8. KAPITEL
Penelope Standish trug ihr Nachthemd, ein praktisches, gestreiftes Baumwollgewand ohne Rüschen. Sie saß auf ihrem Bett, und um sie herum auf der gestickten Bettdecke lagen mehrere beschriebene Blätter. Einige hatte sie aussortiert, weil sie nicht skandalös genug, andere, weil sie zu übertrieben und sensationsgeladen waren. Es war schwierig, genau den richtigen Ton zu treffen, aber Mr. Morrow, der Herausgeber des Gentlemen’s Athenian Mercury, war der Meinung, dass sie für eine Anfängerin gute Arbeit leistete.
Pen schauderte, als sie daran dachte, was Isabella wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass ihre eigene Schwester die Presse mit Geschichten über sie versorgte. Isabella verdiente es nicht, so hintergangen zu werden. Nach ihrer Rückkehr hatte sie ihre jüngere Schwester von Anfang so behandelt, als ob sie niemals getrennt gewesen wären. Pen war überrascht und erfreut angesichts der herzlichen Freundschaft, die wieder so schnell zwischen ihnen gewachsen war. Und doch betrog sie Isabella praktisch jeden Tag.
Dummerweise war sie reichlich verzweifelt – nein, nicht einfach nur verzweifelt, sondern vollständig und unwiderruflich hoffnungslos.
Das Haus war sehr still. Freddie hatte sie von dem Ball der Duchess of Fordyce nach Hause begleitet und war danach sofort wieder gegangen, ohne ihr zu sagen wohin. In letzter Zeit kam das häufiger vor, aber Pen brauchte ohnehin keine Erklärung. Immer wenn Freddie im Morgengrauen nach Hause wankte und nach Alkohol und billigem Parfüm roch, war es ziemlich offensichtlich, wo er die Nacht zugebracht hatte.
Einmal hatte es eine Zeit gegeben, als sie und Freddie in angenehmer gegenseitiger Zuneigung leben konnten. Sie vertrauten einander zwar nichts an, aber sie sprachen wenigstens miteinander. Jetzt aber sahen sie sich nur selten, und wenn, dann hatte Freddie keine Neigung zu reden. Pen wusste wohl, dass sie ihn bevormundete und dadurch umso mehr von ihr forttrieb, aber sie konnte nichts daran ändern. Sie machte sich Sorgen um ihn. Da war so ein gejagter Blick in seinen Augen, als ob er versuchte, irgendeine unangenehme Wahrheit mit Alkohol und Frauen und mit dem, was er sonst noch in den dunklen Nächten trieb, auszulöschen.
Das Geld war auch verschwunden. Freddies Einkommen war nie üppig gewesen, aber jetzt schien alles an die Tavernenwirte und die Bordellbetreiber der Stadt zu gehen. Pens kleine Zuwendung, ein Vermächtnis ihres Vaters, reichte nicht, um sie beide zu versorgen. So türmten sich Schulden auf, und recht bald würden die Gläubiger und Gerichtsvollzieher an die Tür klopfen, gefolgt von Vorladungen und Gerichtsverhandlungen. Pen erinnerte sich daran, wie ihr Vater geendet hatte: Ein verbitterter Mann, der wegen seiner Schulden durch ein halbes Dutzend schändlicher Gerichtsprozesse hatte gehen müssen und dann darüber gestorben war, dass er von dem bescheidenen Einkünften seiner Frau leben musste. Schulden verfolgten die Familie wie ein Fluch.
All das hatte dazu geführt, dass Pen sich für Isabellas Erlebnisse zu interessieren begann. Zuerst versuchte sie es mit Romanen, aber ihre Arbeiten waren von mehreren Verlagen mit dem Kommentar abgelehnt worden, dass sie für den normalen Geschmack zu sensationsgeladen waren. Dann hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Handbücher über gutes Benehmen zu schreiben. Aber die ihr innewohnende Respektlosigkeit schien an den unpassendsten Stellen immer durchzuscheinen. Während sie sich noch damit herumärgerte, hatte sie eines Tages das Arbeitszimmer aufgeräumt, und ihr Blick war auf eine alte Ausgabe des Mercury gefallen, die Freddie hatte herumliegen lassen. Darin befand sich eine schlüpfrige Geschichte über die außerehelichen Affären einer bekannten Lady. Und Pen hatte die Idee, dass sie mindestens so gut schreiben konnte, wenn sie nur von jemandem wüsste, über den sie schreiben konnte …
Eine innere Stimme hatte ihr eingeflüstert, dass ihre Schwester nichts dagegen hätte und sie sogar verstehen würde. Pen brauchte das Geld dringend, und Isabella wusste, was es bedeutete, arm und verzweifelt zu sein und Schulden zu haben …
Pen wählte ein paar Blätter aus, las sie durch und legte sie mit einem Seufzer nieder. Schuldgefühle schnürten ihr wieder fast die Kehle zu. Obwohl sie gerade erst fünfzehn gewesen war, als Isabella Ernest geheiratet hatte und ins Ausland gegangen war, hatte sie eine sehr enge Beziehung zu ihrer älteren Schwester gehabt. Sie konnte sich noch ganz klar an den schrecklichen Augenblick erinnern, als ihr Vater Bella in Gegenwart der gesamten Familie sagte, dass sie Ernest heiraten müsse, wenn sie nicht alle in den Ruin getrieben werden wollten. Pen war zu der Zeit zu jung gewesen, um wirklich zu verstehen, was geschah. Sie nahm Isabellas Hand und teilte ihr mit, was man ihr gesagt hatte: Wenn Bella sich weigerte, den Fürsten zu heiraten, würden sie alle im Fleet-Gefängnis schmachten müssen. Das aber dürfe nie eintreten, und bestimmt werde Isabella das nicht zulassen. Pen sah, wie Isabella erbleichte und dass sie beinahe zusammenbrach. Sie verstand damals viel zu spät, dass Bella selbst viel zu jung war, um solche Entscheidungen zu treffen. Und dennoch tat sie es und rettete alle damit. Ernest war zu der Zeit reich und auf verschwenderische Weise großzügig zu seiner neuen Familie gewesen. Und so hatten sie alle neu anfangen können. Ihr Vater aber ließ sich wieder auf dieselben windigen Investitionen ein, und einige Jahre später hatte er wieder alles verloren.
Pen strich ziellos die Blätter glatt. Sie und Bella hatten über die Jahre hin miteinander im Briefwechsel gestanden. Dadurch waren sie einander recht nahe geblieben, obwohl sie sich in den zwölf Jahren nur drei- oder viermal gesehen hatten. Unter diesen Voraussetzungen kam ihr der Umstand, dass sie die unglücklichen Erfahrungen ihrer Schwester der Presse zugänglich gemacht hatte, wie der größte Betrug überhaupt vor.
Pen hatte versucht, sich damit zu trösten, dass ihre Schwester sich durch die Klatschspalten im Mercury nicht allzu sehr gestört fühlte. Es war einerseits eine Erleichterung zu wissen, dass Isabella nicht die Absicht hatte, den Verfasser ausfindig zu machen. Andererseits war sie etwas enttäuscht gewesen, denn so konnte sie ihren Betrug fortführen. Isabella würde nie etwas davon erfahren.
Pen biss sich auf die Unterlippe. Vermutlich könnte sie immer noch den altehrwürdigen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten nehmen und einen reichen Mann finden. Aber sie war nun im etwas fortgeschrittenen Alter von siebenundzwanzig, und obwohl die Männer immer noch ihre strahlende hübsche Erscheinung bewunderten, war es eher unwahrscheinlich, dass auch nur einer von ihnen sich auf sie einließ, wenn sie alt und arm war. Außerdem war der einzige Mann, der sie in letzter Zeit interessiert hatte, Alistair Cantrell. Sie hatte aber bereits entdeckt, dass er nicht reich war.
Der Gedanke an Mr. Cantrell brachte sie auf Marcus Stockhaven. Keinesfalls als möglichen Ehemann: Pen gab ohne Weiteres zu, dass schon der Gedanke, einen so einschüchternden Mann wie Marcus zu heiraten, ihr Angst einjagte. Nein, sie dachte an ihn, weil er der einzige ihrer Verwandten war, der reich genug war, um ihr helfen zu können. Es war immerhin eine Möglichkeit, nur leider kannte sie ihn nicht so gut und hatte das Gefühl, dass er aus irgendeinem Grunde Freddie nicht mochte. Pen aber liebte ihren Bruder und wollte seine Schwächen Marcus gegenüber nicht offenlegen.
Beim Gedanke an Marcus musste sie wieder an Isabella denken. Pen hatte immer gewusst, dass Isabella und Marcus eine starke Leidenschaft verbunden hatte. In jenem letzten Sommer in Salterton war sie noch ein Kind gewesen, aber sie hatte Isabella gesehen, wie sie sich nachts aus dem Haus schlich und wie sie später mit schwungvollem Gang und leuchtenden Augen aus den Gärten zurückkam. Isabellas Verlobung mit Marcus hatte sich wie ein ganz natürlicher Schritt dargestellt, wie eine formale Anerkennung des unlösbaren Bandes zwischen ihnen. Und doch war das Band dann unwiderruflich zerrissen worden.
Aber jetzt waren beide seltsamerweise zum selben Zeitpunkt zurückgekehrt, und gemessen an ihrem Verhalten auf dem Ball an diesem Abend empfanden sie immer noch etwas füreinander. Nur waren sie jetzt älter geworden, und die Leidenschaft zwischen ihnen erschien irgendwie düsterer und auch schmerzvoller. Pen dachte daran, wie Marcus Isabella angesehen hatte, und sie erschauerte dabei. Wenn ein Mann sie jemals in dieser besonderen Weise ansehen sollte, dann würde sie wohl die Flucht ergreifen.
Marcus war von dem Ball geradewegs in die weniger bevorzugte Gegend um den Ratcliffe Highway im Osten Londons gegangen. Dank seiner Kontakte zu den Ermittlern aus der Bow Street hatte Alistair einen Hinweis bekommen, dass einer von Warwicks Komplizen an den Morden in dieser Gegend beteiligt war. Marcus verbrachte deswegen mehrere Stunden damit, mit einer beträchtlichen Summe an Informationen zu kommen. Der Versuch schlug jedoch fehl. Niemand wollte reden. Alle hatten viel zu viel Angst.
„Es ist ganz seltsam“, sagte Marcus, als beide auf dem Heimweg in einer klapprigen Pferdedroschke saßen, „aber Warwick ist wenig mehr als ein geflüstertes Etwas, oder? Er ist überall und nirgends. Ich frage mich allmählich, ob er wirklich existiert.“
„Oh, er existiert durchaus“, antwortete Alistair grimmig. Er saß in einer Ecke der Kutsche. Die Hände hatte er tief in den Taschen, und sein Kinn war von den Falten seines Halstuches verdeckt. „In der einen oder anderen Form existiert er. Ob als Hirngespinst oder als Mensch, die Wirkung ist dieselbe. Er verbreitet Schrecken bei der bloßen Erwähnung seines Namens. Das ist es, wogegen wir zu kämpfen haben.“
„Aber wie können wir ihn finden?“, fragte Marcus. „Wir wissen nicht einmal, wo wir suchen sollen. Er gleitet uns durch die Finger wie Rauch.“
Alistair wandte den Kopf um und blickte aus dem Fenster in das heller werdende Tageslicht. Für einen Augenblick dachte Marcus, dass Alistair gar nicht antworten würde. Er fühlte sich kalt, steif und enttäuscht. Das hatte nur ein Gutes: Seine Gedanken wurden kurze Zeit von Isabella abgelenkt. In einigen Stunden würde er sich frisch machen, um sich in den Brunswick Gardens zu begeben und mit ihr zu sprechen.
„Du vergisst“, sagte Alistair plötzlich, „dass du etwas besitzt, was Warwick haben will. Früher oder später wird er nach dir suchen.“
Eine gewisse lebenslustige Fürstin, deren Rückkehr nach London von allen Lebemännern und Beaus, die sie beim ersten Mal umschwärmt hatten, mit Begeisterung begrüßt worden war, trat gestern Abend auf dem schottischen Ball der Duchess of F sehr auffällig in Erscheinung. Die Fürstin, die sich nie vor ihrer Verantwortung, einen Skandal heraufzubeschwören, drückt, hat, wie man hört, die Bemerkung gemacht, dass sie nicht die Absicht habe, sich von irgendeinem Gentleman umwerben zu lassen, weil Engländer ihrer Ansicht nach die schlechtesten Liebhaber der ganzen Welt seien. Sie hat einen großen Teil ihres Lebens im Ausland verbracht und muss daher die Unterschiede recht gut kennen. Während wir uns vor der reichen Erfahrung der Fürstin auf diesem Gebiet verneigen, hoffen wir, dass sich ein Gentleman findet, der den Ruf seiner Landsleute verteidigt und die Meinung der Fürstin berichtigt. Vielleicht ist der Earl of S genau der richtige Mann für diese Aufgabe? Diejenigen, die ein gutes Gedächtnis haben, werden sich erinnern, dass die schöne Fürstin und der galante Earl früher einmal mehr als nur gute Bekannte waren …
aus: The Gentlemen’s Athenian Mercury, 3. Juli 1816
Isabella seufzte und legte die Zeitung sorgfältig neben ihren Teller mit dem Frühstückstoast. Sich wieder in den Skandalblättern erwähnt zu sehen, kam für sie kaum unerwartet. Jemand, der den Ball der Duchess of Fordyce besucht hatte, musste erfreut gewesen sein, sich mit der Weitergabe einer so überaus wichtigen Information eine schnelle Guinee zu verdienen. Zu Ernests Zeiten war das immer wieder geschehen. Diesen jetzigen Skandal hatte sie jedoch ganz allein zu verantworten. Was hatte sie nur veranlasst, eine so empörende und dazu noch unwahre Aussage über die amourösen Fähigkeiten des englischen Mannes von sich zu geben? Sie hatte ja nicht einmal die Erfahrung, um ein solches Urteil zu fällen. Wenn sie sich nur nicht vom gemeinen Gerede der Duchess of Plockton zu dieser Aussage hätte hinreißen lassen! Aber deren Bemerkung über ihre Tochter Emma hatte sie so gereizt, dass sie sich in dem Augenblick um Sitte und Anstand nicht scherte. Denn bei diesem Thema war sie immer sehr angreifbar.
„Die Damen und Herren von der Presse“, ließ Belton sich mit Grabesstimme her vernehmen, „haben sich draußen niedergelassen, Durchlaucht. Und Miss Standish ist gekommen.“
„Ich musste durch die Hintertür hineingehen“, murrte Pen und ließ sich auf einen der Rosenholzstühle fallen. Geräuschvoll packte sie einen Stapel Zeitungen neben den Teller ihrer Schwester, sodass die Teller klirrten und Tee auf die Tischdecke schwappte. „Oh, du hast die Zeitungen ja schon gesehen!“
„Was ist nur passiert, dass du eine so schlechte Laune hast?“, fragte Isabella leicht verärgert. „Nach einem Ball kommst du doch sonst nicht schon mit der ersten Morgenpost.“
„Ich wollte dich hiermit bekannt machen.“ Pen deutete auf die Zeitungen. „Aber ich sehe, dass ich zu spät komme. Kann ich etwas Tee bekommen? Den brauche ich jetzt.“
„Aber bitte.“ Isabella legte ihre Toastschnitte mit Honig hin und wischte sich die klebrigen Finger ab. Dann griff sie nach den Zeitungen. „Ich hätte das eigentlich voraussehen müssen.“
„Das sagte ich dir bereits.“ Zur Untermalung ihrer Aussage schwenkte Pen die Teekanne herum. „Du kannst dich ja nicht einmal bewegen, ohne dass irgendein Skandal ausgelöst wird.“ Sie runzelte die Stirn. „Also wirklich, Bella! Wie kannst du dabei nur so ruhig sein? Draußen vor der Haustür hat sich eine große Meute eingefunden!“
„Ich weiß“, antwortete Isabella gleichmütig.
„Der Mercury und der Preceptor schlagen sich um die Klatschspalten“, murrte Pen. „Es ist äußerst ärgerlich.“
„Ärgerlich ist nur, dass es sich um die beiden ordinärsten Klatschblätter handelt“, erwiderte Isabella. Dabei betrachtete sie das erhitzte Gesicht ihrer Schwester mit Sorge. „Du scheinst das alles sehr persönlich zu nehmen, Penelope.“
„Ich?“, antwortete Pen erschrocken. „Nein … ja, ich denke, es ist eine Schande.“ Isabella zuckte die Achseln. „Der ganze Wirbel wird sich legen. Es ist immer so.“
„Offenbar bist du daran gewöhnt.“
„Natürlich.“ Isabella sah ihre Schwester mit ihren blauen Augen amüsiert an. „Ernest hat immer die Aufmerksamkeit der Blätter auf sich gezogen.“
Pen stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und nahm einen großen Schluck Tee, wobei sie ihre Schwester über den Tassenrand lange ansah. „Ja, das verstehe ich“, sagte sie dann. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Bella, was du gesagt hast, stimmt das?“
Eine Falte erschien auf Isabellas Stirn. „Was habe ich gesagt?“
„Dass Engländer die schlechtesten Liebhaber auf der ganzen Welt sind? Ich hoffe, dass das nicht stimmt. Gestern Abend hatte ich keine Gelegenheit, dich danach zu fragen, da Cousin Marcus so eifrig darauf bedacht war, deine Worte möglichst schnell zu widerlegen!“
Isabella sah ihre Schwester ernst an. „Ich bin entsetzt, dass du so etwas fragst, Penelope!“
Pen lachte. „Mein Interesse ist nur rein theoretischer Natur.“ Sie machte eine leicht wegwerfende Geste. „Ich bin jetzt siebenundzwanzig, Bella. Soll ich so tun, als ob ich diese Seite des Lebens nicht kenne?“
„Wohl nicht“, gab Isabella zu. „Es wäre ziemlich albern.“
Pen sah ihre Schwester erwartungsvoll an. „Also?“
„Ich habe keine Ahnung, ob es stimmt oder nicht“, antwortete Isabella. „Ich wollte die Gäste der Duchess nur ein wenig schockieren.“
Pen starrte sie an. „Du weißt es nicht?“
„Nein.“ Dabei hob sie belustigt eine Augenbraue. „Ich habe nicht genügend Erfahrung, um das zu beurteilen.“ Sie hielt inne und dachte an Marcus. Er war ihr Liebhaber gewesen, aber in jener wunderbaren Frühzeit jugendlicher Unbekümmertheit schien er viel mehr gewesen zu sein. Er war für sie die ganze Welt gewesen.
Pen beobachtete Isabella nachdenklich.
„Du weißt ganz gut, dass drei Viertel meines schlechten Rufes das Ergebnis von Ernests ausschweifendem Lebenswandel sind“, fügte Isabella dann hinzu.
„Und das übrige Viertel?“, bohrte Pen weiter.
„Es ist der größte Unsinn in London, dass man mich bezichtigt, eine Lebedame zu sein, während ich in Wahrheit an derlei Vergnügungen völlig uninteressiert bin“, sagte Isabella nach einer Weile.
Auf Pens Stirn bildete sich eine tiefe Falte. „Wie können diese Dinge denn überhaupt uninteressant sein?“
„Glaube mir“, antwortete Isabella, während sie einem Stück Toast herzhaft zusprach, „sie sind es.“
Pen sah sie zweifelnd an. „Dann scheint mir, dass Ernest der schlechteste Liebhaber auf der ganzen Welt sein muss, sonst würdest du das nicht glauben.“
„Das ist sehr wahr“, pflichtete Isabella ihr bei. Sie schwieg einen Augenblick, stützte die Ellbogen auf den Tisch und dachte statt an Ernest wieder an Marcus. Ihre ersten Erfahrungen mit der Liebe – mit Marcus – waren unbestreitbar wunderbar gewesen. Ihr Verlangen nach ihm hatte tief in ihr gebrannt. Aber jetzt schien all das nur ein blasser Traum zu sein, etwas, das vor langer Zeit in einem anderen Leben geschehen war. Und obwohl er immer noch etwas tief in ihrem Inneren erwecken konnte, hatte sie sich gelobt, dass er die Gelegenheit dazu nicht mehr bekommen sollte.
Sie rief sich seine feindseligen Worte der vergangenen Nacht in Erinnerung. Wenn es einen Beweis dafür gab, dass ihre Ehe schnell beendet werden musste, dann war es Marcus’ Bitterkeit. Deswegen musste sie unverzüglich Mr. Churchward aufsuchen, um eine Nichtigkeitserklärung zu erreichen und die Bedingungen zu erfahren, unter denen sie ihre Schulden an ihren Mann zurückzahlen konnte. Sie konnte es nicht ertragen, ihm länger als unbedingt notwendig verpflichtet zu sein.
Pen machte einen Schmollmund. „Ich bin enttäuscht, dass du mich in Liebesdingen nicht beraten kannst. Ich hatte gehofft, es sei ein Vorteil, eine Schwester mit einem so aufregenden Ruf zu haben.“
„Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich deinen Erwartungen nicht entspreche“, antwortete Isabella und zwinkerte ihrer Schwester zu.
Doch dann fiel ihr ein, dass Marcus jeden Augenblick durch die Tür hereinkommen könnte, was Pens Neugier nur noch weiter anstacheln würde. Aber vielleicht konnte er wegen der Menschenansammlung gar keinen Zugang finden. Beinah musste sie lächeln, als sie sich vorstellte, wie er Belton überredete, ihn hereinzulassen.
Pen seufzte. Sie hatte sich damit abgefunden, dass sie jetzt keine weiteren Einzelheiten erfahren würde, und wechselte das Thema.
„Gehen wir heute aus?“, fragte sie.
„Ich hatte gehofft, etwas frische Luft schnappen zu können, aber ich fürchte, das wird wegen der Meute da draußen unmöglich sein.“
„Ich habe immer angenommen, dass du dich daran gewöhnt hast, dich durch sie hindurchzukämpfen.“
„Das habe ich auch. Als Ernest in den Armen seiner Mätresse, Madame de Coulanges, starb, konnte ich das Haus in Stockholm tagelang nicht verlassen. So groß war der Ansturm der Leute draußen. Alle wollten wissen, ob ich zu der Art und Weise seines Hinscheidens etwas zu sagen hatte.“
„Und, hattest du?“
„Ja, durchaus, aber ich hatte nicht die Absicht, es denen auf die Nase zu binden.“ Isabella rieb sich wehmütig die Stirn. „Ich wünschte so sehr, dass ich gestern Abend auch so vernünftig gewesen wäre!“
„Und warum warst du es nicht?“
„Weil diese alte Hexe von Duchess of Plockton mich provoziert hatte. Sie hat mich sehr verletzt. Und daher, fürchte ich, war ich nicht bereit, auf ihre Bemerkungen auch nur mit einem Mindestmaß an Höflichkeit zu antworten.“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich bringe es meistens fertig, über den Dingen zu stehen. Wirklich, ich habe gute Übung darin. Aber wenn jemand Emma ins Spiel bringt und andeutet, dass Ernest versucht hat, mir das Kind wegzunehmen, weil ich eine schlechte Mutter gewesen sei …“ Isabella hielt inne und schluckte. Man hatte ihr von Anfang an gesagt, dass die kleine Fürstin Emma Di Cassilis ihren eigenen Haushalt haben müsse, weil nur das ein angemessener Lebensstil für sie sei. Auch als sie quer durch Europa reisten, durfte das Kind nicht mitgehen. Isabella war zu der Zeit jung und unerfahren, aber sie war auch mutig. Sie hatte darauf bestanden, ihre Tochter bei sich zu behalten. Ernest hatte Isabella nur geringschätzig angesehen und sie als hoffnungslos bürgerlich verurteilt. Das machte ihr jedoch nichts aus, denn Emma bedeutete ihr alles. Und als sie an Scharlach erkrankte und starb, da starb auch ein Teil von Isabella.
Über Pens Gesicht breitete sich Mitgefühl aus. „Ja, das verstehe ich. Das heißt, ich kann natürlich nicht genau nachempfinden, was du fühlst, Bella, aber ich verstehe, dass es unerträglich für dich sein muss, wenn die Leute solche törichten und bösartigen Dinge von sich geben.“
Isabella erwiderte den Druck von Pens Hand. „Danke, Pen.“
Auf Zehenspitzen ging sie zum Fenster und zog den Vorhang etwas beiseite, um hinaussehen zu können. Dicht an dicht standen Leute auf der Straße gedrängt, schubsten sich und gestikulierten. Die einzige Person, die fehlte, war der Mann, der gesagt hatte, er werde kommen: Marcus Stockhaven. Isabella hätte es wissen müssen. Zweifellos wollte er, dass sie sich über sein Nichterscheinen ärgern sollte. Und genau das tat sie auch und verwünschte ihn dafür.
Isabella ließ den Vorhang wieder fallen. „Wenn wir wirklich das Haus verlassen wollen, dann müssen wir ein rückwärtiges Fenster nehmen“, sagte sie.
„Aber wenn wir einmal in der Bond Street sind, werden wir doch wieder von Gentlemen belästigt“, bemerkte Pen. „Verflixt! Ich habe drei Monate für eine neue Haube gespart und mich auf einen Einkaufsbummel gefreut. Aber dazu brauche ich kein Publikum.“
„Wir werden einkaufen gehen“, antwortete Isabella. „Oder wir werden die Einkäufe vielmehr zu uns kommen lassen. Belton.“ Sie wandte sich an den diensteifrig bereitstehenden Butler. „Bitte senden Sie einen Diener zu Beaux Chapeaux in der Bond Street. Sie sollen uns eine Auswahl der schönsten Hauben zur Ansicht schicken.“
Pen war ganz hingerissen. „Tun die das wirklich, Bella?“
„Oh ja“, antwortete sie. „Ich mag ja vielleicht kein Geld und keinen Kredit dafür haben. Aber jeder Geschäftsmann, der etwas auf sich hält, weiß, dass eine Fürstin immer einen Weg finden wird, wenn es sich um den Kauf von Kleidung handelt.“
Isabella warf wieder einen Blick auf die wogende Menge in der Straße. Sie hatte nicht die Absicht, sich in der nächsten Zeit im Haus zu verkriechen. Am Abend wollte sie in die Oper gehen und hatte sich gerade eine Möglichkeit ausgedacht, wie sie die Ansammlung von Bewunderern dazu nutzen könnte, eine falsche Spur zu legen und Marcus in die Irre zu führen. Und um ihm noch einen Schritt voraus zu sein, wollte sie Churchward in einem Brief anweisen, unverzüglich die Nichtigkeitserklärung in die Wege zu leiten. Sie war in Hochstimmung. Isabella fühlte sich stets wohler, wenn sie selbst den Gang der Dinge bestimmte.
Gerade wollte sie in die Bibliothek eilen und besagten Brief schreiben, da trat Belton mit einem Blumengebinde ein. Penelope lächelte.
„Oh! Das ist ja wirklich nett!“
Der Blumenstrauß war in der Tat wunderschön. Zwölf eng gebundene blassrosa Rosen in einem kleinen Korb. Nervös griff Isabella nach der beiliegenden Karte.
Die Karte trug eine ausgeprägt starke Handschrift. Die Unterschrift, so kraftvoll und kühn wie der Mann selbst, hätte Isabella gar nicht gebraucht, um zu wissen, um wen es sich handelte.
Wir treffen uns in einer Stunde in Churchwards Kanzlei. Marcus Stockhaven.
Isabella spürte plötzlich eine Kälte. Das war nichts anderes als ein strenger Befehl.
„Von wem sind die Blumen, Bella?“ Pens Frage brach in Isabellas Gedanken ein, und sie zerknüllte die Karte fast unbewusst zwischen ihren Fingern.
„Sie ist von Lord Stockhaven“, antwortete sie.
„Hat er auch ein Gedicht geschrieben?“, fragte Pen.
„Nicht gerade ein Gedicht“, antwortete Isabella mit ernstem Gesicht. „Lord Stockhaven handelt nicht feinfühlig, wenn er mit Unverblümtheit sein Ziel erreichen kann. Entschuldige, Pen“, fuhr sie fort, „aber ich habe eine dringende Verabredung. Ich fürchte, du wirst deine Haube allein kaufen müssen.“ Abrupt wandte sie sich an Belton und hielt ihm den hübschen kleinen Korb hin.
„Bitte lassen Sie dies auf den Tisch vor meinem Schlafgemach stellen, Belton“, sagte sie fast tonlos. „Weiter als bis dahin wird Lord Stockhaven nicht kommen.“
Dann riss sie die Karte in Stücke.