14. KAPITEL

Die Schuld war beglichen, und wenn er sein Wort hielt, war sie frei.

Wenn Isabella eine Frau gewesen wäre, die sich einer Busenfreundin anvertrauen konnte, dann hätte sie sich vielleicht dazu herabgelassen, ihr zu erzählen, dass die vergangene Nacht mit ihrem Mann überwältigend gewesen war. Natürlich hatte sie nicht viel Erfahrung, um vergleichen zu können. Aber wenn sie mit Ernest zusammen war, dann war er ihr vorgekommen wie ein Kleiderschrank, in dem der Schlüssel noch steckte. Marcus hingegen … jeder, der sie mit so überwältigender Lust beben, zittern und dahinschmelzen lassen konnte, musste einfach ein Meister dieser Kunst sein. Es war eine vollkommene Hochzeitsnacht – in jeder Hinsicht bis auf eine: Ihr Mann liebte sie nicht.

Isabella rannte fort, so schnell sie konnte. Es war nicht Marcus, vor dem sie floh – sie wollte ihren eigenen Gefühlen entkommen. Dennoch wusste sie, wie sehr sie es auch leugnen mochte, dass sie diese Gefühle auf jedem Schritt ihrer Flucht mit sich trug. Es gab kein Entrinnen.

Sie liebte Marcus Stockhaven und hatte nie aufgehört, ihn zu lieben. Am Abend zuvor hatte sie ihm fast die ganze Wahrheit berichtet. Nur ihr persönlichstes und schmerzlichstes Geheimnis, nämlich ihre Zweifel über Emmas Herkunft, hatte sie ausgelassen. Nach anfänglichem Zögern hatte sie reinen Tisch machen wollen, es aber schließlich doch unterlassen, weil es niemandem nützen würde. Emma war tot, und die ganze sorgenvolle Angst lag hinter ihr. Niemals wieder wollte Isabella die vernichtende Erfahrung machen, ein Kind zu verlieren. Sie wollte nicht mehr lieben, und sie wagte nicht, um Kinder zu beten. Noch einmal verschloss sie diese Gedanken und Gefühle in ihrem Inneren.

Selbst ohne die Preisgabe ihrer tiefsten Geheimnisse, war das, was Isabella enthüllt hatte, sehr anstrengend und belastend gewesen. Sie hatte Marcus gegenüber ihr Herz geöffnet, und es hatte wehgetan, als er ihre Erklärungen zurückwies. Sie war müde, und ihre Gefühle lagen ganz bloß. Die Reise gab ihr viel Gelegenheit nachzudenken. Über das, was sie mit Marcus besprochen hatte … und über ihre Verführung.

Denn verführt worden war sie tatsächlich. Sie war durch ihre eigene Sehnsucht, aber auch durch Marcus’ Verlangen von einem Strudel an Gefühlen erfasst worden, der für vernünftige Gedanken keinen Platz gelassen hatte. Ja, sie hatte ihn genauso begehrt wie er sie, wenn sie ehrlich war. Sie hatte ihn gewollt, und sie wollte ihn immer noch.

Marcus’ ungestümes Vorgehen hatte etwas in ihr entflammt, eine Sehnsucht, der sie nicht hatte widerstehen können – selbst wenn sie es gewollt hätte. Die Erinnerung an das Zusammensein ließ sie jetzt noch erzittern. So lange hatte sie etwas Derartiges nicht mehr erlebt, dass sie fast vergessen hatte, wie es sein konnte. Ja, sie hatte sich sogar verzweifelt bemüht zu vergessen. Es war lange her, und damals war sie eine ganz andere Person gewesen.

Von Marcus in den Armen gehalten zu werden, ihn zu küssen, zu berühren, an sich zu drücken – das war wie ein Nachhausekommen. Sie war durch ihre tiefe Liebe zu ihm überwältigt worden. Sie hatte ihn in sich gespürt, und ihr Körper hatte ihm entgegengefiebert. Aber selbst während er sie in den schmerzlich-lustvollen Strudel der Leidenschaft gezogen hatte, war ihr das Herz vor Liebe und Angst fast gebrochen: Denn dies hier war es, was sie wollte, und trotzdem fühlte sich alles falsch an. Es könnte erst dann wieder richtig sein, wenn Marcus sie erneut liebte.

Nach ihrem Zusammensein hatte Marcus sie ganz festgehalten und war sofort eingeschlafen. In dem schwachen Licht hatte er jung ausgesehen, und sein Gesicht war völlig frei von Zorn, Bitterkeit und Hass gewesen. Als sie ihn dann ansah, war ihr Inneres erfüllt worden von einer Mischung aus Liebe und Elend. Sie hatte sich eng in seine Arme geschmiegt und versucht, die schmerzlichen Gedanken, die ihren erschöpften Geist unaufhörlich quälten, auszuschließen.

Ohne Erfolg.

Sie hatten zwar körperliche Nähe geteilt, aber Isabella fühlte sich weiter entfernt von Marcus als je zuvor. Er liebte sie nicht. Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt in der Hoffnung, das Misstrauen zwischen ihnen zu mindern. Stattdessen war das Gefühl der Leere jetzt stärker als vorher, als hätte sie alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Sie konnten durchaus ehrlich zueinander sein, und da war eine körperliche Nähe, die ihr sowohl Qual als auch Vergnügen bereitet hatte. Doch Liebe war nicht dabei gewesen. Trotz all ihrer vielschichtigen Gefühle und Gedanken, was Marcus anging, war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht eine Rivalin haben könnte. Jetzt fragte sie sich, wie sie so blind hatte sein können.

Was war mit India? hatte Marcus gefragt, und Isabella hatte sich zuerst über diese unwichtige Frage gewundert. Bis sie den Zorn, die Loyalität und die Leidenschaft in seinen Augen gesehen und gespürt hatte, wie ihr der Mut sank. Natürlich! India war diejenige, die Marcus geheiratet hatte. India hatte damals seine Liebe und seine Loyalität bekommen – und er war ihr im Herzen immer noch treu. Natürlich wusste sie, dass Marcus sie begehrte, und zwar mit jenem schmerzenden Verlangen, das auch sie selbst empfand. Aber das war sehr verschieden von den Gefühlen, die er für seine erste Frau hegte.

Der Gedanke, dass Marcus India liebte, tat weh. Es hatte in der Nacht zuvor wehgetan und schmerzte auch jetzt noch. Isabella hatte einen großen Schrecken verspürt, als Marcus es ihr sagte. Was davon blieb, war ein dumpfer Schmerz. Sie kam sich jetzt so töricht vor, dass sie daran überhaupt nicht gedacht hatte. Beschämt musste sie sich eingestehen, dass sie immer geglaubt hatte, seine Leidenschaft habe stets allein ihr gegolten.

An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Bei Tagesanbruch hatte sie den Wagen kommen lassen und die Straße nach Süden durch die schlafende Stadt genommen. Sie hatte hastig gepackt und Anweisungen für die Diener hinterlassen, ihr so bald wie möglich nach Salterton zu folgen. Dann hatte sie einen letzten Blick auf Marcus geworfen und war gegangen.

Hinter Richmond entfaltete sich die Landschaft auf beiden Seiten zu einem Mosaik aus Feldern, Hecken, Wäldern und Dörfern. Die Straße war gut. Es war wieder ein herrlicher Sonnentag. Isabella versuchte, ein wenig zu schlafen. Aber ihre Gedanken ließen sie auch jetzt nicht zur Ruhe kommen.

Bereits am späten Nachmittag kamen sie an die Kreuzung, wo die Straße nach Exeter westlich verlief. Sie nahmen die südliche Route nach Winchester. Isabella hatte einen ganz bestimmten Ort im Sinn, an dem sie über Nacht bleiben wollte. Die Herbergen und Hotels der Stadt kamen für sie nicht infrage. Aber außerhalb der Stadt, am Fuße alter Mauern, lag eine noch ältere Schankwirtschaft mit dem Namen „The Ostrich“. Die Wirtschaft war von einem geistlichen Orden erworben worden. Was konnte für eine allein reisende Frau passender sein als der sichere Hafen eines Klosters?

Einer der Fratres begrüßte Isabella mit einem erfrischenden Becher Met. Ihr spärliches Gepäck wurde in einen Raum im ersten Stock gebracht. Von dort aus blickte man auf den Obstgarten. Ein Krug mit erfrischend kühlem Wasser zum Waschen stand bereit, und auf dem schmalen Bett lag frisches Leinen. Nachdem Isabella sich vergewissert hatte, dass ihr Kutscher und ihr Pferdeknecht gut untergebracht waren, zog sie sich auf ihr Zimmer zurück, legte sich auf das Bett und schloss die Augen. Nach einer Weile drang der Duft von gebratenem Fleisch in ihr Zimmer. Isabella öffnete die Augen und merkte erst jetzt, wie hungrig sie war. Bald danach klopfte es an die Tür, und ein Diener brachte ein mit Speisen reich beladenes Tablett herein. Isabella wurde wieder einmal klar, was für eine Perle „The Ostrich“ war.

Am Abend las Isabella bei Kerzenlicht, während die Geräusche von der Straße an ihr Ohr drangen. Schließlich aber schlief sie trotz des Lärms von draußen und der Straßenbeleuchtung über ihrem Buch ein.

Es war dunkel, als sie aufwachte. Sie war sicher, dass irgendetwas sie gestört hatte. Sie lauschte. Jemand drehte ganz vorsichtig den Türknopf. Ein Klick war zu hören, und dann sah sie einen schmalen Lichtstrahl unter der Tür hervorscheinen. Angespannt wartete sie.

Die Tür öffnete sich weiter. Isabella tastete leise über die Bettkante, um das Nachtgeschirr zu finden. In schierer Angst um ihr Leben umklammerte sie den Rand des Porzellangefäßes. Isabella war weit gereist und wusste, was in solchen Situationen zu tun war: Wichtig war das Überraschungselement, Fragen stellen konnte man später. Natürlich könnte sie auch schreien, sie hatte aber angesichts des Ordens Hemmungen, das zu tun.

Die dunkle Gestalt eines Mannes schlüpfte durch die Öffnung und schloss dann die Tür leise hinter sich. Behutsam näherte er sich dem Bett. Isabella schwang das Nachtgeschirr in einem weiten Bogen um sich, und das Gefäß traf den Eindringling mit einem dumpfen Aufprall am Kopf. Der Mann wankte stöhnend zur Seite.

„Das war eine Lektion für Sie, damit Sie sich nicht mehr nachts in das Schlafzimmer einer Dame schleichen!“, rief sie mit schneidender Stimme.

„Botschaft verstanden“, sagte der Mann trocken und rief sich den Kopf. „Ich schwöre, dass ich das nie wieder tun werde – zumindest nicht ohne deine Erlaubnis.“

Isabella richtete sich kerzengerade im Bett auf. Ihr Herz schlug nicht vor Schreck, sondern jetzt vor Angst. „Marcus? Was um alles in der Welt machst du hier?“

Sie tastete nach der Zunderdose und zündete eine Kerze an. Ihre Hand zitterte leicht dabei. Das war völlig unerwartet und sehr beunruhigend. Isabella hatte geglaubt, dass sie genügend Zeit zur Verfügung hätte, ehe sie Marcus wiedersehen musste – wenn sie ihn überhaupt wiedersehen sollte. Eine gesetzliche Trennung und auch die formelle Übertragung Saltertons hätten über Mr. Churchward in die Wege geleitet werden können. Ein persönliches Treffen wäre dabei nicht notwendig gewesen.

Marcus setzte sich schwerfällig auf das Ende des schmalen Bettes. „Nicht gerade eine besonders herzliche Begrüßung“, sagte er wehmütig.

„Was tust du hier?“, fragte sie. „Woher wusstest du, wo du mich finden würdest? Ich habe niemandem gesagt, wo ich übernachten würde, sodass du …“

Ein Lächeln spielte um Marcus’ Lippen, und Isabella spürte, wie ihr heiß wurde. Die Erinnerung an die vergangene Nacht wurde lebendig: seine Hände auf ihrer Haut, seine Lippen auf ihrer Brust, die Berührung ihrer Körper … Isabella sah nervös zur Seite.

„Du hast niemanden informiert, damit ich nicht wissen sollte, wo ich dich finden könnte?“, fragte er.

„Genau“, antwortete sie kurz.

Er lachte. „Ich bin dir auf der Straße gefolgt“, sagte er mit einem Augenzwinkern. „Du bist nicht gerade unauffällig, Isabella.“

„Warum musstest du mir überhaupt folgen?“, fragte sie leicht gereizt. „Dazu bestand keine Notwendigkeit. Du hast deine Hochzeitsnacht bekommen, und nun bist du an der Reihe, Wort zu halten.“

Einen Augenblick lang war Marcus still. Sein Gesicht wurde nur schwach durch die Kerze beleuchtet.

„Ich konnte dich so nicht gehen lassen“, antwortete er schließlich.

Isabellas Herz schlug schnell. „Wie meinst du das?“

Er rückte unruhig hin und her; ihm war ganz offensichtlich unbehaglich zumute. „Ich musste mit dir sprechen.“ Ein Schatten zog über sein Gesicht. „Isabella, es tut mir leid. Ich habe dich gestern Nacht maßlos begehrt, und ich glaubte, dass das umgekehrt auch so war. Ich hatte nie die Absicht, dir Gewalt anzutun.“ Er hielt inne. Dann fügte er ehrlich hinzu: „Das heißt … zu Beginn, war es mir vielleicht gleichgültig. Aber ich würde dich niemals gegen deinen Willen nehmen.“ Er rückte ein Stück zu ihr. „Es tut mir leid, dass ich dich vertrieben habe.“

Isabella erkannte jetzt, dass er die Gründe für ihre Abreise missverstanden hatte. Sie war geflohen, weil sie es nicht hätte ertragen können, am Morgen aufzuwachen und die unangenehme Mitteilung zu hören, dass er sie nun verlassen würde. Aber er hatte offenbar angenommen, dass sie fortgegangen war, weil ihr Zusammensein sie abgestoßen hatte. Marcus sah ganz zerknirscht aus, und zu ihrer Überraschung spürte sie, wie das Blut ihr in die Wangen stieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Lass uns nicht davon sprechen.“

„Warum nicht? Schließlich sind wir Mann und Frau.“

Isabella schnürte es fast die Kehle zu. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie intime Angelegenheiten mit irgendjemandem besprochen, am allerwenigsten mit ihrem Mann. Sie dachte kurz nach und erkannte, dass sie sehr verlegen war.

Marcus fasste sie leicht am Kinn und drehte ihr Gesicht zum Licht.

„Du bist schüchtern“, sagte er mit einer Spur Überraschung in der Stimme.

Isabella schlug seine Hand weg. „Nein, das bin ich nicht!“

„Es ist aber doch so. Ich sehe es in deinen Augen.“

„Ich bin nicht daran gewöhnt, über solche Dinge zu sprechen“, sagte sie etwas stockend.

Sie wartete auf eine spöttische Bemerkung von Marcus. Aber er schwieg und rieb sich gedankenverloren die Stelle, an der sie ihn getroffen hatte. Isabella streckte zögernd eine Hand aus.

„Habe ich dich verletzt?“

Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. „Ja. Aber das hatte ich verdient. Isabella“, sein Ton wurde sanft, „warum bist du fortgegangen? Das, was zwischen uns geschehen ist, war das der Grund?“

Sie schluckte schwer. In ihr kämpften Hoffnung und Verzweiflung miteinander.

„Marcus“,sagte sie dann.„Ich möchte nicht, dass du denkst …“ Sie hielt inne. Es war sehr schwer, aber ihre Ehrlichkeit zwang sie, die Wahrheit zu sagen. „Ich habe dich auch begehrt“, fuhr sie schließlich fort. „Ich begehrte dich so sehr, dass ich alles, was zwischen uns lag, fast vergaß. Aber dann kam es mir wieder in den Sinn und …“ Sie zuckte erschöpft die Achseln. „Es wurde mir klar, dass es für uns zu spät war. Es fühlte sich alles falsch an, und es kann niemals wieder richtig werden.“

Er sah sie lange unverwandt an. „Ich bin froh“, sagte er. „Nicht weil du glaubst, es sei zu spät für uns, sondern darüber, dass ich dir unser Zusammensein nicht gegen deinen Willen aufgedrängt habe.“

Isabella entzog ihm widerstrebend ihre Hand. Doch es schien ihr zu gefährlich, ihm so nah zu sein. Die Vertrautheit, nach der sie sich in der vergangenen Nacht gesehnt hatte, schlich sich langsam in die anheimelnde Atmosphäre des schwach erleuchteten Raumes hinein. Aber es war zu spät. Marcus hatte kein Wort darüber gesagt, ob er ihre Erklärung jener lange zurückliegenden Vorgänge glaubte, oder sie wegen seiner gemeinen Verdächtigungen um Verzeihung gebeten. Er hatte ihr nicht gesagt, dass er sie liebte. Doch für sie war Vertrauen wichtiger als jede körperliche Nähe.

„Du musst doch gemerkt haben, dass ich mich nicht gerade zierte“, sagte sie.

Er lächelte. „Ja, das habe ich gespürt. Aber dann, als ich aufwachte und sah, dass du gegangen warst …“ Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin gegangen, weil wir das so vereinbart hatten“, antwortete sie unverblümt. „Du hattest bekommen, was du wolltest, und warst einverstanden, mir im Gegenzug Salterton zu geben – und eine gesetzliche Trennung. Wir hatten einen Handel abgeschlossen, du und ich. Und ich hoffe, dass du die Vereinbarung einhältst.“

Marcus sah Isabella lange prüfend an. Sie befürchtete, dass er die Wahrheit in ihren Augen lesen könnte.

„Warst du mit mir nur zusammen, um deinen Teil der Vereinbarung zu leisten?“ In seiner Stimme schwang etwas mit, das sie erschreckte.

„Nein“, antwortete sie widerwillig, „aber das ist nicht der Punkt, Marcus. Das, was ich von dir möchte …“ Sie hielt inne und dachte an Liebe und Vertrauen. Doch das war auch gefährlich, und sie war früher so verletzt worden, dass sie nicht sicher war, diesen Schmerz erneut ertragen zu können.

„Wir hatten uns geeinigt“, sagte sie abschließend.

„Willst du wirklich eine gesetzliche Trennung, Isabella?“, fragte er ruhig, aber bestimmt.

Sie wich seinem Blick aus. „Darauf hatten wir uns geeinigt.“

„Das war nicht meine Frage.“

Isabella stieß einen schmerzlichen Seufzer aus. „Es ist die einzige Möglichkeit.“ Sie hob die Hand in einer Geste ratloser Verzweiflung. „Was können wir denn sonst tun, Marcus? Ein Zurück gibt es nicht. Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Sie wird immer zwischen uns stehen.“

Einen Augenblick lang schwieg er. „Es gibt kein Zurück für uns“, sagte er schließlich, „aber wir können vorwärts gehen.“ Sein Ton wurde jetzt weicher. „Ich möchte dich nicht verlassen, Isabella, und ich möchte nicht, dass du von mir gehst. Ich kann das nicht zulassen – nicht jetzt.“

Isabella fühlte sich wie in einer Falle gefangen. „Du hast dein Wort nun schon zweimal gebrochen.“

„Es könnte sein, dass du mein Kind unter dem Herzen trägst.“

Schweigen folgte. Sie schloss kurz die Augen. In der Hitze des Augenblicks war ihr diese Möglichkeit nicht in den Sinn gekommen. Es war sehr lange her, dass sie darüber nachgedacht hatte. Nun kam ihr Emma wieder in den Sinn, und sie empfand einen solchen Schmerz, dass sie aufstöhnte.

„Nein! Oh nein.“

Sie sah, wie sich Marcus’ Gesichtsausdruck veränderte, und wusste, dass ihre Worte ihn verletzt hatten. Er verstand nicht, konnte es nicht.

Sie wartete auf eine bittere Entgegnung, aber stattdessen berührte er ihre Hand, die sie in die Bettdecke gekrallt hatte. „Es tut mir leid, Isabella. Ich weiß, dass du das nicht willst. Aber wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, und bis wir wissen …“

Als sie nicht antwortete, seufzte er.

„Wir werden morgen früh noch einmal darüber sprechen. Jetzt ist nicht die richtige Zeit. Du siehst erschöpft aus, und ich bin es auch, denn ich bin sehr scharf geritten, um dich zu finden.“ Er bückte sich, um die Schuhe auszuziehen.

Angespannt und nervös zog Isabella die Bettdecke bis ans Kinn.

„Was tust du da?“

Marcus lächelte. Es war ein warmes und spitzbübisches Lächeln, das seine dunklen Augen zum Strahlen brachte. „Ich komme natürlich ins Bett.“

Isabella stockte der Atem. „Aber … hast du nicht gehört, was ich die ganze Zeit gesagt habe? Für uns gibt es kein Zurück, Marcus, und das gilt ab sofort. Die Fratres haben doch sicher eine andere Unterkunft für dich?“

Er sah sie an. Im Kerzenlicht war sein Gesichtsausdruck nicht zu deuten. Er rieb sich wieder den Kopf, und es sah rührend aus, wie hier und da sein dunkles Haar hochstand. Isabella unterdrückte den Drang, die Hand auszustrecken und das Haar zu glätten.

„Es gibt keinen Platz mehr in der Herberge, Isabella“, sagte er. „Als Bruder Jerome hörte, dass ich dein Mann bin, schlugen die Mönche vor, dass wir das Zimmer teilen.“

„Die sind ja sehr vertrauensselig“, antwortete sie. „Jeder hätte das behaupten können.“

„Ich glaube, dass sie nicht damit rechneten, dass ich einem Mann Gottes gegenüber lügen würde“, erwiderte er mit unschuldiger Miene und zog das Hemd über den Kopf.

„Pah!“ Isabella zog die Bettdecke noch enger um sich. „Der Platz reicht kaum für einen, geschweige denn für zwei“, sagte sie. Der Gedanke, einen so kleinen Raum mit Marcus teilen zu müssen, beunruhigte sie. „Du wirst im Wagen schlafen müssen.“

Marcus grinste. Das Kerzenlicht glitt liebkosend über seine Brust und seine Schultern und verlieh seiner Haut einen Bronzeton. Er streckte seine Hand aus und berührte ihre Wange. Es war eine völlig entwaffnende Geste. Isabella blinzelte, plötzlich verwirrt.

„Du siehst aus wie ein schüchternes Schulmädchen“, sagte er. „Ich wusste nicht, dass meine Anwesenheit dir so zusetzen würde.“ Dann wurde seine Stimme ernster. „Doch, Isabella, ich habe gehört, was du gesagt hast. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“

„Ich habe auch keine Angst“, sagte sie tapfer. „Aber dieses Bett ist schmal.“

„Du kannst in meinen Armen schlafen. Das spart Platz.“ Marcus sagte das ganz sachlich. Isabella verschlug es fast den Atem. Sie hatte noch nie in den Armen eines Mannes geschlafen. In der Nacht zuvor hatte Marcus sie ganz festgehalten, aber sie war zu aufgewühlt gewesen, um sich in seiner Wärme zu entspannen. Jetzt spürte sie die Versuchung, gehalten und getröstet zu werden und keine Angst zu haben …

Marcus bückte sich erneut, um die Schuhe auszuziehen, so als ob nun alles entschieden sei. Verstohlen beobachtete Isabella ihn beim Entkleiden, und sie war sehr erleichtert und gleichzeitig sehr enttäuscht darüber, dass er seine Beinkleider nicht ablegte. Sie ließ sich wieder auf das Bett sinken und schloss die Augen. Als Marcus sich auf den schmalen Platz neben sie legte, spannte sie sich unwillkürlich an. Sie versuchte, so weit wie möglich von ihm wegzurücken, was angesichts der engen Grenzen des Bettes allerdings kaum möglich war. Durch den Stoff ihres Nachtgewands hindurch konnte sie seine Wärme spüren.

„Entspanne dich“, beruhigte er sie.

„Ich habe noch nie …“

„Was hast du noch nie?“

„Noch nie in den Armen eines Mannes geschlafen“, antwortete sie hastig.

„Und Ernest?“

„Wir wohnten in getrennten Palästen, von gemeinsamen Schlafzimmern ganz zu schweigen.“

Marcus lachte. „Das ist ja etwas ganz Extravagantes. Aber er hat sich doch sicher manchmal bei dir aufgehalten?“

„Nur wenn er zu betrunken war, um aus dem Bett zu kommen“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Und dann war ich immer diejenige, die so schnell wie möglich aufstand.“

Die Erinnerungen an ihre frühere Ehe flößten ihr auch jetzt wieder Angst ein. Sie war damals in die Falle gegangen, war in eine Rolle hineingezwungen worden, die gar nicht zu ihr gepasst hatte. Isabella konnte nicht zulassen, dass so etwas noch einmal geschah.

Sie setzte sich im Bett auf.

„Dein Eheleben ist ja voller Überraschungen für mich“, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. Er legte einen Arm um Isabella und zog ihren Kopf an seine Schulter. „Alles wird gut.“ Er sprach zu ihr wie zu einem Kind. „Entspanne dich.“

In seinen Armen zu liegen war zu ihrem Erstaunen sehr bequem. Isabella atmete den Duft seiner Haut ein und kuschelte sich zu ihrer eigenen Überraschung noch enger an ihn. Sein Hals war warm und fest unter ihren Lippen, und sie konnte seinen gleichmäßigen Herzschlag hören. Von draußen drangen Stimmen und das Klirren von Zaumzeug an ihr Ohr. Aber dann war alles um sie herum friedlich.

„Bella?“ Marcus’ Stimme war schläfrig.„War es dir sehr wichtig, auf Salterton Hall Anspruch zu erheben?“

Sie seufzte. „Ja.“

„Weil es dir von Rechts wegen zusteht?“

Es war beängstigend, wie gut er sich in sie hineinversetzen konnte.

„Weil es mir ja gehörte, ehe ich es törichterweise durch diese überstürzte Heirat mit dir verlor.“ Isabella rückte sich etwas zurecht. Sie dachte wieder an Ernest und versuchte, es Marcus zu erklären. „Ich betrachte mich sowohl als Isabella Standish als auch die Countess of Stockhaven, Marcus. Ich möchte nicht, dass alles, was ich bin und habe, von der Persönlichkeit eines anderen vereinnahmt wird.“

„Ist das damals passiert?“

„Ja.“ Sie dachte an Ernest und seinen Verstellungen von einer mustergültigen Gattin und Fürstin, die sie zu erfüllen hatte.

„Ich bin nicht sicher“, sagte er langsam, „dass ich mir eine solche Ehe wünschen würde.“

„Die meisten Männer tun das aber“, antwortete sie.

„Dann“, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln, „bin ich vielleicht nicht wie die meisten Männer.“

Das stimmte zweifellos. Isabella lächelte etwas wehmütig. „Vielleicht nicht, Marcus.“ Sie rieb ihre Wange sachte an seiner Schulter, was sie eigentlich gar nicht tun sollte. Aber Marcus war nun einmal hier, und die Situation war verlockend, und überhaupt – nur dieses eine Mal …

„Schlaf jetzt.“ Er küsste ihr Haar.

Isabella spürte, wie sie allmählich in einen warmen Kokon der Zufriedenheit hineinglitt. Sie erkannte, dass die wirkliche Gefahr für sie nicht von körperlichen Intimitäten mit Marcus ausging, sondern von dieser verführerischen Nähe. Dadurch wurde sie in den Glauben eingelullt, alles zwischen ihnen könnte gut werden, so wunderbar, wie es einst gewesen war. Dennoch erlaubte sie sich, ihre Ängste und Sorgen zu vergessen und einfach zu träumen. Und als sie dabei war, einzuschlafen, war ihr, als habe sie Marcus wieder sagen hören: „Schlaf jetzt. Ich werde dich niemals fortgehen lassen.“

Freddie Standish war beim Frühstück, als die Nachricht ankam. Er hatte in der Nacht zuvor einige Gläser zu viel getrunken und war immer noch ziemlich angeschlagen. Unlustig brach er ein paar Stücke von einer Scheibe Toast ab und versuchte, Pen nicht merken zu lassen, wie elend er sich fühlte.

Das Knistern des Briefes beim Auffalten vermischte sich mit den Geräuschen, die Pen beim Verzehren ihrer dritten Scheibe Toast mit Honig machte. Freddie wurde leicht übel dabei.

„Hmm“, ließ Pen sich beim Kauen vernehmen, und eine leichte Überraschung lag in ihrem Ton. „Hier ist eine merkwürdige Nachricht für dich, Freddie.“ Ihr Blick fiel auf das Ende der Mitteilung. „Von einem Gentleman namens Warwick.“

Freddie fuhr erschrocken hoch und war plötzlich hellwach. Er ließ das zerbröselte Toast fallen, sprang auf und entriss Pen das Papier.

„Freddie!“,rief sie aus, als er mit dem Ärmel ihre Teetasse umwarf.

Er nahm sich nicht die Zeit, sich zu entschuldigen. Zwei Stufen der Treppe auf einmal nehmend, überflog er die Zeilen: Sehr geehrter Lord Standish … muss Sie sofort sehen … Wigmore Street … heute Morgen … verträgt keinen Aufschub.

Als Freddie wieder herunterkam, hatte er seinen Mantel ohne die Hilfe seines Kammerdieners übergeworfen. Pen stand in der Eingangshalle, und ihr Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck.

„Gibt es Schwierigkeiten, Freddie?“

Er sah sie an. Wenn sie nur wüsste! „Schwierigkeiten“ war noch milde ausgedrückt.

„Zum Teufel“,murmelte er für sich.„Keine Sorge! Von jemandem, dem ich etwas Geld schulde.“

„Spielschulden?“, fragte sie mit resignierter Stimme.

„So etwas Ähnliches.“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und rannte an ihr vorbei, ehe sie ihm noch mehr Fragen stellen konnte.

„Wann bist du zurück?“, rief Pen ihm nach. Er drehte halb den Kopf, antwortete aber nicht, sondern beeilte sich noch mehr. Auf eine Droschke musste er leider verzichten – das konnte er sich nicht leisten.

Die frische Morgenluft ließ seinen Kopf wieder klar werden, aber gleichzeitig wurde ihm übel vor lauter Angst. Edward Warwick. Wie war es eigentlich so weit mit ihm gekommen? Die ganze Angelegenheit hatte vor so langer Zeit angefangen, dass es schwierig war, sich richtig zu erinnern. Freddie war sehr unglücklich gewesen, nachdem seine Cousine India Southern seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Er war jung gewesen und an Niederlagen nicht gewöhnt. Daraufhin hatte er sich dem Familienlaster des Trinkens und Schuldenmachens hingegeben. Von da an war es mit ihm zwar sehr langsam, aber unvermeidlich immer weiter abwärts gegangen – bis zu dem schrecklichen Augenblick, da er seinem Vater gestehen musste, dass er wegen seiner hohen Schulden wohl im Fleet-Gefängnis enden würde.

Freddie sah immer noch das Gesicht seines alten Herrn vor sich, das vor Abscheu und Missbilligung zuckte. Lord Standish war sich nicht zu schade gewesen, seinen einzigen Sohn bitter für die Schwächen zu tadeln, die er ihm selbst vorgelebt hatte.

Es gab natürlich nichts, womit sein Vater ihm damals hätte helfen können. Lord Standish war schon dabei, das Vermögen zu verlieren, mit dem Fürst Ernest Di Cassilis ihn ganz nebenbei bedacht hatte. Das Thema Fleet wurde nicht mehr behandelt, und dann war Warwick wie die Antwort auf all ihre Gebete aufgetaucht, indem er Vater und Sohn für ein paar gute Worte hier und eine Gunst dort Geld anbot. Es war ihnen unkompliziert vorgekommen. Was Warwick wollte, war Einfluss – eine Meldung in den Zeitungen, ein heimliches Wort zu einem Mitglied des Parlaments, eine Gerichtsentscheidung nach seinem Willen … Vater und Sohn Standish waren willfährig, wo sie nur konnten. Natürlich wäre es ganz etwas anderes gewesen, wenn Warwick gesellschaftliche Anerkennung angestrebt hätte. So etwas wäre nicht infrage gekommen.

Freddie erreichte schließlich die Wigmore Street, nachdem er sich in dem Labyrinth um die James Street herum etwas verlaufen hatte. Er war ganz außer Atem, als er das noble Modegeschäft betrat und die Treppe hinaufging. Dass man ihn fast eine ganze Stunde warten ließ, überraschte ihn nicht. Schließlich wurde er über eine Hintertreppe in Warwicks Büro geführt.

Edward Warwick reichte ihm mit einem Minimum an Höflichkeit kurz die Hand.

„Standish. Wie gut, dass Sie so schnell gekommen sind.“

In seinen Worten lag ein Anflug von Spott. Er wusste, wie lange Freddie hatte warten müssen. Freddie spürte, wie eine heiße Welle von Demütigung und Verzweiflung über ihn hereinbrach. Er steckte viel zu tief in dieser Sache mit Warwick, als dass er sich noch aus dessen Fängen hätte befreien können. Selbst wenn er das Gefühl hatte, dass Warwick letztlich etwas viel Gefährlicheres von ihm wollte als nur ein paar Informationen.

„Ihre Schwester ist jetzt also Countess of Stockhaven.“ Warwick sprach langsam und ruhig. Aber wie ein Tier, das Gefahr wittert, bemerkte Freddie etwas in Warwicks Ton, das ihn beunruhigte. Er antwortete nicht. In dem Büroraum kam es ihm stickig vor, und schon spürte er, wie der Schweiß ihm am Rücken hinabrann. Warwick hatte die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

„Stockhaven scheint immer die Dinge zu bekommen, die ich haben will“, sagte er. „Das Haus am Meer … das Vermögen … die Frau …“

Freddie war so entsetzt, dass er ohne zu überlegen sagte: „Sie wollen Isabella?“

Warwick warf ihm einen feindseligen Blick aus seinen schiefergrauen Augen zu. „Nicht die Frau, Lord Standish, so bezaubernd Ihre Schwester zweifellos ist. Stockhaven war bereits zuvor verheiratet, aber es scheint, dass alle das gern vergessen wollen.“

Freddie spürte einen Druck in der Magengegend. „Sie meinen India“, sagte er mit belegter Stimme. Er runzelte die Stirn, um gegen die Wärme und das Dröhnen in seinem Kopf anzugehen. „Sie kannten sie?“

„Sehr gut sogar“, antwortete Warwick mit dem Anflug eines bösen Lächelns. „Das ist lange her. Zwölf Jahre jetzt.“

Freddie rieb sich die Augen. Er schien alles nur noch verschwommen zu sehen, und das Dröhnen in seinem Kopf wurde lauter. Es schien ihm unbegreiflich, dass India, die so mild und freundlich gewesen war, in irgendeiner Weise mit diesem Mann bekannt gewesen sein sollte, aus dessen Poren das Böse wie Schweiß hervorzukommen schien.

„Ich verstehe nicht“, sagte Freddie.

„Sie verstehen nie“, erwiderte Warwick mit demselben Lächeln. „Wie, glauben Sie, habe ich überhaupt von Ihnen und Ihrem Vater und Ihrem gefährlich ausschweifenden Lebenswandel gehört?“ Er zuckte die Achseln. „Es spielt keine Rolle. Es gibt etwas, was ich von Ihnen verlange, Standish.“

Bei dem gebieterischen Ton straffte Freddie sich unwillkürlich.

„Ich wünsche unverzüglich zu erfahren, sobald der Earl oder die Countess of Stockhaven beabsichtigen, nach Salterton zu reisen. Und mit ‚unverzüglich‘ meine ich eine Stunde, nicht zwei Tage danach. Haben Sie verstanden?“

Freddie nickte verwirrt. Das Gefühl von Angst, das jeden seiner Schritte verfolgt hatte, ließ etwas nach. Dieser Auftrag schien harmlos. Nur eine Information. Die konnte er beschaffen.

„Ist das alles?“, fragte er ein wenig zu eifrig.

Warwick nickte. „Für den Augenblick ist das alles. Sie können gehen.“ In seiner Stimme schwang eine Spur Belustigung mit.

Freddie brauchte keine nochmalige Aufforderung zum Gehen. Erst vor dem Modegeschäft unten blieb er kurz stehen, ein schwacher Parfümduft wehte zu ihm heraus. Die Sonne schien, und die Luft war frisch und klar. Freddie war ziemlich sicher, dass er jetzt durchaus etwas essen könnte, weil er sich keine Sorgen zu machen brauchte.

Er gönnte sich eine herzhafte Mahlzeit und begab sich fröhlich auf den Heimweg.

Pen war ausgegangen.

Freddie hatte etwas in seinem Sessel geruht, als er Pen zurückkommen hörte.

Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie ihren Bruder sah.

„Freddie! Ich habe dich erst heute Abend zurückerwartet. Wie ist deine Angelegenheit gelaufen?“

„Gut“, murmelte er. Er nahm die Gelegenheit wahr, seine Nachforschungen anzustellen und fragte beiläufig: „Wie geht es Bella?“

Pen löste die Hutnadeln und warf den Hut auf den Tisch neben der Tür. Zwischen ihren Brauen erschien eine kleine Falte.

„Bella ist nach Salterton abgereist“, sagte sie. „Vielleicht erinnerst du dich daran, dass sie während der letzten paar Wochen davon gesprochen hat.“

Hatte sie? Freddie dachte nach. Er erinnerte sich vage an die Bemerkung Isabellas, dass sie gern ein ruhiges Leben am Meer führen würde, und auch an seine Erwiderung, wie unglaublich langweilig Dorset sei. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Abreise unmittelbar bevorstand.

Pen redete immer noch.

„Offenbar ist sie heute Morgen abgereist. Sie muss in einer fürchterlichen Eile gewesen sein.“ Sie runzelte die Stirn. „Wir hatten verabredet, heute eine Ausstellung zu besuchen. Aber Bella scheint das völlig vergessen zu haben.“

Kalte Angst griff an Freddies Herz. Er rannte die Treppe so hastig hinunter, dass er stolperte und fast hinfiel. Im Davonstürmen hörte er noch Pens entsetzten Ausruf: „Freddie? Freddie!“

Doch er achtete nicht darauf. Der Tag, der erst einige Stunden vorher so vielversprechend gewesen war, sah jetzt ziemlich düster aus. Was hatte Warwick gesagt?

Und mit „unverzüglich“ meine ich eine Stunde.

Es war schon einige Stunden her, seit Isabella London verlassen hatte.

Dieses Mal nahm Freddie eine Droschke zur Wigmore Street – ohne Rücksicht auf die Kosten.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie habe kommen lassen, Mr. Cantrell“, sagte Penelope Standish. „Aber ich fürchte, ich wusste nicht, wen ich sonst um Hilfe bitten könnte.“ Sie drückte die Hände an die Schläfen. „Das ist alles so ungewöhnlich! Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen …“

„Miss Standish“, antwortete Alistair und zog Pen neben sich auf das Sofa. „Ich versichere Ihnen, nichts könnte die Hochachtung, die ich für Sie empfinde, schmälern. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Pens Gesicht hellte sich auf. Sie hatte Alistair genau deshalb kommen lassen, weil er in allen Angelegenheiten das Richtige zu tun wusste. Auf ihn konnte sie sich verlassen. Sie sah auf seine Hand, die die ihre umfasst hielt, und spürte urplötzlich das Verlangen, umsorgt und beschützt, vor allem aber leidenschaftlich begehrt zu werden. Stattdessen tätschelte Alistair aufmunternd ihre Hand und ließ sie dann los. Pen seufzte.

„Meiner Familie scheinen die außerordentlichsten Dinge zuzustoßen!“, rief sie aus. „Bella und ich hatten vor, heute Morgen eine Ausstellung in der Royal Academy zu besuchen.“

Sie wartete einen Augenblick, ob er etwas erwidern würde. Dann fuhr sie fort: „Als ich im Brunswick Gardens ankam, fand ich eine Nachricht von Bella vor, in der sie mir mitteilte, dass sie gestern nach Salterton abgereist ist. Ich weiß wohl, dass sie in letzter Zeit oft davon gesprochen hat, hatte aber nicht gedacht, dass sie das so schnell tun würde! Ich mache mir Sorgen darüber, was sie wohl dazu veranlasst hat …“ Sie sah Alistair an und spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. „Wissen Sie, ob Lord Stockhaven sie begleitet hat? Die Nachricht legte nahe, dass sie allein gegangen war, aber ich dachte nur …“ Pen hielt inne, und eine kleine Falte erschien zwischen ihren Brauen.

„Ich weiß, dass Marcus Ihrer Schwester möglichst bald nachreisen wollte“, antwortete Alistair taktvoll. „Vielleicht hat er sie sogar auf dem Weg dorthin eingeholt. Sie sollten sich keine Sorgen machen, Miss Standish. Es geht ihr sicher gut.“

Pens Gesichtsausdruck wurde düsterer. „Dann ist sie also ohne Marcus gegangen? Wie seltsam! Ich verstehe die beiden überhaupt nicht, Mr. Cantrell.“

Sie sah, wie Alistairs Lippen zuckten. „Sie scheinen ein … nun ja, recht kompliziertes Verhältnis zueinander zu haben.“

Auf diese diplomatische Antwort hin sah sie ihn halb verärgert und halb resigniert an. Mr. Alistair Cantrell war das vollkommene Muster eines anständigen und korrekten Gentlemans. Pen hatte keine Ahnung, woher sie den Wunsch hatte, dass er weniger anständig und korrekt wäre. Das Beste war, sich diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen und sich auf das anstehende Problem zu konzentrieren. Sie presste die Finger zusammen.

„Wenn das meine einzige Sorge wäre, dann könnte ich beruhigt sein“, fuhr sie fort. „Aber als ich vom Brunswick Gardens zurückkam und meinen Bruder von Isabellas Abreise in Kenntnis setzte, verschwand er. Und jetzt tischt er mir die Lügengeschichte auf, dass er auch nach Salterton abgereist sei!“ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wobei einige Nadeln auf den Teppich fielen. „Er ist aber gar nicht zum Packen zurückgekommen. Und glauben Sie mir, Mr. Cantrell, Freddie reist nie ohne seinen Kammerdiener, geschweige denn ohne Kleidung zum Wechseln. Ich glaube sogar, dass er ohne Hilfe nicht einmal seine Stiefel ausziehen könnte!“

Alistair schaute das wunderbare Wesen neben sich an – mit den erschrockenen blauen Augen und dem aufgelösten blonden Haar – und verspürte den Wunsch, Pen in die Arme zu nehmen und zu trösten. Er hielt es für recht verantwortungslos von Freddie Standish, dass er ständige Überwachung brauchte statt seine Schwester zu beschützen. Alistair verschränkte die Arme, um Pen nicht zu berühren.

„Ich muss selbst nach Salterton reisen“, sagte sie abschließend. Sie sprang auf. „Ich kann nicht einfach hier sitzen und warten, was passiert!“

„Und alle, des trockenen Landes überdrüssig, sind sich einig darin, sich ins Meer zu stürzen“, murmelte Alistair.

Pen starrte ihn an. „Wie bitte, Mr. Cantrell?“

Alistair errötete. „Aus einem Gedicht, Miss Standish. Ich zitierte Cowper.“

Pen hob die Augenbrauen. „Jetzt ist nicht die Zeit, Gedichte zu reklamieren, Mr. Cantrell. Was soll ich tun?“

Alistair kehrte auf den Boden der Tatsachen zurück. „Mir erscheint es ganz eindeutig, Miss Standish, dass Sie nach Salterton reisen müssen und dass ich Sie begleiten muss.“

Obwohl Pen sich genau diesen Vorschlag von ihm ersehnt hatte, war sie auf unerklärliche Weise enttäuscht. Alles hatte sich ohne die geringste Spur von Romantik abgespielt – wenn man einmal von Mr. Cantrells zweifelhaftem Zitat absah, das man aber ohnehin kaum als romantisch ansehen konnte.

„Danke“, sagte Pen. „Ich bin sehr dankbar für Ihre Begleitung.“

Alistair lächelte. „Ausgezeichnet. Ich sorge für den Transport und packe einige Sachen. Dann bin ich in einer Stunde zurück.“ Er stand auf. „Reicht die Zeit für Ihre Vorbereitungen, Miss Standish?“

„Vollkommen, danke“, antwortete Pen. „Ich gehöre nicht zu den Frauen, die Ewigkeiten brauchen, bis sie das passende Kleid ausgesucht haben.“

Bei seinem gewinnenden Lächeln spürte Pen, wie ihr Herzschlag schneller wurde. „Nein“, sagte er, „zu den Frauen gehören Sie sicher nicht.“ Er deutete eine Verbeugung an und war dabei, den Raum zu verlassen, als Pen ihn zurückhielt.

„Mr. Cantrell, einen Augenblick bitte …“

Alistair blieb stehen.

„Ich habe keine Anstandsdame“, sagte sie mit fliegendem Atem. „Es schickt sich nicht, allein mit Ihnen in einem geschlossenen Wagen zu reisen, Mr. Cantrell.“

„Ich werde dafür sorgen, dass ein Dienstmädchen uns begleitet, Miss Standish“, entgegnete er. „Das ist kein Problem. Sie werden sich in weiblicher Begleitung sicherlich wohler fühlen.“

„Ja“, antwortete sie etwas mürrisch. „Bestimmt. Ich gebe es ungern zu, aber ich kann mir ein Dienstmädchen nicht leisten.“

„Ich auch nicht“, sagte er. „Wir werden ein Mädchen engagieren und uns dann an Stockhaven wenden, sobald wir auf Salterton angekommen sind. Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Standish. Sie können sich darauf verlassen, dass ich mich wie ein Gentleman verhalten werde.“

„Ja“, antwortete sie mit einem Seufzer, in dem Verärgerung und unerfülltes Verlangen zum Ausdruck kamen. „Das kann ich bestimmt.“