig seine Hand gefaßt.
»Claire müßte inzwischen zurück sein«, sagte er. »Schauen wir doch gleich einmal am Haus vorbei.«
»So?« Gemma wies auf ihre schmutzbespritzte Hose und die verdreckten Schuhe.
»Warum nicht? Da wirken wir wie richtige Wandersleute.«
Das Tor knarrte, als sie es öffneten, um in den Garten zu treten, und Hecken und Büsche nahmen im Dämmerlicht unerwartet bedrohliche Formen an. Als sie um die hintere Hausecke bogen, blieb Kincaid plötzlich stehen, im ersten Moment selbst nicht sicher, was ihm eigentlich merkwürdig vorkam. Er hob die Hand, um Gemma aufzuhalten, und spähte nach hinten zum Hundezwinger. War das ein Schatten oder eine reglose dunkle Gestalt?
»Lewis?« sagte er leise, aber das dunkle Häufchen rührte sich nicht. Kincaid bekam Herzklopfen. »Bleiben Sie hier«, sagte er flüsternd zu Gemma, doch er spürte, daß sie ihm folgte, als er über das Gras zum Zwinger lief.
Der dunkle Schatten gewann an Substanz, als er näher kam, entpuppte sich als der Hund, der mit von sich gestreckten Gliedern auf der Seite lag. Kincaid kniete nieder und schob eine Hand durch das Maschendrahtgitter. Er streckte seine Finger, und es gelang ihm, den Hund zu berühren. Das Fell fühlte sich warm an, und die Flanke unter seiner Hand hob und senkte sich sacht.
»Ist er ...« Gemma vollendete die Frage nicht.
»Er atmet.« Er bemerkte einen dunklen Fleck auf dem Beton unter dem Kopf des Hundes und hob den Kopf, um zu den dunklen Fenstern des Hauses zurückzublicken. »Irgendwas stimmt hier nicht, Gemma. Bleiben Sie ...«
»Ich laß’ Sie doch da nicht allein reingehen«, flüsterte sie. »Glauben Sie das ja nicht.«
Gemeinsam eilten sie über den Rasen. Als sie die Hintertür erreichten, zog Kincaid sie vorsichtig auf, und sie schlichen leise wie Gespenster durch den kleinen Vorraum. In der Küche blieben sie im Dunkeln stehen. Kincaid drehte sich einmal langsam um sich selbst, wobei er angespannt in die Finsternis spähte und in die Stille horchte.
Nach einigen Sekunden ließ das Hämmern seines Herzens nach, und er spürte, daß auch Gemmas Körper sich entspannte. Gerade wollte sie etwas sagen, da vernahmen sie das Geräusch. Blitzschnell schlang er seinen Arm um sie und drückte ihr die Hand auf den Mund. Ihre Zähne schlugen an seine Handfläche, als sie einen Aufschrei der Überraschung unterdrückte.
Dann hörte er es wieder, ein kaum wahrnehmbares Knarren. »Das Handy«, hauchte er Gemma ins Ohr. »In meiner Jacke im Auto. Gehen ...«
Die Stimme drang aus dem dunkleren Rechteck der Tür in den Flur zu ihnen. »Das würde ich an Ihrer Stelle lieber nicht tun.«