* 12

 

Punkt sieben hielt Kincaid den Wagen vor Gemmas Wohnung. Mit roten Augen und stoppeligem Kinn stieg er steifbeinig aus. Ihm graute vor dem, was er jetzt tun mußte.

  Auf sein leichtes Klopfen kam Gemma an die Tür. Schlaftrunken und verwirrt blinzelte sie ihn an. »Was tun Sie denn hier? Ich dachte, Sie wären in Surrey.« Sie musterte ihn etwas genauer und fügte hinzu: »Sie sehen ziemlich gräßlich aus. Nichts für ungut, Chef.« Gähnend trat sie zur Seite, um ihn einzulassen. Sie hatte einen abgetragenen Bademantel in einem unvorteilhaften Rostbraun an, das ihr Haar orangefarben wirken ließ.

  »Toby schläft noch«, sagte sie leise mit einem Blick zum Kinderzimmer. »Ich mache uns Kaffee, dann können Sie mir alles erzählen.«

  »Gemma.« Kincaid hielt sie an den Schultern fest, als sie sich abwenden wollte. »Ich habe sehr schlechte Nachrichten. Jackie Temple ist tot.«

  Nie hätte er gedacht, daß er einmal diesen verständnislosen, ungläubigen Ausdruck auf Gemmas Gesicht würde sehen müssen; als hätte ihr jemand mit der offenen Hand ins Gesicht geschlagen.

  »Was? Das ist unmöglich. Ich habe sie doch erst gest ...«

  »Es muß gestern abend am Ende ihres Dienstes passiert sein. Sie hatte sich um Viertel nach zehn über Funk gemeldet. Als sie nach Schichtende nicht erschien und man sie über Funk nicht erreichen konnte, hat man einen Streifenwagen losgeschickt, um sie zu suchen.«

  »Was ...« Ihre Augen wurden so groß und dunkel, daß sie im Kreideweiß ihrer Haut wie schwarze Löcher aussahen. Er merkte, daß sie zu zittern begann.

  »Sie ist erschossen worden. In den Hinterkopf. Sie hat wahrscheinlich nichts mitbekommen.«

  »O Gott, nein.« Gemma schlug die Hände vors Gesicht.

  Kincaid zog sie an sich und hielt sie fest, während er ihr Haar streichelte und Koseworte murmelte. Sie roch schwach nach Schlaf und Körperpuder. »Gemma. Es tut mir so leid.«

  »Aber warum?« fragte sie weinend, an seine Schulter gedrückt. »Warum?«

  »Ich weiß es nicht, Liebes. Susan May, ihre Mitbewohnerin, hat darum gebeten, dich zu benachrichtigen, aber als die Meldung im Yard einging, hatte gerade der alte George Dienst, und er hat statt dessen mich angerufen.«

  »Susan?« Gemma löste sich von ihm und trat zurück. »Sie glauben doch nicht... Es waren bestimmt irgendwelche Kerle, die sie bei einem Einbruch überrascht hat... Oh, mein Gott...« Sie tastete hinter sich nach einem Stuhl und ließ sich darauf niederfallen. »Sie glauben doch nicht, daß es was mit...«

  Toby kam ins Zimmer gewatschelt. »Mama, was ist los?« fragte er verschlafen und drückte sich an sie.

  Gemma nahm ihn auf den Schoß und rieb ihr Gesicht an seinem Haar. »Nichts, Herzenskind. Mami muß nur früher zur Arbeit.« Sie sah Kincaid an. »Sie fahren doch mit mir zu Susan, ja?«

  »Natürlich.«

  Sie nickte, dann sagte sie: »Ich erzähl Ihnen unterwegs von - von gestern.« Sie sah ihn einen Moment forschend an. »Sie haben Sie in Surrey angerufen? Heute morgen?«

  »Ja, ungefähr um halb sechs.«

  »Wer ist Susan, Mami?« fragte Toby. Er drehte sich auf ihrem Schoß herum, bis er rittlings über ihren Knien saß, und breitete beide Arme aus. »Schau, Duncan, ich bin ein Flieger.«

  »Eine Freundin von einer Freundin, Schatz. Du kennst sie nicht.« Gemmas Augen wurden von neuem feucht und sie rieb sie sich schniefend.

  »Ich warte draußen bis Sie fertig sind«, sagte Kincaid, der plötzlich das Gefühl hatte, nicht hierher zu gehören.

  »Nein.« Gemma stellte Toby zu Boden und gab ihm einen Klaps auf den Po. »Ich zieh mich in Tobys Zimmer an. Sie können inzwischen mit ihm Flugzeug spielen. Und dann mach ich euch beiden das Frühstück.« Mit einem kritischen Blick in sein Gesicht und dem Versuch zu lächeln fügte sie hinzu: »Sie sehen aus, als pfiffen Sie aus dem letzten Loch.«

  Eine halbe Stunde später war Gemma geduscht und angekleidet und ließ Kincaid in ihr winziges Bad, wo er sich rasierte und ein sauberes Hemd anzog. Als er etwas später an dem halbmondförmigen Tisch saß und zu warmem Toast frischen Kaffee trank, fühlte er sich bedeutend besser und wünschte mit einem Blick auf Toby, der inzwischen ebenfalls angezogen war und vergnügt auf dem Boden spielte, er könnte unter anderen Umständen hier sein.

  Er begleitete Gemma durch den Garten und wurde kurz mit Hazel bekanntgemacht, dann gab Gemma Toby einen Abschiedskuß, und sie stiegen ins Auto, um nach Notting Hill zu fahren. Unterwegs berichtete ihm Gemma stockend von Jackies Enthüllungen am vergangenen Tag.

  Kincaid pfiff leise durch die Zähne, als sie geendet hatte. »Ogilvie korrupt? Glauben Sie, daß Gilbert irgendwie dahinter gekommen ist, und Ogilvie ihn daraufhin ausgeschaltet hat?«

  »Und Jackie ebenfalls.« Gemmas Mund war eine schmale, starre Linie.

  »Gemma, Jackies Tod hatte mit dieser Geschichte wahrscheinlich überhaupt nichts zu tun. Solche Dinge kommen nun mal vor, und meistens sind sie völlig sinnlos. Das wissen wir doch beide.«

  »Ich mag Zufälle nicht, und das ist schon mehr als ein Zufall. Das wissen wir doch auch beide.«

  »Ich weiß nicht mehr als das, was ich Ihnen gesagt habe. Meinen Sie nicht, wir sollten erst nach Notting Hill fahren und uns Einzelheiten berichten lassen, ehe wir Susan May aufsuchen?«

  Gemma antwortete nicht gleich, dann sagte sie: »Nein, ich möchte zuerst zu Susan. Das ist das mindeste, was ich ihr schulde.«

  Er sah sie von der Seite an, während sie vor einer roten Ampel warteten, und wünschte, er könnte ihr irgendwie Trost spenden. Aber trotz seiner beschwichtigenden Worte mochte auch er keine Zufälle wie diesen.

  Er fand einen Parkplatz auf der Straße in der Nähe der Wohnung, und als sie zur Haustür gingen, sah er, daß Gemma kurz stehen blieb und Atem holte, ehe sie läutete. Die Tür wurde so prompt geöffnet, daß Kincaid dachte, die Frau, die sie empfing, müßte direkt dahinter gestanden haben.

  »Ja, bitte?« sagte sie brüsk.

  »Ich bin eine Freundin von Jackie, Gemma James. Susan hat mich gebeten zu kommen.« Gemma bot der Frau die Hand, und die nahm sie mit einem erleichterten Lächeln.

  »Natürlich. Ich bin Cecily Johnson, Susans Schwester. Ich wollte gerade was für sie einkaufen gehen. Warten Sie, ich sag ihr, daß Sie hier sind.«

  Das Wort, das Kincaid in den Kopf kam, als sie Cecily Johnson nach oben folgten, war »gutaussehend«. Sie war eine große, langgliedrige Frau mit einer Haut wie Milchkaffee, schönen dunklen Augen und einem offenen Lächeln. Sie warteten im Treppenflur, während Cecily hineinging. Als sie zurückkam, sagte sie: »Gehen Sie ruhig rein. Ich lauf’ inzwischen zum Supermarkt.«

  Susan May stand mit dem Rücken zu ihnen. Sie starrte durch das Wohnzimmerfenster zu dem kleinen Balkon mit den bunten Blumentöpfen hinaus. Sie sah aus wie eine schlankere, biegsamere Version ihrer Schwester, und als sie sich herumdrehte, sah Kincaid, daß sie die gleiche schöne Haut und ebenso dunkle Augen hatte. Aber ein Lächeln brachte sie nicht zustande.

  »Gemma, danke, daß du so schnell gekommen bist.«

  Gemma nahm ihre ausgestreckten Hände und drückte sie. »Susan, es tut mir so ...«

  »Ich weiß. Bitte sag’s nicht. Ich bin noch nicht so weit, daß ich das ertragen kann. Komm, setz dich. Ich hole euch einen Kaffee.« Als Gemma protestieren wollte, unterbrach sie. »Es hilft mir, wenn ich etwas tun kann.«

  Nachdem Gemma Kincaid vorgestellt hatte, verschwand Susan in der Küche und kehrte einen Augenblick später mit einem Tablett zurück. Sie sprach Belangloses, während sie einschenkte, dann setzte sie sich und starrte in ihre Tasse.

  »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte sie. »Ich erwarte dauernd, daß sie zur Tür hereinkommt und irgendeine alberne Bemerkung macht. >Ha, ha, Suz, alles nur ein blöder Witz!< Sie hat einen gern ein bißchen hochgenommen.« Susan stellte ihre Tasse nieder. Sie stand auf und begann, im Zimmer hin und her zu gehen. »Sie hat ihren Morgenrock wieder auf dem Boden neben dem Bett liegen gelassen. Ich hab’ ihr ständig gesagt, sie soll ihre Sachen nicht rumliegen lassen, und jetzt ist das ganz unwichtig geworden. Wieso hab’ ich mir immer eingebildet, es wäre wichtig? Kannst du mir das mal sagen?« Sie blieb wieder vor dem Fenster stehen, den Blick zum Balkon hinaus. »Sie haben mir in der Arbeit unbegrenzten Urlaub gegeben. Wozu? Abends in die leere Wohnung zu kommen, wird schlimm genug werden; der Gedanke, hier tagsüber allein rumzusitzen, ist unerträglich.«

  »Was ist mit deiner Schwester?« fragte Gemma. »Kann sie nicht eine Weile bleiben?«

  Susan nickte. »Doch. Sie hat ihre Kinder für ein paar Tage zur Großmutter verfrachtet. Sie hilft mir - Jackies Sachen durchzusehen. Sie - Jackie, meine ich - hatte keine Familie. Es ist niemand da, der sich um alles kümmern kann ...« Susan brach ab, und Kincaid glaubte, sie würde die Fassung verlieren, aber sie schaffte es fortzufahren. »Sie wollte auf keinen Fall verbrannt werden. Sie hat sich tatsächlich Gedanken darüber gemacht, und ich hab sie immer ausgelacht. Glaubst du, sie hat gewußt... Ich erledige die Formalitäten für die Beerdigung, dann fange ich wieder an zu arbeiten - es ist mir egal, ob sie mich für gefühllos halten.«

  Sie drehte sich herum. »Jackie hat in den letzten Tagen viel von dir gesprochen, Gemma. Sie hat sich so gefreut, dich wiederzusehen. Ich weiß, daß sie dich wegen irgendwas unbedingt sprechen wollte, aber ich weiß nicht, was es war - ich hab’ nur mal gehört, wie sie was von einem >wurmstichigen Apfel< gebrummelt hat.«

  »Ich habe sie gestern gesehen. Vor ihrem Dienst. Sie hat mir gesagt...«

  »Du hast sie gesehen? Wie hat sie - was hat sie -«, Susan schluckte und setzte von neuem an. »Sie hat nicht zufällig von mir gesprochen?«

  Kincaid sah, wie Gemma zögerte, sich dann rasch faßte. »Doch, sie hat mir von deiner Beförderung erzählt. Sie war richtig stolz auf dich.«

  Die Wohnungstür wurde geöffnet, und Cecily kam mit einer vollen Tüte herein. Susan lächelte ihrer Schwester entgegen und sagte dann zu Gemma: »Du gibst mir doch Bescheid, wenn ihr irgendwas - rausbekommt?«

  »Natürlich. Wir melden uns.« Gemma stand auf und umarmte sie kurz. Cecily ließ sie hinaus, und sie stiegen schweigend die Treppe hinunter.

  Als sie auf die Straße traten, war Gemmas Gesicht von Tränen überströmt. »Es ist nicht fair«, sagte sie zornig, als sie ins Auto stiegen. »Susan hätte sie zuletzt sehen sollen, nicht ich.« Sie schlug die Tür so fest zu, daß der ganze Wagen bebte. »Es ist so ungerecht. Jackie sollte am Leben sein - und wenn sie meinetwegen umgekommen ist, werde ich mir das nie verzeihen.«

  »Wir befinden uns hier auf sehr unsicherem Boden«, sagte Kincaid, als sie auf dem Parkplatz der Polizeidienststelle Notting Hill anhielten. »Wir haben außer unbestätigten Gerüchten keinerlei Gründe, über die mögliche Beteiligung eines höheren Beamten der Metropolitan Police an diesem Fall zu ermitteln. Ich schlage deshalb vor, daß wir äußerst diskret Vorgehen.« Er schaltete den Motor aus und blieb nachdenklich sitzen, mit den Fingern aufs Lenkrad trommelnd. »Ich denke, wir müssen offen über Jackies Interesse an dem Fall Gilbert sprechen, um zu begründen, warum wir uns mit dem Mord an ihr befassen, aber weiter brauchen wir, glaube ich, im Moment nicht zu gehen.«

  Gemma nickte. Sie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und schneuzte sich.

  »Wir könnten doch einfach sagen, Jackie hätte Ihnen von irgendwelchen dunklen Geschichten über Gilbert erzählt, aber Sie wüßten nicht, worum es sich dabei handelt. Und dann versuchen wir festzustellen, was Ogilvie gestern abend und am Abend von Gilberts Ermordung getrieben hat, aber natürlich möglichst unauffällig. Das wird ausreichen, um ihn zu beunruhigen, wenn er Dreck am Stecken hat.«

  »Machen Sie sich doch an seine Sekretärin heran«, schlug Gemma vor. »Die hat ein Auge für ein hübsches Gesicht.«

  Kincaid warf ihr einen Blick zu. War das ein Seitenhieb oder ein Versuch zu scherzen? Er konnte es nicht erkennen. Sie betrachtete mit konzentrierter Aufmerksamkeit ihre Fingernägel. »Wie heißt der Sergeant, der auf Jackies Fragen so sauer reagiert hat?« fragte er.

  »Talley. Ich kenne ihn noch von früher.«

  »Mit dem sollten wir vielleicht auch mal reden.« Wieder wünschte Kincaid, er könnte irgend etwas sagen, um sie zu trösten, aber nichts, was ihm einfiel, erschien ihm angemessen. Er widerstand dem Wunsch, ihre Schulter, ihre Wange zu berühren. »Sind Sie soweit?«

  Sie nickte.

  »Da haben wir Glück«, murmelte Kincaid Gemma zu, als man sie in Superintendent Marc Lambs Büro führte. Er und Lamb hatten einander in ihrem ersten Lehrgang kennengelernt, aber es war einige Jahre her, daß sie sich gesehen hatten.

  »Duncan, altes Haus.« Lamb kam strahlend um seinen Schreibtisch herum und schüttelte Kincaid kräftig die Hand. »Der Wunderknabe von Scotland Yard wie er leibt und lebt. Setzen Sie sich.«

  Kincaid machte Gemma mit ihm bekannt, nicht ohne einen kleinen unwürdigen Funken der Genugtuung angesichts der Tatsache, daß Lamb, obwohl er im gleichen Alter war wie er selbst, einen deutlichen Ansatz zu Glatze und Bauch hatte.

  Nachdem sie ein paar Minuten über gemeinsame Bekannte geplaudert hatten, erklärte Kincaid ihr Interesse an Jackie Temple.

  Lamb wurde augenblicklich ernst. »Man glaubt nie, daß so etwas mal in der eigenen Dienststelle passieren könnte. In Brixton vielleicht, aber doch nicht hier.Jackie Temple war eine meiner besten Beamtinnen - besonnen und allgemein beliebt. Sie kennen das ja sicher - es gibt Kollegen, die fangen mit einem Sack voll guter Vorsätze an und haben keinen Funken gesunden Menschenverstand, aber Jackie hatte beides, von Anfang an.«

  Jetzt fiel Kincaid auf, wie abgespannt und erschöpft sein alter Kollege aussah. Er war wahrscheinlich die ganze Nacht auf gewesen. »Gab es einen Hinweis darauf, daß sie bei einem Einbruch gestört hat?«

  Lamb schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen. Wir haben bisher überhaupt keine brauchbaren Spuren gefunden.« Mit einem Blick auf seine Uhr fügte er hinzu: »Der Autopsiebericht müßte eigentlich jeden Moment kommen, aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß sie, nach den Pulverspuren an der Kopfhaut und der Größe der Eintrittswunde zu urteilen, aus nächster Nähe erschossen worden ist. Sie hatte überhaupt keine Chance.«

  Kincaid sah, wie Gemma krampfhaft die Hände in ihrem Schoß ballte. »Und was halten Sie nun davon, Marc?« fragte er.

  Lamb schob ein gerahmtes Bild gerade, das auf seinem vollbeladenen Schreibtisch stand. Frau und Kinder, dachte Kincaid, aber er konnte nur den Rücken des Rahmens sehen.

  »Wir sind hier in einem ziemlich heißen Viertel«, sagte Lamb langsam. »Auf der einen Seite die Luxussanierungen und auf der anderen die verschiedenen ethnischen Gruppen, aber wir bemühen uns, es sauberzuhalten.« Er blickte auf und sah Kincaid in die Augen. »So sehr es mir widerstrebt, das über mein eigenes Revier zu sagen - das riecht nach einem Bandenmord.«

  Mit Lambs Zustimmung suchten sie Sergeant Randall Talley auf, der in der Kantine seine Teepause machte. »Das ist er«, sagte Gemma mit einer Kopfbewegung zu einem kleinen, grauhaarigen Mann Mitte Fünfzig, der allein an einem Tisch saß.

  Als sie zu ihm traten, bot Gemma ihm die Hand und stellte sich vor. »Erinnern Sie sich an mich, Sergeant Talley?«

  Talley musterte sie, die dargebotene Hand demonstrativ übersehend, dann blickte er weg. Seine Augen waren von einem hellen, verwässerten Blau. »Ja, und?«

  Angesichts von Gemmas Überraschung und Verwirrung zog Kincaid zwei Stühle heraus. Talley war offensichtlich nicht bereit, sich von einer ehemaligen Untergebenen befragen zu lassen, aber vielleicht würde er auf höheren Rang etwas kooperativer reagieren.

  »Haben Sie was dagegen, wenn wir uns setzen, Sergeant?«

  »Sie können tun, was Ihnen beliebt.« Er trank betont gemächlich seinen Tee aus und stieß seinen Stuhl vom Tisch weg. »Meine Pause ist vorbei.«

  »Wir möchten Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Sergeant. Mit Einverständnis Ihres Chefs. Sie waren einer der letzten, der mit Jackie Temple gesprochen hat, und wir dachten, Sie hat vielleicht eine Bemerkung gemacht, die uns einen Hinweis auf ihren Mörder gibt.«

  »Sie ist auf der Straße von ein paar beschissenen Kriminellen abgeknallt worden. Was soll ich darüber wissen?« Er funkelte sie an wie eine aggressive Bulldogge, doch in seinen Augen standen Tränen. »Und Sie sind für den Mord an Jackie Temple nicht zuständig.«

  »Aber für den Mord an Alastair Gilbert sind wir zuständig«, entgegnete Kincaid. »Und Jackie hat über Alastair Gilbert Erkundigungen eingezogen. Sie hat Sergeant James erzählt, daß Sie ganz schön sauer reagiert haben.«

  »Und warum nicht? Wie kommt sie dazu, Gilbert was anhängen zu wollen und sein Andenken zu beschmutzen? Gilbert war ein guter Mann.«

  Kincaid zog die Augenbrauen hoch. »Oh, ein Fan in einem Heer von Kritikern. Das ist eine nette Überraschung. Und was halten Sie von Chief Inspector David Ogilvie, Sergeant?«

  »Ich hab’nie ein Wort gegen Chief Inspector Ogilvie gehört, und wenn, würd’ ich’s nie wiederholen.« Er stand auf. »Also, ich hab’ wirklich Wichtigeres zu tun, als meine Zeit mit Klatsch zu verschwenden. Einen schönen Tag noch.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zwischen den Tischen hindurch zur Tür. Kincaid, der seinen schlingernden Gang beobachtete, fragte sich, ob Talley seine jungen Jahre auf weniger festem Boden verbracht hatte.

  »Na so was«, sagte er zu Gemma. »Wenn Sie mich fragen, ich würde sagen, der Mann hat Todesangst.«

  »Sie glauben doch nicht...« sagte Gemma langsam. »Der wurmstichige Apfel, von dem Jackie gesprochen hat, glauben Sie, sie könnte Sergeant Talley gemeint haben?«

  Auf dem Schild auf dem Schreibtisch stand »Helene Vandemeer«. Gemma hatte recht gehabt. Das nicht mehr junge, etwas unscheinbare Gesicht Mrs. Vandemeers strahlte, als Kincaid sich mit einem charmanten Lächeln vorstellte.

  »Oh, das tut mir wirklich leid, der Chief Inspector ist im Augenblick nicht hier«, sagte sie mit echtem Bedauern, als Kincaid nach Ogilvie fragte. »Er ist am Freitag zu einem Lehrgang gefahren, den er in den Midlands leitet, und kommt erst«, sie blätterte in ihrem Terminkalender, »am Mittwoch zurück. Es wird ihm sicher sehr leid tun, Sie verpaßt zu haben.«

  Ja, es wird ihm das Herz brechen, dachte Kincaid, das Lächeln der Sekretärin erwidernd. Da Gemma den einzigen Stuhl in dem kleinen Büro besetzt hatte, hockte er sich halb auf die Kante von Mrs. Vandemeers akkurat aufgeräumtem Schreibtisch. Sie war, das fiel ihm jetzt ein, auch Gilberts Sekretärin gewesen, und er fragte sich, ob sie ihrer Pingeligkeit wegen eingestellt worden war oder ob sie sich die im täglichen Umgang mit Gilbert angeeignet hatte.

  »Haben Sie die Nummer, unter der er zu erreichen ist?« fragte er und fügte in vertraulichem Ton hinzu: »Es handelt sich um Commander Gilbert, wissen Sie. Wir haben noch nicht genau überprüft, was der Commander an dem Tag in der Zeit zwischen Dienstschluß und seiner Ankunft zu Hause getan hat. Wir dachten, Chief Inspector Ogilvie könnte uns da vielleicht weiterhelfen.«

  »Ach, da wird er Sie enttäuschen müssen, fürchte ich. Er mußte an dem Tag nach dem Mittagessen zur Versammlung einer Bürgerinitiative, die sich anscheinend ziemlich in die Länge gezogen hat. Er ist nämlich gar nicht mehr ins Büro zurückgekommen. Und der Commander ...« Helene Vande-meer nahm ihre Brille ab und massierte ihren Nasenrücken, als täte er plötzlich weh. »Der Commander ist punkt fünf hier weggegangen, wie immer. Er hat noch kurz bei mir hereingeschaut und >Tschüs, Helene< gesagt, >Wir sehen uns morgen.<« Sie blickte Kincaid an, und er sah, daß ihre Augen von einem tiefen Blau waren. »Kann es sein, daß ich die letzte war, mit der er gesprochen hat?«

  »Das ist schwer zu sagen«, improvisierte Kincaid. »Sie sind sicher, daß der Commander Ihnen gegenüber keine Bemerkung darüber gemacht hat, was er an diesem Abend noch vorhatte, oder daß er sonst etwas Ungewöhnliches gesagt hat?«

  Helene Vandemeer machte ein Gesicht, als täte es ihr von Herzen leid, ihn enttäuschen zu müssen. »Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen, aber leider ...«

  »Nun grämen Sie sich mal nicht«, sagte Kincaid mit Wärme und übersah Gemmas spöttischen Blick. »Wenn Sie mir nur noch die Telefonnummer geben ...« Beim Schreiben sagte er beiläufig: »Sie wissen nicht zufällig, wie diese Bürgerinitiative heißt, bei deren Versammlung Chief Inspector Ogilvie an dem Nachmittag war?«

  »Lassen Sie mich überlegen.« Die Brille wieder fest auf der Nase, runzelte Helene Vandemeer in angestrengtem Nachdenken die Stirn, dann lächelte sie strahlend. »Notting Hill Vereinigung zur Lärmbekämpfung. Sie setzen sich für Verkehrsbeschränkungen in gewissen Straßen ein.«

  »Herzlichen Dank«, sagte er, steckte den Zettel mit der Telefonnummer ein, die sie ihm aufgeschrieben hatte, und ging mit Gemma hinaus.

  Die Tür hatte sich kaum richtig hinter ihnen geschlossen, als Gemma flüsterte: »Warum verteilen Sie nicht gleich Belohnungsplätzchen?«

  Der Anflug eines Lächelns verriet, daß die Bemerkung scherzhaft gemeint war, daher antwortete er mit gespielter Gekränktheit: »Hey, das war doch Ihre Idee. Und sie hat gewirkt, oder nicht?«

  Er zog sein Handy heraus, als sie aus dem Gebäude traten, und begann zu wählen. Erst als er unten auf dem Bürgersteig stand, merkte er, daß Gemma nicht mehr an seiner Seite war. Er drehte sich um und sah sie oben auf der Treppe stehen. Ihr Gesicht war tieftraurig. »Gemma«, rief er, aber in diesem Moment meldete sich der Yard, und als er das Gespräch beendet hatte, war sie schon wieder bei ihm.

  »Was tun wir jetzt, Chef?« fragte sie mit entschlossener Sachlichkeit.

  Nach einem Moment des Zögerns sagte er: »Gehen wir erst mal einen Happen essen. Dann möchte ich mir was ansehen, nur um meine Neugier zu befriedigen.«

  Sie standen am Beginn einer kleinen, kopfsteingepflasterten Straße nicht weit von der Dienststelle Notting Hill. Kincaid hatte einem Kollegen im Yard Ogilvies Adresse herausgekitzelt. Zu beiden Seiten der stillen Straße standen die Häuser, bunt wie Fondant-Praline - pfirsichfarben und zitronengelb, erd-beerrot und minzgrün. Einige hatten glänzende schwarze schmiedeeiserne Gitter, andere Blumenkästen, aus denen vielfarbige Blüten quollen, und wie im Eigin Crescent hatte jedes Haus eine Alarmanlage und eine Satellitenschüssel.

  Kincaid pfiff leise. »Man kann das Geld förmlich riechen. Welches ist Nummer zehn?«

  Gemma ging ein Stück weiter. »Hier«, rief sie. Es war in einem dunklen Gelb gehalten, mit schwarzer Tür und schwarzen Fensterrahmen.

  Kincaid spähte durch eine Ritze zwischen den Vorhängen im Erdgeschoß und sah den Teil eines eleganten, hochmodernen Wohnzimmers und dahinter einen Garten. Er trat zurück, um Gemma ebenfalls einen Blick zu gewähren. »Vom Gehalt eines Chief Inspector kann man sich so was nicht leisten. Irgendwie hab ich so meine Zweifel, daß Freund David seine Kollegen auf ein Bier hierher einlädt - was meinen Sie?«

  Gemma sah ihn an. »Ich meine, es ist Zeit, daß wir den Disziplinarausschuß einschalten.«

  »Genau meine Meinung.«

  Zurück im Yard, setzten sie sich in Kincaids Büro, um eine Kette lästiger Telefongespräche zu erledigen. Zuerst meldete sich Kincaid bei der Kriminalpolizei Guildford und sprach, da Nick Deveney noch immer in der Einbruchssache unterwegs war, mit Will Darling. »Gehen Sie alles, was wir haben, noch einmal gründlich durch, Will. Wir haben irgendwas übersehen - ich spüre es -, und es ist wahrscheinlich so deutlich sichtbar wie die Nase in Ihrem Gesicht. Der Mann, der für die beschlagnahmten Wertsachen zuständig ist, war mit dem Terminkalender des Commanders ziemlich schlampig - wir müssen sicher sein, daß das die einzige Nachlässigkeit war.«

  Ein Anruf beim Vorsitzenden der Lärmbekämpfungsvereinigung bestätigte, daß David Ogilvie am Tag von Gilberts Tod sein Erscheinen zur Versammlung der Bürgerinitiative zugesagt hatte; er war jedoch nur eine halbe Stunde geblieben.

  Kincaid legte auf und zog die Augenbrauen hoch. »Und was hat er den Rest des Nachmittags getrieben?« fragte er, Gemma ansehend.

  Als nächstes rief Gemma das Ausbildungszentrum Midlands an und konnte nach einigem Hin und Her in Erfahrung bringen, daß Ogilvie seinen Vortrag am vorangegangenen Abend erst um Viertel vor zehn beendet hatte. Sie schüttelte den Kopf, als sie auflegte und die Information an Kincaid weiter gab.

  »Da hätte er schon fliegen müssen, um zu der Zeit in London zurückzusein, als Jackie getötet wurde«, sagte Kincaid. »Er lebt zwar offensichtlich über seine Verhältnisse, aber Hinweise auf übermenschliche Kräfte habe ich bisher nicht bemerkt.« Er seufzte. »Das schaltet allerdings nicht die Möglichkeit aus, daß er den Mord in Auftrag gegeben hat. Wenn er wirklich korrupt ist, hat er wahrscheinlich auch die entsprechenden Verbindungen.« Er sah Gemma an, die ihm am Schreibtisch gegenüber saß. Ihr Gesicht war vom dünnen Licht der Spätnachmittagssonne erhellt, das durch das Fenster fiel. »Drehen wir uns im Kreis, Gemma? Wenn Gilbert tatsächlich Ogilvie auf die Sprünge gekommen ist und gedroht hat, ihn bloßzustellen, weshalb sollte Ogilvie es dann riskieren, ihm in seiner eigenen Küche den Schädel einzuschlagen, anstatt sich etwas weit weniger Spektakuläres einfallen zu lassen?

  Sollten wir nicht besser in Surrey sitzen und Brian Genovase die Hölle heiß machen? Aber wir haben keinerlei konkrete Beweise, und ich persönlich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Brian es getan hat.«

  »Außerdem ist da immer noch Jackie«, entgegnete sie.

  Er rieb sich die müden Augen. »Ich habe Jackie nicht vergessen, Gemma. Ich schlage vor, wir werfen diesen ganzen Krempel dem Chef auf den Tisch und lassen ihn mit dem Disziplinarausschuß reden. Und wenn wir schon dabei sind, sollten wir vielleicht auch Sergeant Talley erwähnen.«

  Nachdem Chief Superintendent Denis Childs zugestimmt hatte, daß es das beste sei, die Sache mit Ogilvie dem Disziplinarausschuß zu übergeben, folgte Kincaid Gemma mit einem Gefühl der Erleichterung in sein Büro zurück. »Sollen die Ogilvie ruhig ein bißchen unter Druck setzen. Dann fragen wir ihn, wo er an dem Nachmittag von Gilberts Tod war.« Er öffnete seinen Kragenknopf. »Aber jetzt machen wir erst mal Schluß für heute.«

  Gemma hatte ihre Taschen an den Garderobenständer gehängt, und er hatte den Eindruck, sie stehe ein wenig unschlüssig da, als wollte sie eigentlich gar nicht gehen.

  »Wir könnten im Pub noch ein Glas trinken, wenn Sie Lust haben«, sagte er möglichst nonchalant.

  Sie zögerte, und er faßte Hoffnung, aber dann sagte sie: »Nein, das sollte ich lieber lassen. Ich habe in den letzten Tagen sowieso schon so wenig Zeit für Toby gehabt. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich ...«

  Das Läuten des Telefons erschreckte sie beide. Kincaid griff nach dem Hörer und drückte ihn an sein Ohr. »Ja, Kincaid.«

  Will Darling meldete sich. »Sie hatten recht, Chef, aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Auf der Rückseite eines Zettels von der Reinigung, den wir in Gilberts Tasche gefunden hatten, steht mit Bleistift eine Nummer geschrieben. Eine Telefonnummer ist es nicht, das hab ich gleich gesehen, und nachdem ich mir eine Weile den Kopf zerbrochen hatte, ist mir ein Licht aufgegangen. Das kann nur ein Bankkonto sein, hab’ ich mir gedacht. Ich hab’ bei Lloyd’s nachgefragt, wo die Gilberts ihr gemeinsames Konto haben, aber das hat eine andere Nummer. Ich hab’ den ganzen Nachmittag gebraucht, aber dann hab’ ich in Dorking die Zweigstelle aufgetan, die diese Zahlenfolge benutzt, und hab’ ein bißchen geblufft. Ich hab’ gesagt, ich wäre vom Juwelier Darling in Guildford und hätte hier einen Scheck über eintausend Pfund und wollte nachfragen, ob der Bestand auf dem Konto ausreiche, um den Scheck zu decken. Es handle sich um den Namen Gilbert, Konto Nummer soundso ...«

  »Und?« drängte Kincaid.

  »Kein Problem, sagten sie - auf Mrs. Gilberts Konto läge genug Geld zur Deckung des Schecks.«