21. KAPITEL

„Natürlich habe ich die Southerns immer als eine ziemlich glücklose Familie angesehen“, sagte Mrs. Goring selbstgefällig und griff nach der Teekanne. Sie und Isabella saßen in der mit großen Fenstern versehenen Kaffeestube der Leihbücherei. Von dort aus hatten sie einen wunderbaren Blick über die Strandpromenade auf das Meer. Sie waren schon zwei Stunden dort, und bisher hatte Mrs. Goring Isabella von den wichtigsten Ereignissen in Salterton erzählt, die sich während ihrer zwölfjährigen Abwesenheit zugetragen hatten. Jetzt war sie dabei, sich über die Einwohner der Stadt im Allgemeinen auszulassen. Isabella war froh, zu sitzen, zuzuhören, auf das Meer zu blicken und die Besucher, die ihrem Tagesgeschäft nachgingen, zu beobachten. So konnte man eine Menge lernen, wie Pen erst kürzlich erwähnt hatte. Isabella hatte etwa Mr. Owen beobachtet, wie er auf dem Wege zu einer Schankwirtschaft den Kai entlang hinkte: Offenbar hatte er vor, kräftigende Wässer einer ganz anderen Art zu sich zu nehmen. Und sie hatte außerdem Pen und Alistair gesehen, wie sie Arm in Arm auf die Mole zugingen. Anscheinend hatten sie ihre Streitigkeiten beigelegt.

„Der arme Lord John war der jüngere Sohn, wissen Sie“, fuhr Mrs. Goring fort, „und sie hatten überhaupt kein Geld, und die kleine Miss India starb so jung. Und dann war da natürlich noch die Sache mit dem Kind …“ Sie ließ den Satz diskret unvollendet. „Natürlich hat niemand Lord John deshalb weniger geachtet. So etwas passiert eben, selbst beim Adel. Insbesondere beim Adel, wenn man den Berichten der Zeitungen glauben kann. Aber trotzdem war es doch ein Schock für alle, die ihn kannten.“

Isabella wandte ihren Blick von der Uferpromenade ab und sah ihre Gastgeberin bestürzt an. „Entschuldigen Sie, Madam, aber was für ein Kind?“

Mrs. Goring war plötzlich ganz aufgeregt. „Oje! Sie sehen ja ganz erschrocken aus, meine Liebe. Ich dachte, Sie wüssten es.“ Dabei hantierte sie hektisch mit der Teekanne und rührte ganz unnötigerweise darin herum. „Natürlich waren Sie damals sehr jung – erst siebzehn, wenn ich die Daten richtig in Erinnerung habe, aber trotzdem, junge Mädchen sind längst nicht so naiv, wie die Leute meinen. Außerdem hat man ja auch darüber geredet, wie das eben so ist.“

Isabella hob eine Hand. „Einen Augenblick, Mrs. Goring! Wollen Sie damit sagen, dass mein Onkel ein uneheliches Kind hatte?“

Mrs. Goring ließ ein züchtiges Erschauern ob solcher Direktheit erkennen. „Ja, nun, meine Liebe – ich fürchte, das will ich damit sagen. Jeder wusste es. Offenbar jeder außer Ihnen. Es war das Resultat einer Affäre mit einem der Dienstmädchen, sagt man. Ich weiß nicht genau, um welches Mädchen es sich dabei handelte.“ Sie runzelte die Stirn vor Enttäuschung darüber, dass sie diese Einzelheit der Geschichte nicht liefern konnte.

„Das Kind, es war ein Junge …“ Mrs. Goring hielt inne. „Oder war es ein Mädchen? Nein, ich bin sicher, es war ein Junge … Er wurde in die Obhut des Gärtners und seiner Frau gegeben. Sie zogen kurz darauf nach London, und die Angelegenheit wurde nicht mehr erwähnt. Aber natürlich wusste es jeder … Und Lord John war so schwächlich zu der Zeit.“ Mrs. Goring schüttelte den Kopf. „Man hätte nicht gedacht, dass er so viel Kraft hatte! Aber bei Männern weiß man bei so etwas ja nie. Ich nehme an, dass ihn das das letzte bisschen Kraft gekostet hat.“

Isabella schwieg, nicht vor Empörung, wie ihre Gastgeberin vielleicht vermutete, sondern weil sie einfach verblüfft war. Lord John Southern hatte seine Frau hingebungsvoll geliebt. In all den Jahren ihrer Ehe hatte es nie den geringsten Hinweis auf Untreue gegeben, zumindest soweit Isabella wusste. Außerdem war Lord John, wie Mrs. Goring bereits gesagt hatte, in den letzten Lebensjahren sehr gebrechlich und häufig krank gewesen. Das alles passte nur schlecht zu der Vorstellung eines zügellosen alten Mannes, der den Dienstmädchen nachstellte.

„Ich wusste nichts davon“, sagte Isabella dann nachdenklich.

„Nein, nun …“ Man sah Mrs. Goring die Verlegenheit an. „Es war auch kein passendes Diskussionsthema für Lord Johns Nichte oder, was das anbelangt, für seine Tochter. Ich bin sicher, Miss India wäre schockiert gewesen, wenn sie es gewusst hätte.“

„Was wurde aus dem Kind?“, fragte Isabella.

Mrs. Goring sah sie überrascht an. „Nun, wissen Sie, ich habe keine Ahnung! Man hat von dem Jungen nie wieder etwas gehört, nachdem die Leute nach London gezogen waren. Ich kann mir vorstellen, dass Lord John für den Jungen gesorgt hat, denn er war äußerst verantwortungsvoll.“

„Ja“, erwiderte Isabella, „das war er.“ Sie fand es jetzt seltsam, dass Mr. Churchward ihr nichts von irgendeiner Verpflichtung, die auf dem Besitz lastete, gesagt hatte. Es gab keine wiederkehrenden Zahlungen irgendwelcher Art, die über die Zuwendungen an Diener im Ruhestand hinausgingen. Auch hatte Mr. Churchward ihr keinen Hinweis auf einen dunklen Punkt in der Familiengeschichte gegeben, was er im Erbfall sicher getan hätte. Isabella war keine Mimose, die sich von solchen nicht unüblichen Vorkommnissen erschrecken ließ.Aber als sie jetzt darüber nachdachte, erschien ihr das alles recht seltsam. Sie fragte sich, ob Marcus davon wusste, und wenn ja, warum er es nie erwähnt hatte. Fast schien es, als ob dieser uneheliche Sohn nie existiert hätte, so gründlich war er verschwunden.

„Noch etwas Tee, meine Liebe?“, fragte Mrs. Goring und hielt ihr die Schale mit dem Gebäck hin. „Sehen Sie, wie ungesittet Miss Belling dem Herrn dort zuwinkt? Sie würde alles tun, um einen Mann zu ergattern …“

Isabella lächelte unwillkürlich, und Mrs. Goring schwatzte weiter, aber Isabella hörte kaum richtig zu. Sie dachte an Lord John Southern und seinen unehelichen Sohn. Und obwohl offenbar alles dafürsprach, konnte Isabella nicht die Überzeugung abschütteln, dass ihr Onkel gar nicht der Vater des Kindes war.

Penelope Standish war äußerst unzufrieden.

Seit ihrer gemeinsamen Ankunft in Salterton hatte Mr. Alistair Cantrell sich bestenfalls geistesabwesend und schlimmstenfalls völlig desinteressiert an ihr gezeigt. Er hatte zwar bei einer Abendgesellschaft letzte Woche mit ihr getanzt, aber nicht öfter als mit jeder anderen jungen Dame. Gelegentlich hatte er sie zu der Leihbücherei begleitet und auch auf ihren Spaziergängen entlang der Strandpromenade. Allerdings wirkte er deutlich aufgeräumter und lebhafter, wenn er mit Freddie die Pläne für den Tag besprechen oder ihn zur Hafentaverne begleiten konnte. Pen hatte tatsächlich angefangen, sich zu fragen, ob es nicht überhaupt Freddie war, dem Alistairs Interesse galt, und ob er ihr nicht deswegen in London den Hof gemacht hatte, um sich dem eigentlichen Objekt seiner Begierde nähern zu können.

Daher war Pen an dem Morgen, als sie auf der Uferpromenade anhielten, um den Meerblick zu genießen, gar nicht überrascht, dass Alistairs Opernglas nicht auf den Horizont, sondern auf die Ecke der Quay Street gerichtet war. Dort konnte man nämlich gerade Freddie sehen, wie er eilends dem „Ship Inn“ zustrebte. Pen seufzte sowohl über den bedrückenden Anblick ihres Bruders, der seiner ersten Flasche an diesem Tag entgegeneilte, als auch über ihre vereitelten Hoffnungen. Sie musste sich selbst gegenüber zugeben, dass sie große Hoffnungen auf Mr. Cantrell gesetzt hatte. Und als sie darüber nachdachte, wie sehr sie sich zum Narren gemacht hatte, platzte es aus ihr heraus: „Es scheint mir, Mr. Cantrell, dass es eher mein Bruder ist, der Ihre Aufmerksamkeit fesselt, als die Schönheiten der Natur!“

Pen sah, wie er erschrak. Dann straffte er sich und ließ das Opernglas sinken. Er wurde rot und sah leicht verlegen, wenn nicht sogar schuldbewusst aus. Ihre Verärgerung wuchs.

„Was mich betrifft“, sagte Pen kalt, „so will ich keine Meinung in Bezug auf einen Mann äußern, der seinem eigenen Geschlecht den Vorzug vor weiblichen Reizen gibt. Ich habe aber sehr wohl etwas gegen einen Mann, der andere in seinem Streben nach dem eigenen Glück täuscht.“

Alistair wirkte plötzlich außerordentlich erschrocken. Das geschieht ihm ganz recht, dachte Pen. Sie standen mitten auf der Uferpromenade und zogen beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich.

„Miss Standish, ich versichere Ihnen …“

„Von Anfang an haben Sie mich glauben lassen, dass ich der Gegenstand Ihrer Zuneigung sei“, unterbrach Pen ihn. „Ich verwahre mich dagegen, Mr. Cantrell, dass ich nur als Mittel zum Zweck diene, damit Sie an meinen Bruder herankommen, der …“

„Miss Standish …“, sagte Alistair mit wachsender Dringlichkeit.

Der“, fuhr sie unbeirrt fort, „nicht das geringste Interesse an Männern hat, sondern sich stattdessen am liebsten weiblicher Gesellschaft widmet. Es tut mir leid, Ihnen diese Mitteilung machen zu müssen, aber um Ihnen zukünftig Schmerz zu ersparen, muss ich Sie auffordern, von weiteren Avancen Freddie gegenüber Abstand zu nehmen.“

Er fasste sie abrupt bei den Armen, zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. Ihr Sonnenschirm fiel unbeachtet zu Boden.

„Ich habe nicht das geringste romantische Interesse an deinem Bruder, du kleines Gänschen“, sagte er und küsste sie erneut, ehe Pen etwas erwidern konnte. Und sie schmolz dahin bei einer Umarmung, die kaum weniger leidenschaftlich war als die vorherige.

„Vom ersten Augenblick an, als ich dich gesehen hatte“, fügte er atemlos hinzu, als er sie kurz wieder losließ, „hielt ich dich für das schönste und höllisch scharfzüngigste Geschöpf, das kennenzulernen ich je das Vergnügen hatte.“

Pen war von dieser Beschreibung so bezaubert, dass diesmal sie es war, die den Kuss suchte.

„Aber ich hätte nie gedacht, dass du auf den verrückten Einfall kommen könntest, dass ich hinter deinem Bruder her sei“, fügte Alistair lachend hinzu. Dabei schüttelte er sie sanft. „Immer nur dich wollte ich von Anfang an“, fuhr er fort, und lächelte in ihre erstaunten blauen Augen hinein. „An jenem Abend in der Royal Institution wollte ich dich küssen, und in der Herberge in Alresford wollte ich dich verführen. Und jetzt würde ich am liebsten …“

Pen zog ihn erneut an sich, ehe er seine Fantasien weiter ausführen konnte, und ohne Rücksicht auf die entrüsteten Blicke der Vorübergehenden küssten sie sich weiter auf der Promenade des bisher außerordentlich ehrbaren Kurortes.

Isabella war fest entschlossen, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen. Sie hatte den halben Nachmittag an ihrem Schreibtisch im Büro des Anwesens gesessen, denn Marcus hatte ihr am Morgen die Schenkungsurkunde für Salterton Hall überreicht und sie dann dankenswerterweise sich selbst überlassen, damit sie ihre neue Besitzung inspizieren konnte. Er hatte hinzugefügt, dass er zur Verfügung stünde, wenn sie seine Hilfe benötigte. Aber ganz gleich wie angestrengt Isabella sich auf Milchertrag und Anbauflächen zu konzentrieren suchte, so kehrten ihre Gedanken in ermüdender Weise immer wieder zu India Southern zurück, ihre Cousine und unbesiegbare Gegnerin. Isabella wusste, dass sie schließlich würde handeln müssen.

India war der letzte Geist der Vergangenheit, der letzte Stachel in ihrem Fleisch. Wenn Marcus ihr wirklich jemals gehören sollte, dann würde sie den Schatten ihrer Cousine bannen und verstehen müssen, was India für ihn tatsächlich bedeutete.

Es war ein langer Weg die vier Treppen hinauf zum Dachboden von Salterton Hall. Schuldgefühle und Unsicherheit nagten an ihr. In Wirklichkeit war sie gar nicht einmal ganz sicher, was sie da überhaupt tat, außer dass sie einen gewissen Verdacht in Bezug auf India hegte.

Sie öffnete leise die Tür und betrat das Innere des ersten Bodenraumes. Die Fensterläden waren verschlossen. Der dunkle Raum war heiß und roch nach Staub und Vernachlässigung. Ein Schauder lief über ihren Rücken, als sie die beiden Truhen fand, die Mrs. Lawton erwähnt hatte. Sie standen aufeinander in einer Ecke, die am weitesten vom Fenster entfernt war. Isabella ging hinüber und öffnete die erste.

Es war, als ob man ein Fenster in die Vergangenheit aufstieß.

Die Truhe war angefüllt mit Kleidungsstücken. Da waren Ausgehkleider, Kleider für den täglichen Gebrauch, Abendkleider, Umhänge und Handschuhe. Ein Stapel von nach Lavendel duftendem Stoff in Pastellfarben, dazu kleine Accessoires. Isabella erinnerte sich daran, dass India stets blasse Farben und einen zurückhaltenden Stil bevorzugt hatte. Es war schon seltsam, ihre gesamte Garderobe hier aufbewahrt zu sehen. Die Kleider schienen blass und leblos – sozusagen wie der Geist von India selbst. Am Boden der Truhe stapelten sich Bücher mit erbaulichen Fabeln, Predigten und Gedichten.

Die zweite Truhe förderte all die anderen Dinge zutage, die die Geschichte von Indias Leben erzählten. Da gab es Berge von Seidenstrümpfen, Unterröcke mit Spitzenstickerei, Mieder und Korsetts. Weiter unten fielen Isabella eine Anzahl Notenblätter auf, die an den Ecken etwas vergilbt waren. Ein weicher Beutel enthielt filigrane Silber- und Goldketten. Einen Malkasten mit Stiften und ausgetrockneten Farben fand sich neben einem leeren Spannrahmen für Stickereiarbeiten. Isabella beschlich ein beklemmendes Gefühl, unwillkürlich kamen ihr die Tränen. Wie traurig es doch war, die Hinterlassenschaft von Indias Leben so vor sich ausgebreitet zu sehen, alles etwas abgenutzt und von dem Geruch nach Mottenkugeln durchdrungen …

Isabella richtete sich enttäuscht auf. Trotz der vielen Dinge, die von Indias Leben Zeugnis ablegten, war kein einziges wirklich etwas Persönliches – oder gab auch nur einen Hinweis auf das, was geschehen war.

Plötzlich ertönte ein Klicken, als etwas aus den Falten eines seidenen Taschentuches herausrollte und mit einem leichten Klirren auf den Holzfußboden fiel. Isabella hob den Gegenstand auf. Es war ein silbernes Medaillon. Sie hielt inne. Es zu öffnen erschien ihr wie ein unzulässiges Eindringen, aber sie wollte die Miniatur darin sehen. Vielleicht war es ein Aquarell von Lady Jane oder von Lord John … vielleicht aber auch ein Bild von Marcus … Die Möglichkeiten ließen ihr das Herz bis zum Hals schlagen, aber jetzt war sie sicher, dass sie nachsehen musste, selbst wenn es ihre schlimmsten Befürchtungen über Marcus und India bestätigen, ja wenn es ihr das Herz brechen sollte.

Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Verschluss löste. Das Scharnier war etwas fest und bewegte sich nur widerstrebend, aber das Medaillon gab dennoch sein Geheimnis preis.

Das Bildnis zeigte tatsächlich einen jungen Mann, in der auffallend roten Uniform der Armee Seiner Majestät. Er zeigte ein verwegenes Lächeln, selbstsicher, mit einem fröhlichen Augenzwinkern … Man konnte sich vorstellen, wie er daherstolzieren konnte mit dem Wagemut eines Mannes, der wusste, dass er alles nehmen konnte, was er begehrte, und der der Welt unbekümmert entgegentrat …

Mit einem leichten Erschrecken, so als ob ihr ein Spinngewebe über das Gesicht strich, erinnerte Isabella sich an etwas anderes: der gut aussehende junge Leutnant, der sich ihr und India dreizehn Jahre zuvor in dem Ballsaal vorstellte.

Er hatte mit Isabella als der älteren Cousine gesprochen, aber sein Blick war die ganze Zeit über auf India gerichtet. Sein offenkundiges Interesse hatte Isabella irgendwie fasziniert, denn es war nicht oft geschehen, dass ihre stille Cousine sie in den Schatten stellte. Sie war sogar etwas beleidigt gewesen, was nur natürlich war. Aber dann hatte der junge Mann sich tief vor India verbeugt und sie um den nächsten Tanz gebeten, und Isabella hatte verständnisvoll gelächelt, als sie sah, wie die beiden sich entfernten und nur Augen füreinander hatten.

Den jungen Offizier hatte Isabella nur dieses eine Mal gesehen. Bis jetzt hatte sie sogar völlig vergessen, dass er derselbe Mann war, der ein Jahr später in den Ballsaal gekommen und so unsanft hinausgeworfen worden war. Er war der Mann, der sich mit India heimlich getroffen hatte, der Verehrer, den ihre Eltern offenbar fortgeschickt hatten.

Isabella ließ sich schwer auf die Kante einer der Truhen nieder. Das Geschrei der Seevögel drang gedämpft an ihr Ohr, zusammen mit dem Pfeifen des Windes und dem Rauschen der Wellen in der Ferne. Eine Haarlocke löste sich aus dem Medaillon und fiel nach unten auf den Fußboden. Isabella beugte sich nieder, um sie wieder aufzunehmen. Das Haar war fein und weich wie Kinderhaar. Es war flachsblond, heller als Indias Haar, auch heller als Isabellas Haar zu ihrer Kinderzeit gewesen war. Ein kleines blaues Band hielt die Locke zusammen.

Isabella legte die Haarlocke sorgfältig wieder in das Medaillon und ließ den Verschluss zuschnappen. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Indias geheimnisvolle Reise nach Schottland mit Lady Jane … Eine Haarlocke und ein Miniaturporträt … Das Gerücht von Lord Johns unehelichem Kind, das sie von Anfang an für unbegründet gehalten hatte … Ein gut aussehender junger Leutnant, der im Ballsaal eine Szene machte und von dem wutentbrannten Lord John hinausgeworfen worden war …

Trotz der Wärme in dem Raum fröstelte Isabella. Das Medaillon ruhte fest in ihrer Hand, und sie kannte jetzt Indias Geheimnis. Sie schloss die Truhen wieder und ging erschöpft nach unten. Es war ihr klar, dass sie jetzt mit Marcus sprechen musste, selbst wenn sie Angst davor hatte.

Sie stieß die Tür zum Arbeitszimmer auf. Marcus saß am Schreibtisch in der Nähe des Fensters. Das helle Sonnenlicht des späten Nachmittags fiel durch die Scheiben und ließ das polierte Holz des Schreibtisches dunkel erglänzen. Marcus hatte seine Brille auf und las ein Buch. Er saß ganz still da und war von der Lektüre so gefesselt, dass er Isabellas Hereinkommen offenbar nicht gehört hatte.

Einen Augenblick lang beobachte Isabella ihn. Die Stirnfalten zeigten seine Konzentration, und die Sonne beleuchtete die hier und da hervortretenden grauen Stellen in seinem Haar. Wir sind beide nicht mehr jung, dachte Isabella. Sie spürte plötzlich ein so starkes Aufwallen ihrer Liebe zu ihm, dass sie irgendeine unwillkürliche Bewegung gemacht haben musste, denn Marcus sah nun doch auf. Dann lächelte er und schlug das Buch zu. Isabellas Herz begann, schnell zu pochen.

„Hallo, meine Liebste“, sagte er. „Was darf ich für dich tun?“

„Marcus“, antwortete sie und hielt inne. Plötzlich erschien ihr der Gedanke, mit ihm über India zu sprechen, so entlegen und geradezu unmöglich, dass sie fast auf dem Absatz kehrtgemacht hätte. Wie konnte sie das nur tun? Er wäre sicher böse auf sie, weil sie die Sachen seiner verstorbenen Frau durchsucht hatte. Irgendwelchen Erklärungen oder auch Anschuldigungen, die sie vorbringen würde, riefen sicher nur seine Verachtung hervor. Und noch dazu würde ihn alles sehr verletzen und seine Erinnerungen zerstören. Dafür liebte sie ihn zu sehr. Trotzdem war sie sicher, dass sie den Schlüssel zu dem Geheimnis um Edward Warwick in Händen hielt und sie mit Marcus darüber sprechen musste.

„Ich wollte mit dir reden“, sagte sie. „Es geht um India. Marcus, es ist wichtig.“

Sein Lächeln schwand. Auch in seinen Augen konnte sie diese gewisse Zurückhaltung sehen, die ihr schon so schmerzlich vertraut war. Es war derselbe Gesichtsausdruck, den er bei jeder Erwähnung Indias bekam und der sie selbst auf Distanz hielt. Aber diesmal war sie entschlossen, beharrlich zu bleiben.

„Bitte, Marcus“, sagte sie eindringlich. „Ich verstehe, dass das sehr schwer für dich sein muss.“

Etwas Undeutbares blitzte in seinen Augen auf. „Ja“, sagte er dann nach kurzem Zögern, „das ist wahr, aber ich habe schon seit einiger Zeit vor, mit dir darüber zu sprechen.“

Isabella war überrascht. „Ja?“

Marcus machte eine Handbewegung, damit sie sich setzen sollte, und sie ließ sich auf die Polster nieder. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.

„Es gibt etwas, was ich dir sagen muss, Bella.“

Eine lange Pause trat ein und dehnte sich wie ein Spinnennetz zwischen ihnen aus. Isabella wartete, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Ich habe India nie geliebt“, sagte er schließlich unverblümt. „Gott weiß, wie sehr ich es versucht habe, aber ich konnte es nicht. Ich gab allen und sogar mir selbst gegenüber vor, dass ich sie liebte, aber ich wusste immer, wie wenig das stimmte. Selbst bei der Hochzeitszeremonie, als wir einander unser Eheversprechen gaben, wusste ich, dass es ein Fehler war. Ich heiratete die falsche Cousine, und ich wusste es von Anfang an.“ Er sah in Isabellas weiß gewordenes Gesicht, und ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen. „Du scheinst sehr erschrocken zu sein, Bella. Hast du so etwas nie vermutet?“

Isabella fasste sich. „Ich … bin über alle Maßen erstaunt. Niemals hätte ich vermutet, dass es so sein könnte. Im Gegenteil, ich dachte immer, dass du ihr im Leben hingebungsvoll verbunden warst und nach ihrem Tod ihr Gedächtnis wert hieltest.“

Sein Lächeln wurde stärker. Er lehnte sich gegen die Schreibtischkante und verschränkte die Arme.

„Wieso um alles in der Welt hast du das gedacht?“

„Wieso?“ Isabella hielt einen Augenblick inne. Sie hatte ihn also vollkommen falsch eingeschätzt und sich dadurch beträchtlichen Schmerz zugefügt. Schließlich aber war sie nur durch sein Verhalten zu ihrem Urteil gekommen. Es war ihr so eindeutig erschienen.

„Ja, wo soll ich anfangen?“, sagte sie dann. „Als wir in London über sie sprachen, hast du sie mit Feuereifer verteidigt. Du hast mich beschuldigt, ihr Verhältnis zu ihrer Mutter zerstört zu haben. Du hast ihr mehr geglaubt als mir. Jedes Mal hast du erkennen lassen, wie sehr du sie noch immer liebtest.“ Aufgewühlt starrte sie auf das Muster des Orientteppichs, ohne es richtig wahrzunehmen.

„Als du mir von dem Feuer erzähltest und ich erfuhr, dass du Indias Gemach nach ihrem Tod unangetastet ließest, was sollte ich da denken?“ Die Worte brachen nur so aus ihr heraus. Sie fuhr fort: „Der Raum war wie ein Gedenkschrein für deine verstorbene Frau! Und ich wusste, dass ich …“ Isabella hielt inne und schluckte sehr.

„Dass du … was?“

„Dass ich nie mit ihr konkurrieren könnte, dass du mich nie so lieben würdest wie sie, dass dein Herz für eine neue Liebe nicht frei war.“ Isabella hielt atemlos inne und starrte ihn an. „Warum hast du mir nicht die Wahrheit über deine Gefühle für sie gesagt?“, fuhr sie fort. „Warum hast du alles behalten, was dich an India erinnern konnte? Und warum hast du ihr Gemach unangetastet gelassen, wenn nicht deshalb, weil es zu schmerzlich für dich war, sie noch einmal aufzugeben?“

Sein Blick bekam einen ernsten Ausdruck. „Es war wirklich zu schmerzlich“, antwortete er. „Aber nicht etwa, weil ich sie liebte, sondern weil ich mich schuldig fühlte.“

Sie musterte ihn ungläubig. „Schuldig? Weswegen schuldig?“

Er kam mit steifen Schritten zu ihr herüber und setzte sich in den Stuhl, der neben ihr stand. Sie waren nahe genug, um sich berühren zu können, aber sie taten es nicht. Die Anspannung war fast mit Händen zu greifen.

„Ich fühlte mich schuldig, weil ich sie nie lieben konnte“, antwortete er schlicht. „Ich wusste, dass ich sie nicht glücklich machte. Sie hatte etwas Besseres verdient.“ Er blickte schnell auf, und Isabella erschrak über das, was sie in seinen Augen sah. „Ich hatte die falsche Cousine geheiratet“, wiederholte er, „und ich versuchte, sie zu dem zu machen, was ich wollte. Ich habe versucht, sie zu deinem Abbild zu machen. Während unserer ganzen Ehe lebte sie in deinem Schatten. Sie wusste es, und ich wusste es, aber wir haben nie darüber gesprochen.“

Isabella schüttelte den Kopf vor Bestürzung. „Ich dachte immer, dass ich diejenige sei, die mit der Unvergleichlichen würde leben müssen.“

Marcus verzog etwas das Gesicht. „Ich kann verstehen, dass du das denken konntest. Der Raum, die Bilder, alle ihre Sammlungen …“

„Und mehr als alles andere dein beharrliches Hochhalten ihres Gedächtnisses!“ Isabella unterstrich ihre Aussage mit einer entsprechenden Geste. „War das auch Schuldbewusstsein, Marcus? Weil du ihr nicht hast geben können, was sie im Leben wollte, warst du entschlossen, einen Ausgleich zu schaffen?“

Marcus stützte kurz den Kopf in die Hände und sah dann wieder auf. „Es war das Mindeste, was ich tun konnte“, sagte er niedergeschlagen. „Ich fühle mich für ihren Tod verantwortlich. Wenn ich nur bei ihr in London gewesen wäre … Aber ich verbrachte so wenig Zeit wie möglich mit ihr.“

Isabella fasste seine Hand. „Es tut mir alles sehr leid“, sagte sie mitfühlend.

Er blickte sie an. „Das braucht dir nicht leidzutun.“

„Vielleicht nicht.“ Sie zögerte ein wenig. Dann fuhr sie fort: „Aber ich weiß, wie es ist, wenn man versucht, etwas Lohnendes aufzubauen und dann zu versagen. Obwohl“, sie lächelte leicht, „ich gestehen muss, dass ich das bei Ernest bald aufgegeben habe. Er war ein hoffnungsloser Fall.“

Marcus lächelte auch und drückte einen Kuss auf ihren Handrücken. „War es so schlimm, Isabella?“

„Oh, es war entsetzlich!“, antwortete sie, und ihr Lächeln schwand. „Wahrscheinlich war es aber für mich nicht so traurig, wie es für dich war, denke ich. Du musst gehofft haben, mit India glücklich zu werden, wohingegen ich von Anfang an wusste, dass ich eine Vernunftehe eingegangen war.“

Marcus rückte ein wenig hin und her, ließ ihre Hand aber nicht los. „Mir war bald klar, dass es etwas in India gab, zu dem ich nie vordringen konnte“, sagte er. „Du hast selbst gesagt, wie distanziert sie war, und das stimmte. Ich wusste, dass etwas ihr Sorgen bereitete. Sie war unglücklich, und ich hatte die starke Befürchtung, dass ich die Ursache dafür war.“

Isabella zitterte. Dies war nun ihre Gelegenheit, Marcus von Edward Warwick zu erzählen, und doch zögerte sie noch. Er hatte sich ihr anvertraut, und zwischen ihnen bestand ein immer noch zerbrechliches Vertrauen. Würde sie alles zerstören, ehe es richtig begonnen hatte, wenn sie ihm sagte, dass sie ziemlich sicher den wirklichen Grund für Indias unglückliches Leben kannte?

Er hatte bemerkt, dass sie zitterte, und sah sie fragend an. Der Blick seiner dunklen Augen war plötzlich so sanft, dass Isabella einen scharfen Schmerz des Bedauerns darüber spürte, was sie nun tun musste. Aber es hatte schon zu viele Geheimnisse zwischen ihnen gegeben, als dass sie nun schweigen durfte. Außerdem musste man Warwick stets in Betracht ziehen.

Isabella drückte seine Hand und ging neben seinem Stuhl auf die Knie. Dann sprach sie mit Bedacht.

„Mit Sicherheit hat es euch beide recht traurig gemacht, Marcus, dass eure Ehe nicht so glücklich war, wie sie hätte sein können. Ich glaube jedoch, dass es noch einen anderen Grund für Indias Kummer gab.“

Marcus presste ganz fest ihre Hand. „Was kann das sein, Isabella?“

Sie holte tief Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Ich glaube, dass India einen anderen liebte“, sagte sie. „Ich glaube, sie liebte Edward Warwick, Marcus, und ich glaube, sie hatte ein Kind von ihm.“

Isabella ersparte ihm nichts: alles, was Pen gesagt hatte, ihre Erinnerungen und gemeinsamen Entdeckungen, die Neuigkeit von dem unehelichen Kind, dessen Vater angeblich Lord John war, und das Medaillon in dem seidenen Taschentuch … Während ihres ganzen Berichtes saß Marcus reglos und schweigend da und wandte den Blick seiner dunklen Augen nicht ein einziges Mal von ihr ab.

„Ich glaube, das Traurigste von allem war, dass Warwick sie wirklich liebte. Warum sonst wäre er im Jahr darauf wieder nach Salterton gekommen? Er wollte sie heiraten, aber Lord John lehnte seinen Antrag ab, und Warwick hatte keine Möglichkeit, dies zu ändern“, beendete Isabella ihren Bericht.

Jetzt machte Marcus eine kleine Bewegung. Bis dahin hatte er schweigend und so still dagesessen, dass Isabella nicht erkennen konnte, wie ihre Worte auf ihn gewirkt hatten. Er hatte sie nicht unterbrochen oder irgendwie sonst zu erkennen gegeben, dass er ihr nicht glaubte. Trotzdem fühlte Isabella eine gewisse Angst in sich hochkommen, und zwar nicht nur Indias wegen. Isabella wollte Marcus’ Achtung vor seiner verstorbenen Frau nicht zerstören, aber sie war ehrlich genug zuzugeben, dass auch ihr selbst seine gute Meinung wichtig war.

„Ich verstehe nicht, warum Lord John und Lady Jane India nicht erlaubt haben, Warwick zu heiraten“, sagte Marcus nun. „Wenn sie ein Kind von ihm hatte, dann hätten sie doch in jedem Fall einen Skandal vermeiden wollen, oder?“ Sein Ton war kühl und gelassen, als ob er versuchte, ein Rätsel zu lösen, das ihm persönlich nichts bedeutete, sondern nur eine geistige Herausforderung darstellte.

„Du kanntest doch die Southerns“, sagte Isabella. „Ich habe Lady Jane besonders gern gehabt, aber sie war sich ihrer gesellschaftlichen Stellung immer sehr bewusst. In der Hinsicht glich sie meiner Mutter. Ich erinnere mich sogar daran, dass sie mich, als wir uns kennenlernten, einmal ermahnte, keine Tendresse für dich aufkommen zu lassen, weil du angeblich gesellschaftlich nicht akzeptabel warst. India war ihr einziges Kind, auf sie hatten sie all ihre ehrgeizigen Hoffnungen gesetzt. Sie konnten nicht zulassen, dass ihre Tochter sich an jemand ohne gesellschaftliche Aussichten wegwarf.“

Marcus ließ Isabellas Hand plötzlich los und stand auf. Er fuhr sich mit beiden Händen unruhig durchs Haar.

„India liebte einen anderen Mann … Sie gab ihr Kind weg …“

„Ich bin nicht sicher“, sagte Isabella schnell, „aber es deutet alles darauf hin.“ Sie sah zu ihm auf und versuchte, seine Gefühle einzuschätzen. „Es tut mir alles so leid, Marcus. Ich möchte nicht, dass du schlecht von India denkst.“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll“, antwortete er, wobei er Isabella mit einem langen, undeutbaren Blick ansah. „Ich gehe für eine Weile nach draußen.“

„Marcus …“ Isabella stand mit Mühe auf, denn sie war steif vom Knien auf dem Fußboden, und ihre Röcke behinderten sie noch dazu. Sie konnte jetzt nur noch daran denken, wie sie seinen leeren Gesichtsausdruck zum Verschwinden bringen und seinen Schmerz lindern könnte. Rasch streckte sie die Hand nach ihm aus, doch es war zu spät. Er hatte sich schon abgewandt, und die Tür fiel mit einem leisen Klick ins Schloss. Isabella wollte ihm nachlaufen, konnte sich aber gar nicht rühren.

India liebte einen anderen Mann … Sie gab ihr Kind weg …

Marcus saß eine sehr lange Zeit am Meer. Seine Augen folgten den Bewegungen der weißen Segel am Horizont, sein Geist hingegen nahm kaum etwas davon wahr. Auch die Blicke neugieriger Spaziergänger bemerkte er nicht.

Erst nach einer ganzen Weile spürte er den kalten Wind, der vom Meer herüberwehte. Er stand auf, ganz verkrampft vom langen Sitzen, ging die Uferpromenade entlang und nahm schließlich die Treppe hinauf nach Salterton Hall. Im Vorbeigehen sah er, wie Freddie Standish aus der Hafenschenke kam und im Eingang einige Worte mit jemandem wechselte. Doch da er jetzt nicht mit Standish sprechen wollte, ging er schneller weiter.

Das Haus war still.

Marcus fand Isabella im Wäscheraum. Als er hereinkam, sah sie auf und hielt mit dem Falten des Lakens inne. Dann legte sie das Wäschestück langsam nieder. Ihr Gesicht zeigte offen, dass sie in Sorge war. Marcus erkannte, dass sie versuchte, sich durch die körperliche Arbeit abzulenken, und wie tief betrübt sie bei dem Gedanken war, ihn möglicherweise verletzt zu haben. Das rührte sein Herz in einer Weise an, die den brennenden Schmerz der letzten Stunden etwas minderte.

„Ich habe mich tatsächlich immer gefragt“, sagte er unvermittelt, „ob India nicht vielleicht jemanden anders im Sinne hatte. Gott weiß, dass ich sie dafür nicht tadeln konnte, denn habe ich nicht genau dasselbe getan? Wir haben nie darüber gesprochen.“ Marcus lächelte wehmütig. „Wir haben es ja versucht, aber alles sprach gegen uns.“

Isabella kam auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Brust. Eine Locke lugte unter der lächerlichen Spitzenhaube hervor, die sie bei der Arbeit trug, und fiel ihr über die Wange. Von der Wärme in dem Raum und der körperlichen Anstrengung war ihr Gesicht ganz rot geworden.

„Ihr wart füreinander da und habt versucht, glücklich zu sein“, sagte sie sanft. „Das ist, was zählt.“

Er nickte. „Bei allem, was geschehen ist, denke ich nicht weniger gut von ihr“, antwortete er und wandte das Gesicht ab. „Zuerst schon, das muss ich zugeben, aber jetzt nicht mehr.“

Isabella schwieg und beobachtete sein Gesicht.

„Es war ein Schock“, sagte er hastig und zog sie zu sich herab auf einen Stapel von angenehm duftendem Leinenbettzeug. „Ich dachte, ich kannte sie. Wie arrogant von mir, nicht wahr? Aber wir haben sechs Jahre zusammengelebt, und ich dachte …“ Er schüttelte den Kopf. „Es war ein Schock, als mir klar wurde, dass ich etwas Grundsätzliches falsch gemacht hatte und wie wenig ich India überhaupt kannte.“

„Es war nicht einfach, India richtig kennenzulernen“, sagte sie mit Wärme in der Stimme.

„Ich wünschte, sie hätte sich mir anvertrauen können“, meinte er traurig, „aber ich sehe jetzt, dass es ihr unmöglich gewesen wäre.“ Er zog Isabella unwillkürlich enger an seine Seite.

„Sie muss sehr einsam gewesen sein“, sagte sie sanft und traf damit seine Gedanken.

Er sah sie an. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter.

„Du weißt, was man dabei empfindet, nicht wahr, Liebes?“, sagte er einfühlsam.

Isabella seufzte. „Ich habe inzwischen entdeckt, dass India und ich mehr gemeinsam hatten, als ich mir je hätte vorstellen können.“

Marcus küsste sie. Die Erleichterung darüber, dass er sie gleichsam wiederentdeckt hatte und sie eng an sich gedrückt hielt, überwältigte ihn. Urplötzlich fühlte er gleichzeitig Dankbarkeit, Demut und große Freude in sich. Er nahm ihr die Haube vom Kopf und warf sie zur Seite; dann barg er sein Gesicht in ihrem Haar und drückte sie nach hinten, sodass sie auf einem Durcheinander von Wäschestücken lag. Beide sagten nichts, das beiderseitige Verlangen war zu groß für bloße Worte. Isabella riss seine Jacke und sein Hemd auf, um seine Brust zu liebkosen. Marcus küsste sie mit fieberhaftem Drängen, während er seine Hand unter ihre Röcke gleiten ließ.

„Marcus!“ Sie konnte ihren Mund kurz von ihm lösen. „Nicht hier! Das Wäschemädchen kann jeden Augenblick hereinkommen.“

Zur Antwort stand Marcus auf, ging zur Tür und drehte entschlossen den Schlüssel im Schloss herum.

„Jetzt kann sie es nicht mehr“, sagte er grinsend und ging zu seiner Frau.

Danach beobachtete er gesättigt und voller Vergnügen, wie Isabella offenkundig erfolglos versuchte, ihr widerstrebendes Haar zu bändigen und es unter diese lächerliche Haube zu stecken. Sie sah über die Schulter, wie er lächelte, und verzog ein wenig verärgert den Mund.

„Marcus, wenn du mir doch nur helfen würdest, statt über meine Bemühungen zu lachen!“

„Dann würdest du immer noch aussehen, als wärest du im Wäscheraum herumgepurzelt“, sagte Marcus lachend, stand aber bereitwillig auf und kam herüber, um ihr zu helfen.

Er legte seine Hände auf ihre Schultern und drehte sie zu sich, sodass sie ihn ansah.

„Es gibt eine Sache, zu der ich dich etwas fragen wollte, als wir vorhin miteinander sprachen“, sagte er.

Er sah, wie die helle Fröhlichkeit aus ihren Augen wich und einer gewissen Angst Platz machte. Daher hielt er sie noch fester, um sie zu beruhigen.

„Edward Warwick“, fuhr er fort. „Ich verstehe nicht, warum er nach Salterton zurückgekommen ist. India ist tot und begraben und die Vergangenheit mit ihr. Was ist das Geheimnis, von dem er glaubt, dass ich es in Händen halte? Was hofft er zu erreichen?“

Ein ganz besonderer Ausdruck zog über Isabellas Gesicht, darin lag einerseits Bedauern, andererseits Mitgefühl.

„Ich glaube wirklich, dass er zurückgekommen ist, um etwas zu finden“, sagte sie. „Marcus, ich glaube, er will sein Kind.“