23. KAPITEL

Es war ein herrlicher Sommertag in der Kinvara-Bucht. Pen und Isabella hatten einen Picknickkorb an den Strand mitgenommen. Sie waren von den Felsen hierhergeschwommen, saßen nun in der Sonne und unterhielten sich entspannt. Nach den schmerzhaften Ereignissen des vergangenen Tages war das einfach wunderbar.

Pen hatte ein gerötetes Gesicht und wirkte sehr jung. „Bella“, sagte sie.

„Hmm?“, murmelte Isabella. Sie saßen an einem windgeschützten Platz. Isabella fühlte sich träge von der Sonne. Sie wusste, dass sie Marcus die Wahrheit recht bald würde sagen müssen. Aber sie wollte erst einen friedlichen Tag genießen, ehe sie und Marcus über die Zukunft sprachen.

„Seit ich in Salterton bin, wurde ich an etwas erinnert, das ich dir längst hätte erzählen sollen“, sagte Pen. Sie zögerte. „Es tut mir leid …“

Isabella öffnete langsam ein Auge und sah unter der Krempe ihrer Strohhaube hervor zu ihrer Schwester. „Noch mehr Geständnisse, Penelope?“, sagte sie. „Du erschreckst mich.“

Isabella hatte den Eindruck, dass Pen selbst ganz erschrocken aussah.

„Es ging um den Brief.“

„Um welchen Brief?“

„Es handelt sich um den Brief, den Marcus an dich geschickt hat und in dem er dich bat, mit ihm zu fliehen.“

„Zu fliehen?“

Pen starrte sie an. „Das hat er dir doch gesagt, oder? Ich habe mich immer gefragt, ob dann alles anders gekommen wäre … Ob du von Ernest fortgelaufen wärest.“

Isabella hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. „Einen Moment mal, Pen. Marcus hat mich niemals gebeten, mit ihm fortzugehen.“

„Aber doch … Ich war so sicher, dass es das sein musste!“ Pen biss sich auf die Lippe. „Ich fand den Brief unter der Tür deines Schlafzimmers. Er war an I. S. adressiert. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil es der Tag nach deiner Hochzeit mit Ernest war und ich mich darüber wunderte, dass jemand deinen Mädchennamen benutzte. Wie dem auch sei, du warst ja natürlich nicht mehr in Standish House, weil du nach dem Frühstück bei Ernest im Brunswick Gardens warst.“

„Ich erinnere mich“, sagte Isabella. „Es regnete.“

Sie bekam ein seltsames Gefühl. An ihrem Hochzeitstag war es sehr heiß gewesen, aber am folgenden Tag war ein Gewitter niedergegangen, und die dräuenden Wolken und der Regen hatten genau zu ihrer damaligen Stimmung gepasst. Selbst jetzt noch verursachte ihr allein der Gedanke daran ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend.

„Ja, es regnete“, stimmte Pen zu. „Das war das Problem. Ich steckte den Brief in meine Tasche, um ihn dir zu geben, ehe ihr auf eure Hochzeitsreise gingt. Aber Miss Bentley nahm mich an jenem Nachmittag zur Royal Academy mit. Sie muss gedacht haben, dass ich mich bei all dem Trubel um dich vernachlässigt fühlte. Es schüttete nur so, und wir wurden völlig durchnässt. Mein Kleid war hin, und Molly nahm es mit, sobald wir nach Hause gekommen waren. So habe ich den Brief völlig vergessen …“ In ihrer Stimme war jetzt eine Spur von Verzweiflung wahrzunehmen. „Erst später, nachdem ihr eure Hochzeitsreise angetreten hattet, brachte Molly das Kleid zurück. Es war gewaschen, getrocknet und geplättet worden, ehe man den Brief fand.“ Ihre Stimme schwankte zwischen Lachen und Weinen. „Ich wusste, dass er von Marcus war, aber es war dann zu spät, und ich war völlig ratlos, was ich tun sollte …“

Isabella war nun ganz wach. „Woher wusstest du, dass er von Marcus war? Hast du ihn gelesen?“

Pen schüttelte den Kopf. „Nein. Nachdem er einmal durch die Wäsche gegangen war, war er nicht mehr zu lesen. Ich warf ihn weg. Aber ich dachte …“ Sie hielt inne und biss sich auf die Lippe. „Ich wusste, dass ihr, du und Marcus, sehr verliebt wart“, sagte sie schließlich. „Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er dich so leicht aufgeben würde.“

Die Sonne blendete Isabella, und sie blinzelte.

„In einer Nacht sah ich dich einmal aus Salterton Hall schleichen, als wir bei Tante Jane waren“, fügte Pen entschuldigend hinzu. „Und obwohl du und Marcus euch in der Öffentlichkeit immer einwandfrei verhalten habt, wusste ich, dass es ein starkes Band zwischen euch gab. Natürlich war ich zu jung, um alles richtig zu verstehen, aber …“ Sie lächelte. „Ich weiß nicht, wie ihr es gemacht habt, das Geheimnis so für euch zu behalten.“

„Das haben wir wohl auch gar nicht“, antwortete Isabella trocken.

Pen sah auf ihre Hände hinunter. „Es tut mir sehr leid, Bella. Ich kann den Gedanken nicht loswerden, dass alles ganz anders hätte ausgehen können.“ In ihren Augen standen bittende Tränen. Isabella schluckte, und die Antwort schien ihr wie ein Klumpen im Hals zu stecken.

„Es macht überhaupt nichts, Pen. Denke nicht mehr darüber nach.“

Sie lehnte sich zu ihrer Schwester hinüber und umarmte sie, weil sie beide es brauchten. Pen drückte sich eng an sie.

„Werde glücklich, Bella“, sagte sie mit erstickter Stimme.

„Ja“, antwortete Isabella, und das Herz tat ihr weh. Pen wäre sehr unglücklich, wenn Isabella und Marcus sich jetzt trennten, aber Pen würde nie verstehen, wie kompliziert alles geworden war.

Als sie über Pens Schulter blickte, sah sie Alistair Cantrell von den Klippen herunter auf sie zukommen. Er und Marcus waren drüben gewesen, um sich von dem Fortschritt der Arbeiten an Salterton Cottage zu überzeugen.

„Alistair sucht dich“, sagte Isabella und umarmte Pen noch einmal. „Nun lauf schon!“

Pen brauchte keine zweite Aufforderung, aber als sie schon stand, hielt sie inne und sah ihre Schwester an.

„Du kommst gut allein zurecht, Bella?“, fragte sie leicht besorgt.

„Ja, natürlich“, bestätigte sie gelassen. „Ich gehe ohnehin gleich zu Marcus.“

Sie sah Pen die Klippen hinaufrennen und sich in Alistairs Arme werfen. Beide winkten ihr freudig zu, ehe sie sich umwandten, um Hand in Hand über die Heide auf die Kapellenruine zuzugehen. Isabella seufzte und drehte sich um. Plötzlich hatte sie Angst. An diesem Tag wollte sie Marcus sagen, dass sie nicht schwanger war, und ihm die Wahrheit über Emma mitteilen. Von Anfang an hätte Isabella wissen können, dass die halbe Wahrheit nie ausreichen würde. Aber nun bestand auch die Gefahr, dass sie das zerbrechliche Beziehungsgefüge, das sie miteinander aufgebaut hatten, zerstören könnte. Denn das, was sie ihm zu sagen hatte, könnte Marcus vielleicht veranlassen, für immer von ihr fortzugehen.

Isabella schloss ihre Finger ineinander und starrte auf das Meer hinaus. Sie liebte Salterton, und sie lebte gern hier. Aber ohne Marcus wäre das alles ohne Bedeutung, denn sie liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt. Sie war ihm gegenüber jedoch Ehrlichkeit schuldig. Wenn sie sich denn wirklich trennen sollten, dann gäbe es wenigstens keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen.

Ihre Angst steigerte sich noch.

Sie stand dennoch auf, klopfte langsam den Sand von ihren Röcken und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte sich schweren Entscheidungen, ob richtig oder falsch, immer gestellt. Und nun, zwölf Jahre nach der ersten, musste sie es wieder tun. Sie betete inbrünstig darum, dass ihre Entscheidung, Marcus von Emma zu erzählen, die richtige sein möge.

Als sie das Haus erreichte, das in heiterer Ruhe in der Nachmittagssonne lag, war sie fast außer sich vor Panik. Sie ging in die angenehm kühle Eingangshalle und hörte, wie Marcus mit dem Architekten sprach. Ihre Unterredung war offenbar im vollen Gange. Also hatte sie noch Zeit für die einzige andere Angelegenheit, die sie noch beschäftigte.

Leise klopfte sie an die Tür von Freddies Krankenzimmer und öffnete. Die Wirtschafterin saß still neben dem Bett. Freddie schien zu schlafen. Er sah blass aus, atmete aber gleichmäßig, und das Fieber war gesunken. Bei seinem Anblick musste sie unwillkürlich lächeln.

Die Wirtschafterin ging auf Zehenspitzen hinaus, und Isabella nahm ihren Platz ein. Sie fasste Freddies Hand, und einen Augenblick später öffnete er die Augen.

„Wie geht es dir, altes Haus?“, fragte Freddie mit etwas Mühe.

„Mir geht es gut, danke“, antwortete Isabella lächelnd. „Du bist ein Held, Freddie. Du hast mir das Leben gerettet.“

Auf Freddies eingefallene Wangen trat ein Hauch von Röte. „Das war schon eine verteufelte Sache“, antwortete er barsch. „Habe getan, was ich konnte. Der Kerl war ein ganz mieser Hund.“ Freddie blinzelte. „Hat Marcus dir gesagt …?“

„Ja“, antwortete Isabella. „Ich verstehe, warum du für ihn gearbeitet hast, Freddie. Du brauchst nichts zu erklären.“

„Es tut mir leid“, sagte Freddie betrübt und vermied es, Isabella anzusehen. „Habe wirklich furchtbaren Mist gebaut.“

Isabella drückte ihm die Hand. „Wir werden das schon in Ordnung bringen.“

„Marcus hat angeboten, meine Schulden zu bezahlen“, sagte Freddie hastig. „Feiner Kerl, dein Mann, Bella.“

„Es gab eine Zeit, da hast du anders über ihn gedacht“, antwortete sie trocken. „War das wegen India, Freddie?“

Er zuckte zusammen und sah sie mit großen Augen an. „Verdammt, Bella, was meinst du damit?“

Sie lächelte wehmütig. „Nachdem Warwick dich verletzt hatte, sagtest du mir, du seiest froh, dass du mir endlich einmal hattest helfen können. Ich habe das sehr gut verstanden, Freddie …“ Sie lächelte ihn liebevoll an. „Du hast aber auch angedeutet, dass du es auch für India getan hast.“

Sie wartete. Freddie lag jetzt ganz still. Er hatte die Augen geschlossen, und die Wimpern hoben sich dunkel gegen seine Wangen ab. Es rührte ihr Herz an. Er sah aus wie der Schuljunge, der er gewesen war, als er sich in seine Cousine verliebt hatte.

„Pen hat mir“, fuhr sie mit sanfter Stimme fort, „gerade von einem Brief erzählt, den sie am Tag nach meiner Hochzeit in meinem Schlafzimmer auf Standish House gefunden hatte. Er war an Miss I. S. adressiert, und daher nahm sie an, dass er für mich bestimmt war. Aber das war er nicht, oder, Freddie? Er war für India. Sie war zur Hochzeit zu uns gekommen. Die Nacht davor teilte sie sich das Zimmer mit mir, aber danach hatte sie es für sich. Der Brief war für sie.“ Isabella holte tief Atem und fuhr fort: „Und ich glaube, du warst der Absender.“

Freddie öffnete wieder die Augen. Der Blick seiner blauen Augen war klar, aber etwas darin sagte Isabella mehr als alle Worte, was er für India empfunden hatte.

„Ich wollte, dass sie mit mir fortging“, sagte Freddie dann. Seine Stimme war rau. „Ich konnte es nicht mehr ertragen. Sie war so unglücklich, seit Lord John sie gezwungen hatte, auf Warwick zu verzichten und ihr Kind wegzugeben. Ich wusste, dass sie mich nicht liebte – sie hat immer nur Warwick geliebt –, aber ich liebte sie.“

Bei diesem Bericht schnürte es Freddie fast die Kehle zu. „Sie war nicht wie du, Bella. Sie war nicht stark. Sie konnte nicht für sich sorgen. Das wollte ich für sie tun, und deshalb machte ich ihr einen Heiratsantrag. Sie aber antwortete, dass ihre Familie nie damit einverstanden wäre.“ Er befeuchtete seine Lippen. „Ich war nicht nur ihr Cousin, sondern stand auch ohne jeden Penny da – fast so eine schlechte Partie wie Warwick selbst. Und ich wusste von dem Kind. Lady Jane wollte sicherstellen, dass India jemanden heiratete, der die Wahrheit nicht kannte.“

„Marcus“, sagte Isabella. „Er war nicht in Salterton, als India Warwick kennenlernte, und im darauf folgenden Jahr war er zu sehr mit seinen Gefühlen für mich beschäftigt …“

„Und Marcus wollte dich ersetzen“, sagte Freddie, „ob er es wahrhaben wollte oder nicht. Lady Jane hielt dies für eine im Himmel geschlossene Verbindung. Erst später erkannte sie, dass Marcus für India nie die Liebe aufbringen konnte, die er für dich hegte. Und so meinte sie zu ihrer Tochter, dass sie lieber deine statt ihrer Mutter wäre. India war daraufhin furchtbar wütend.“

„Und deshalb sagte sie Marcus, dass ich einen Keil zwischen Mutter und Tochter getrieben hätte“, ergänzte Isabella. „Wie viel du doch immer gewusst hast, Freddie!“

Er machte eine leicht hilflose Bewegung und zuckte prompt vor Schmerzen zusammen. „Ich konnte Marcus früher nie leiden“, gestand er. „Zuerst gab ich ihm die Schuld dafür, dass er dich gehen ließ, und dann dafür, dass er India heiratete. Aber ich muss gestehen, dass ich mindestens genauso schuldig war. Ich hätte Papa entgegentreten müssen, und ich hätte zu Lord John gehen und darauf bestehen können, dass er mir die Ehe mit India erlaubte …“ Er schüttelte den Kopf. „Alles verdammt falsch gelaufen.“

Isabella legte den Arm um ihn und richtete ihn auf, sodass er von dem Glas Wasser trinken konnte, das sie ihm hinhielt.

„Danke“, sagte Freddie, als sie das Glas wieder niedersetzte. „Danke dir, Bella.“

Sie lächelte. Dann legte sie die Miniatur, die sie aus Lady Janes Schlafgemach genommen hatte, auf Freddies Nachttisch und ging, um ihn schlafen zu lassen.

Isabella fand Marcus in der Eingangshalle, wo er sich gerade von dem Architekten verabschiedete. Belton, der in der Woche zuvor aus dem Londoner Haus hierher gekommen war, hielt ihm Mantel und Stock bereit. Marcus’ Gesicht leuchtete auf, als er Isabella gewahrte.

„Du kommst gerade richtig, um mit mir den Tee einzunehmen, Liebling. Dabei will ich dir von meinen Plänen für Salterton Cottage erzählen“, sagte er. „Belton, bitte bringen Sie Tee für zwei in die Bibliothek.“

„Selbstverständlich, Mylord“, murmelte der Butler.

Isabella ließ sich von Marcus in die Bibliothek führen, aber als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, verlor sie beinahe die Fassung. Sie sah die Pläne und Zeichnungen über den Schreibtisch verstreut. Marcus begann zu sprechen, aber sie nahm nichts von dem auf, was er ihr sagte. Recht bald merkte er, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, und hielt inne. Isabella spürte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug, es pochte wie wild. Marcus kam zu ihr herüber.

„Bella?“, sagte er und blickte besorgt. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Du siehst so …“, er hielt inne und nahm ihre Hand, „… verängstigt aus.“

Sie war auch verängstigt. Sie ließ sich von ihm zu dem Zweiersofa in der Fensterecke führen, wo sie sich mit ihm hinsetzte. Marcus hatte fragend eine Augenbraue hochgezogen und wartete auf ihre Erklärung. Isabella hatte das Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben. Es war so wenig Zeit gewesen – zu wenig, um all die Liebe und das Vertrauen, das einmal zwischen ihnen gewesen war, wiedererstehen zu lassen. Und nun musste sie sehen, ob das, was sie erreicht hatten, der Prüfung standhielt. Wenn es fehlschlug, dann hatte sie wieder einmal eine falsche Entscheidung getroffen.

„Marcus“, sagte sie mit fast krächzender Stimme. Sie räusperte sich und versuchte es erneut. Einfach heraus damit, das ist das Beste, sagte sie sich. „Es tut mir so leid“, sagte sie dann. „Ich werde kein Kind bekommen.“

Sie sah, dass etwas wie Angst in seinen Augen zum Vorschein kam. Er machte eine unwillkürliche Bewegung, so als ob er sie in die Arme nehmen wollte, hielt dann aber inne. Sein Gesichtsausdruck war sehr angespannt. Er holte tief Luft, zögerte und wartete dann.

Isabella verstand, dass er Angst verspürte. Schließlich machte auch sie sich große Sorgen, wie es nun mit ihnen weitergehen würde. Vorsichtige Wachsamkeit war jetzt in seinem Gesicht zu lesen, und er blieb immer noch ganz still.

„Mir tut es auch leid“, sagte er dann ruhig. „Aber das braucht nicht das Ende für uns zu sein, Bella.“

Sie presste die Hände so fest zusammen, dass es wehtat. „Ich hatte große Angst, als ich dachte, dass ich schwanger sei“, sagte sie. „Es ist schwer zu erklären. Ich habe schon einmal meine Tochter verloren, und ich wollte das niemals wieder erleben.“

Marcus’ wacher und angespannter Gesichtsausdruck wich einer liebevollen Zärtlichkeit. Er nahm Isabella in die Arme.

„Ich verstehe.“ Er sprach ganz leise und drückte den Mund gegen ihr Haar. „Aber ich werde immer bei dir sein, Isabella. Das nächste Mal wird es anders. Und obwohl du jetzt nicht schwanger bist, so wird eine Zeit kommen, wenn wir unsere Familie haben werden.“

Sie entwand sich ihm und schüttelte den Kopf. Marcus glaubte, sie verstanden zu haben, und er wollte sie trösten. Es brach ihr fast das Herz zu sehen, wie liebevoll er zu ihr war. Aber er wusste nicht. Und nun musste sie es ihm sagen. Sie hielt ihn mit einer Hand etwas von sich ab.

„Nein, Marcus. Du verstehst nicht, weil ich es dir nicht gesagt habe. Ich hätte es längst tun sollen, aber …“ Sie räusperte sich. „Es hat mit Emma zu tun.“

Er wurde ganz still. Seine erschrockenen Augen suchten ihren Blick. „Du willst mir sagen, dass sie mein Kind war“, sagte er tonlos.

„Nein“, antwortete Isabella. „Es ist schlimmer.“ Sie sah ihn kurz an und wandte sich dann schnell ab. Hastig fuhr sie fort: „Ich konnte nie ganz sicher sein, ob Emma unser Kind war. Ich war jung, und es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, dass ich schwanger sein könnte. Meine Monatsregel blieb aus. Aber ich führte das auf die Anstrengung der Hochzeit zurück …“ Sie hielt inne. „Emma wurde sieben Monate nach meiner Heirat mit Ernest geboren“, sagte sie tonlos. „Sie war ein zartes Kind und könnte als Frühgeburt Ernests Tochter gewesen sein. Das haben wir natürlich allen gesagt. Aber ich war nie sicher. So oder so, es hat mich seitdem immer gequält.“

Sie stand auf, ohne ihn anzusehen, und trat einen Schritt von ihm weg. „Ich wollte, dass sie dein Kind war!“ Sie spürte, wie es ihr wieder das Herz brach. „Ich sagte mir immer, dass sie deine Tochter war! Sie war das Einzige, was ich von dir hatte, und dann Jahre später – verlor ich sie!“ Ihre Stimme brach. Aufgewühlt sah sie Marcus in die Augen. „Ich habe versagt! Ich konnte sie nicht retten, und damit kann ich nicht leben. Nie wieder sollte mir das geschehen. Deshalb wollte ich nie wieder ein Kind. Ich verlor dich, und dann verlor ich das Kind, das ich immer als dein Kind betrachtet hatte. Ich möchte nie wieder jemanden verlieren!“ Zitternd wandte sie sich ab. „Ich habe so sehr versucht, sie zu beschützen!“ Ihre Schultern sackten zusammen. „Aber am Ende reichte es nicht.“

Eine schreckliche Pause trat ein. Marcus war ganz weiß im Gesicht. „Hat Fürst Ernest vermutet, dass du glaubtest, Emma sei nicht sein Kind?“

Isabella konnte Marcus gar nicht ansehen aus Angst davor, was sie in seinem Gesicht erblicken könnte. Sie spürte eine lähmende Kälte in sich.

„Ich weiß es nicht. Wir haben nie darüber gesprochen. Wie gesagt, Emma war bei der Geburt klein und zart. Sie könnte ein Siebenmonatskind gewesen sein. Sie bedeutete ihm nie etwas, aber ich glaube, dass hatte mit ihr persönlich nichts zu tun. Er verabscheute Kinder im Allgemeinen.“

Marcus schwieg und beobachtete sie. In allen Gliedern spürte Isabella eine ungeheure Anspannung.

„Nach Emmas Tod habe ich versucht, alles zu vergessen“, sagte sie dann. „Und dann natürlich habe ich dich wiedergetroffen.“ Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn liebte, ihn immer geliebt hatte und immer lieben würde. Stattdessen biss sie sich auf die Lippen. Sie musste das jetzt beenden, ehe es unmöglich wurde, weiterzumachen.

„Je näher wir uns kamen, umso mehr belastete es mich, dass ich dieses Geheimnis vor dir hatte. Ich hatte Angst, es dir zu sagen, denn dadurch hätte ich alles aufs Spiel gesetzt. Aber ich könnte mit diesem Geheimnis zwischen uns nicht leben, und hoffe, du kannst das verstehen.“

Isabella wandte sich ab. Durch das Fenster der Bibliothek sah sie die Gartenlaube, deren Umrisse durch ihre Tränen hindurch nur verschwommen zu erkennen waren. Sie wartete darauf, dass er fortging.

„Isabella!“, rief Marcus.

Sie wandte sich ihm zu.

Er zog sie so plötzlich an sich, dass ihr der Atem stockte.

„Marcus!“

„Bella!“ Sein fester Griff schmerzte sie. „Ich verstehe. Ich wünschte …“ Er holte tief Atem. „Ich wünschte nur, dass ich immer bei dir gewesen wäre, als du mich brauchtest. Aber jetzt bin ich hier.“ Dann hielt er sie ein wenig von sich entfernt, und ihr Herz pochte wild bei dem Blitzen seiner Augen. „Ich bin hier, und ich werde dich niemals verlassen, und du brauchst niemals wieder Angst zu haben.“

Isabella schluchzte leise und barg ihr Gesicht an seiner Brust.

Es klopfte an der Tür.

„Tee, Mylord“, sagte Belton in gemessenem Ton. Er stellte das Tablett auf den Tisch, schob die Pläne umständlich beiseite und ignorierte vollkommen die merkwürdige Lage, in der er seine Arbeitgeber vorfand. „Wünschen Sie auch Kuchen, Mylord, Mylady?“

„Nein danke“, antwortete Marcus. „Wir wünschen Champagner, aber vielleicht erst beim Dinner.“

Dann wandte er sich Isabella wieder zu. „Ich liebe dich“, sagte er. Er holte tief Luft. „Erinnerst du dich daran, dass ich dir bei unserer Hochzeitszeremonie meinen Siegelring gegeben habe?“

Sie nickte stumm. Selbst wenn sie es versucht hätte, so hätte sie nicht sprechen können.

„Ich liebte dich schon damals“, fuhr Marcus fort. „Ich wollte dich beschützen.“ Er nahm ihre Hand und schaute wehmütig auf den schlichten Goldreif, der seinen Siegelring ersetzt hatte. „Du warst mein, und du solltest meinen Ring tragen, weil ich nicht mit dir gehen konnte.“ Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. „Du sagtest, dass du des Kämpfens müde warst. Du brauchst niemals wieder allein zu kämpfen, Bella.“

Sie erwiderte sein Lächeln durch ihre Tränen hindurch. „Ich liebe dich auch, Marcus.“

„Es tut mir so leid“, sagte er, „dass ich so lange brauchte, um zu erkennen, wie sehr ich dich liebe.“

Isabella blickte auf und sah, dass Belton immer noch da war. Er wartete steif darauf, entlassen zu werden. Seinem Gesichtsausdruck konnte man entnehmen, dass er in seiner langen Dienstzeit schon manches schockierende Gespräch mit angehört hatte, dass er aber noch nie das Pech gehabt hatte, eine Liebeserklärung aus dem Munde seiner Dienstherren zu hören.

„Wünschen Sie noch etwas, Mylady?“, fragte er steif.

„Nein danke, Belton“, antwortete Isabella, „außer dass wir ungestört bleiben.“

Sie hatte den Eindruck, den Hauch eines Lächelns auf den schmalen Lippen des Butlers zu erkennen.

„Selbstverständlich, Mylady“, sagte er.

Isabella kuschelte sich enger an Marcus’ warmen Körper. Sie spürte, wie seine Arme sie fester umfassten. Eine gewaltige Woge der Erleichterung und Freude ergriff sie. Sie hatten nicht nur überlebt, sondern sie hatten einander wiedergefunden. Marcus presste seine Lippen auf ihr Haar, und sie standen, eng aneinandergeschmiegt, eine ganze Weile einfach nur da. Als Marcus sie schließlich losließ, waren sie ein wenig außer Atem.

„Ist Belton gegangen?“, fragte Marcus.

Sie schaute sich um. „Ich denke schon. Vielleicht hat er sogar die Tür verschlossen.“

„Das ist gut.“ Marcus begann, die kleine Knopfreihe am Hals ihres Kleides zu lösen. Dann riss er ihr Mieder auseinander und begann, ihre sommersprossige bloße Haut zu küssen. Isabella stockte der Atem.

„Marcus, wir können das hier nicht tun.“

„Warum nicht?“ Er zog an den Bändern, die ihr Hemd zusammenhielten.

Isabella konnte vor Erregung kaum sprechen: „Weil …“

Die Bänder lösten sich, und Marcus ließ eine geübte Hand hineingleiten und umfasste ihre Brust. Isabella spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie ergriff seine Arme.

„Wir sollten jetzt mehr Verantwortung zeigen“, sagte sie mit spitzbübischem Lächeln. „Wir sind gerade mal zwei Monate verheiratet.“

Marcus setzte sich in den großen Sessel und zog Isabella zu sich herab. „Wir können sehr verantwortlich handeln. Wir können es verantworten, ob wir es auf dem Tisch, in diesem Sessel oder auf dem schönen weichen Läufer auf dem Fußboden tun …“

Sie war sprachlos. Dann sagte sie: „Nicht auf dem Tisch! Du wirst alle Pläne des Architekten beschädigen!“

„Dann auf dem Fußboden“, antwortete er und zog sie mit sich auf den Läufer vor dem Kamin. Er schob das Mieder zur Seite und küsste die Rundung ihrer Schulter. Isabella erbebte und rang nach Luft.

„Ich liebe dich“, sagte er. Zärtlich strich er ihr das Haar zur Seite und liebkoste ihren Nacken. „Du bist mein. Du warst es von Anfang an, und nun wirst du es immer sein.“

Er drehte sich um und hatte Isabella unter sich. Verlangend bog sie sich ihm entgegen. Sein Atem strich über Isabellas Haut, und ein wohliger Schauer durchrieselte sie. Marcus nahm ihr Gesicht in beide Hände.

„Liebst du mich, Bella?“

„Ja“, flüsterte sie. „Ich habe es dir gesagt.“

„Sag es mir wieder. Ich muss es viele, viele Male hören.“

Sie fasste Marcus am Hemd und zog ihn an sich. „Nur wenn du es mir auch sagst.“

Er presste seinen Mund auf ihre Lippen.

„Ich liebe dich“, sagte er zwischen zwei Atemzügen.

Mit einer Hand befreite er ihre Brüste von den Resten des Mieders.

„Ich liebe dich“, sagte sie, während Marcus die zarte Haut ihrer Brüste mit Küssen bedeckte.

„Immer.“Wieder küsste er ihre Lippen, umwarb sie voller Verlangen und forderte gleichzeitig leidenschaftlich ihre Zustimmung. Für einen Augenblick löste er sich von ihr, um seine Beinkleider in fieberhafter Eile zu lösen.

Isabella konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Marcus, als Gentleman kann man eine Dame nicht in Stiefeln lieben.“

Ihre Worte endeten in einem Keuchen, als er ihr Hemd hochzog und seine Hand auf der bloßen Haut über ihren Seidenstrümpfen verweilen ließ.

„Dann bin ich eben kein Gentleman.“ Er versenkte sich in sie. „Aber ich liebe dich so sehr.“

„Oh!“ Isabella wölbte sich ihm entgegen, spürte ihn feucht und hart in sich. Ihre Muskeln erbebten und zogen sich zusammen, und sie fühlte pochende Hitze in sich hochsteigen. Sie fasste ihn hart bei den Schultern und zerriss beinah sein Hemd.

„Marcus, die Fenster …“

„Ja.“

„Und die Diener …“

„Ja.“

„Jeder könnte uns sehen …“

Marcus bewegte sich tief in ihr immer schneller. In Isabellas Kopf wirbelte es. Keuchend spürte sie, wie ihre Erregung weiter und weiter stieg und das überwältigende Verlangen ihren ganzen Körper erbeben ließ. Schauer der Lust liefen über ihre Haut. „Wann“, konnte sie mit Mühe herausbringen, „wann wirst du mit dieser Ungeheuerlichkeit aufhören?“

„Niemals.“ Mit einem letzten Stoß trieb er Isabella zur Ekstase. Gemeinsam versanken sie im Strudel reinen Glücks. Marcus drückte sein Gesicht auf ihre feuchte Schulter. „Aber ich liebe dich so sehr.“

Als sie später aneinandergekuschelt bei dem kalt gewordenem Tee in dem Sessel saßen, erzählte Isabella ihm von dem Brief, den Pen gefunden hatte, von Freddie – und von India.

„Das Bemerkenswerteste ist“, sagte sie, „dass es India war, die Warwick überhaupt erst auf Freddies Schwächen hingewiesen hat. Das war der Hebel, den er brauchte, um ihn in seine Gewalt zu bekommen. Ich bin sicher, dass sie ihm nicht schaden wollte, aber ungewollt wurde sie sein Unglück.“ Isabella rieb ihre Wange an Marcus’ Schulter und kuschelte sich noch tiefer in seine Armbeuge. „Freddie sagte mir, dass er India geliebt hat, seit sie Kinder waren. Er wusste damals nicht, dass Warwick ihr Liebhaber gewesen war.“ Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: „Nun, er wusste schon, dass India einen Liebhaber und auch ein Kind hatte; denn sie vertraute ihm immer alles an. Er war überhaupt der Einzige, dem sie das alles erzählt hat. Aber sie nannte niemals Warwicks Namen, und Freddie hat auch nie gefragt. Er und Warwick arbeiteten jahrelang zusammen, wussten aber nichts von alledem.“

Marcus drückte einen Kuss auf ihre Stirn.

„Der Brief, den Pen gefunden hatte“, sagte er. „Hat es dir etwas ausgemacht, dass der Brief weder von mir kam noch an dich gerichtet war?“ Er seufzte. „Ich wünschte, ich hätte mich mehr angestrengt, um dich zu finden, Bella, und mit dir zu sprechen. Ich habe dich so sehr geliebt. Ich wäre mit dir geflohen, ob verheiratet oder nicht …“

Isabella lächelte. „Keine Entschuldigungen mehr, Marcus. Nicht jetzt, wo alles vergeben und vergessen ist.“ Dabei legte sie einen Finger auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Und ich brauche keine alten Briefe“, fügte sie hinzu, „nicht, wenn ich dich habe.“

Ein weiteres Mal überließ sie sich der Wärme seiner Umarmung.

Welch eine Nachricht! Eine gewisse lebensfrohe Fürstin, über deren Enttäuschung von den Liebesfähigkeiten englischer Männer hier im vergangenen Jahr berichtet wurde, hat dauerhaftes Glück gefunden bei ihrem eigenen Adonis in Gestalt des Earl of S. Man darf annehmen, dass der Earl Erfolg hatte, die Meinung der Dame zu ändern, wonach englische Männer die weitaus schlechtesten Liebhaber auf der ganzen Welt seien. Denn offenbar erwartet das Paar in einigen Monaten sein erstes Kind. Welche Freude! Welche Begeisterung! Wir wünschen dem Earl und der Countess für die Zukunft viel, viel Glück und immerwährende Liebe.
aus: The Gentlemen’s Athenian Mercury, 18. Mai 1817

– ENDE –