18. KAPITEL
Isabella hatte eine Ewigkeit gewartet, wie ihr schien. Sie hatte gehört, wie Mrs. Lawton Freddie zu seinem Zimmer führte und wie sich die Diener mit verschiedenen Gepäckstücken die Treppe hinaufquälten. Schließlich vernahm Isabella Stimmen im Flur. Marcus und Alistair verabschiedeten sich mit einem kurzen Gutenachtwunsch. Dann wurde die Tür von Marcus’ Schlafgemach leise geschlossen. Sie wartete immer noch. Erst nach einer Weile kam der Kammerdiener heraus, und das Haus war endlich still. Zur Vorsicht wartete sie noch einige Minuten, bevor sie mit einer raschen, unruhigen Bewegung ihren Morgenmantel überwarf und leise auf den Treppenabsatz trat. Sie hätte sonst die Verbindungstür benutzt, aber sie hatte keinen Schlüssel dafür, und es erschien ihr in diesem Augenblick recht unpassend, an der Tür zu klopfen, bis Marcus sie öffnete.
Freddie und Edward Warwick. Der Gedanke daran bereitete ihr richtige Übelkeit, aber sie konnte ihn nicht aus ihrem Kopf verdrängen. Isabella war nicht ganz sicher, wie sie vorgehen sollte. Marcus hatte sich in der Verfolgung von Warwick unerbittlich gezeigt, und sie wollte nicht, dass Freddie gejagt, bedroht und gedemütigt wurde. Wie Pen hatte auch sie eine tiefe Zuneigung zu ihrem unglücklichen Bruder, wenngleich er sie oft zur Verzweiflung brachte. Isabella hielt es für besser, selbst mit ihm zu sprechen, als ihren Mann wissen zu lassen, dass Freddie in Warwicks Geschäfte verwickelt war. Gleichzeitig hatte sie aber das Gefühl, dass sie Marcus gegenüber illoyal handelte, wenn sie ihm nicht sagte, was sie wusste. Die ganze Sache brachte sie in einen tiefen Zwiespalt.
Einen Augenblick lang hielt sie auf dem Treppenabsatz inne, klopfte dann an Marcus’ Tür und ging hinein. Marcus sah mit unverhüllter Überraschung auf. Er saß im Bett, hatte eine Anzahl von Papieren auf der Bettdecke liegen und einen Bleistift in der Hand. Isabella sah, dass er etwas skizziert hatte. Das Buch über theoretische Schiffsarchitektur lag neben ihm auf dem Nachttischchen.
Isabella vermutete auch, dass er unter den Decken nackt war, auf jeden Fall war sein Oberkörper bloß. Plötzlich bemerkte sie, wie ihre Gedanken ein wenig von Freddies Schwierigkeiten abzuschweifen drohten, und holte tief Luft, um sich zur Ordnung zu rufen.
„Arbeit“, sagte er und legte mit einem entschuldigenden Lächeln die Papiere zusammen. „Ich stelle fest, dass sie mir hilft, mich von gewissen Problemen abzulenken. Was kann ich für dich tun, Isabella? Ich habe gar nicht erwartet, dich heute Abend noch zu sehen. Ist alles in Ordnung?“
Isabella zögerte. Sie setzte sich auf die Bettkante, wobei sie darauf achtete, dass sie einen schicklichen Abstand zu ihm einhielt. Die Situation kam ihr etwas unbehaglich vor. Sie strich nervös über den Rand der Bettdecke.
„Es geht um Freddie“, brachte sie dann recht abgehackt heraus. „Ich glaube … das heißt, Pen hat gesagt … dass er irgendwie mit Edward Warwick zu tun hat.“
Marcus musterte sie genau. „Hat Pen dir das heute Abend gesagt?“
„Ja, natürlich.“ Isabella fühlte sich erleichtert und gleichzeitig schuldig. In Marcus’ Augen bemerkte sie etwas Fremdes und Nachdenkliches. „Freddie hat Schulden und …“ Sie hielt inne und sah ihn vorwurfsvoll an. „Marcus! Du hast das gewusst!“
Er verzog das Gesicht. „Bitte sprich nicht so laut, Bella. Es stimmt, dass Alistair und ich vermuteten, dass Freddie irgendwie in Geschäfte mit Warwick verwickelt ist, aber wir wussten es nicht genau.“
„Deshalb ist Mr. Cantrell hier“, sagte sie und fror plötzlich. „Und deshalb ist auch Freddie hier.“ Sie zitterte nun sehr. „Was geht eigentlich vor, Marcus?“
„Ich weiß es nicht.“ Er schlug die Bettdecke zurück und zog seine Frau zu sich in die Wärme. Isabella widersetzte sich nicht, sondern kuschelte sich eng an ihn. Er legte seinen Arm um sie, und ihr Kopf lag auf seiner Brust. „Ich glaube, dass Warwick hier in Salterton ist, aber bis jetzt weiß ich noch nichts Genaues. Die Ankunft deines Bruders stellt eine interessante Entwicklung der Angelegenheit dar.“
„Du wirst Freddie nicht wehtun, nicht wahr?“, fragte sie mit leiser Stimme, beugte den Kopf nach hinten und sah ihn an.
Er musste lachen. „Du liebe Zeit, Bella, hältst du mich für mittelalterlich? Ich schwöre dir, dass ich doch meinem eigenen Schwager nicht wehtun werde.“ Dann sprach er ernster weiter: „Ich weiß nicht, worauf Freddie sich eingelassen hat, denke aber, dass es so schlimm nicht sein kann. Er ist kaum ein hartgesottener Krimineller.“
„Nein“, stimmte sie zu. Geistesabwesend rieb sie ihre Wange an seiner Brust, merkte es erst, als sie seine feinen Härchen dort auf ihrer weichen Wange spürte. „Ich glaube, er ist in irgendetwas hineingeraten und kann nicht mehr heraus. Glücksspiele und Schulden …“
„Und das Einholen von Informationen“, ergänzte Marcus, und in seinem Ton war eine gewisse Härte. Er drehte sich zu ihr und küsste sie auf Wange. „Fühlst du dich jetzt etwas besser, Bella?“
„Ja“, sagte sie. „Ich bin froh, dass ich es dir gesagt habe.“
Er zog sie noch näher an sich und drückte eine Reihe zarter Küsse auf ihre Wange.
„Ich bin auch froh“, sagte er leise. „Ich glaube, du hast angefangen, mir ein wenig zu vertrauen.“
Seine Lippen suchten die ihren, und Isabella wandte sich ihm zu, suchte in ihrer Verzweiflung Trost und wollte ihre Seele von der Kälte befreien. Sie verlangte begierig nach seinen Küssen, drückte sich an ihn, um das Dunkel in ihrem Inneren zu vertreiben. Doch die Gedanken holten sie immer wieder ein: Freddie, India und Ernest … zogen wie Gespenster durch ihren Sinn und lenkten sie ab von Marcus’ Liebkosungen, sodass sie gar nichts fühlte. Obwohl sie sich danach sehnte, konnte sie mit ihrem Mann jetzt nicht zusammen sein. Sie verlor jede Hoffnung.
„Bella?“ Marcus zog sich von ihr zurück. Er entzündete ein Licht.
„Es tut mir leid“, sagte Isabella traurig. „Zu viele Dinge sind in meinen Gedanken.“
„Woran hast du gedacht?“, fragte er in einem Ton, den Isabella nicht deuten konnte. Er rückte noch weiter weg, und sie hatte das Gefühl, dass er sich auch gefühlsmäßig von ihr entfernte. Das ließ sie kalt erschauern. Sollte das immer so sein – dass die Geister der Vergangenheit alles zwischen ihnen zerstörten? Ein unerträglicher Gedanke.
Isabella verdeckte ihr Gesicht mit den Händen. „An die Vergangenheit“, antwortete sie dann. „Es tut mir leid, Marcus. Ich dachte, ich könnte es. Ich wollte es so gern. Ich wollte dich sogar verführen.“
Ihren Worten folgte ein trübes Schweigen. Scham und Mutlosigkeit pressten ihr das Herz zusammen. Dann hörte sie Marcus seufzen.
„Bella.“ Seine Stimme hörte sich jetzt zart und mitfühlend an. „Sag mir, woran du gedacht hast. Sonst werden wir all das nie hinter uns lassen können.“
„Marcus …“, ein Schauder ergriff sie. Das Letzte, was sie wollte, war, alte Liebesabenteuer aufleben zu lassen.
„Sag es mir, Bella.“ Er sprach leise, aber eindringlich. „Damit ich es verstehen kann – ich muss es verstehen.“ Dann, als sie noch immer schwieg, fügte er mit rauer Stimme hinzu: „Hat er dir wehgetan?“
„Ernest?“, fragte sie und setzte sich auf, zog ihre Knie an das Kinn und hüllte die Bettdecke um sich. Sie wollte nicht, dass Marcus sie halb nackt sah. Sie fühlte sich schon genügend bloßgestellt.
„Nein, er hat mir nicht wehgetan“, fuhr sie fort. „Nicht in dem Sinn, den du meinst.“ Sie sah auf und blickte Marcus gerade in die Augen. „Ich habe ihm schon sehr früh in unserer Ehe klargemacht, dass ich bei seinen Perversitäten nicht mitmachen würde. Danach belästigte er mich nur selten.“
„Es gibt mehr als nur eine Art, jemandem wehzutun“, antwortete er.
Ihre Blicke ruhten ineinander. Bei dem Kerzenlicht waren Marcus’ Augen sehr dunkel. Isabella musste schlucken, als sie ihn ansah. Sie liebte ihn inzwischen so sehr, dass der Gedanke, sie könnte ihn verlieren, wie ein Messer in ihr Herz stach. Wieder einmal hatte sie sich entgegen ihrer besten Absichten verletzbar gemacht.
„Das stimmt“, sagte sie nach einer Weile. „Auf eine andere Art hat er mir jeden Tag wehgetan mit seiner Grausamkeit, seiner Gleichgültigkeit und seiner Gehässigkeit.“
„Du hast dir dann andere Liebhaber gesucht“, sagte er mit ausdruckslosem Gesicht. „Erzähle mir davon.“
Isabella holte tief Atem, und ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie schlang die Arme fest um ihre Knie.
„Nach Emmas Tod wandte ich mich Heinrich von Trier zu“, sagte sie. „Ich suchte verzweifelt nach Zuneigung und ließ mich deswegen mit ihm ein. Aber er war nur auf Abenteuer aus.“ Isabella presste ihre Finger gegen die Schläfen. Ihre Leidenschaft für Heinrich von Trier war schon vor vielen Jahren erkaltet, und sie hatte sie schnell als eine bloße Vernarrtheit erkannt. Aber zu der Zeit, so bald nach Emmas Tod, fühlte sie sich vom Schicksal doppelt verraten. „Sobald er das, was er wollte, bekommen hatte und damit prahlen konnte, war er nicht mehr interessiert“, fuhr sie fort und legte die Hand an ihre vor Verlegenheit brennende Wange. „Es war genauso erbärmlich wie es klingt.“
Marcus zog ihr die Hand vom Gesicht und hielt sie fest. „Ich könnte den Kerl umbringen.“
Sie wich seinem Blick aus. „Keine Sorge, das haben schon die Franzosen für dich erledigt.“
„Ein kleiner Trost“, sagte er scheinbar gelassen, auch wenn er ihre Hand so heftig drückte, dass es wehtat. „Hast du ihn wirklich geliebt?“
„Das dachte ich damals zumindest. Aber …“ Isabella zögerte. Es erschien ihr wie ein fürchterlicher Verrat, ausgerechnet mit dem Mann über einen abgelegten Liebhaber zu sprechen, dem immer ihr Herz gehört hatte. „Marcus, es tut mir leid.“
„Sag das nicht“, fuhr er sie an, und sie zuckte vor dem plötzlichen Feuer in seinen Augen zurück. „Natürlich bin ich wütend. Wütend und eifersüchtig, das kann ich nicht leugnen. Trotzdem … ich kann dich gut verstehen. Du warst einsam und unglücklich, und nur auf der Suche nach etwas Beistand.“
Es trat eine schmerzhafte Stille ein. Isabella wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Marcus seufzte.
„Und die übrigen?“, fragte er, und seine Stimme klang jetzt müde.
Einen Augenblick lang verstand Isabella nicht, was er meinte. Dann hob sie die Hand in einer abwehrenden Geste. „Es gab keine anderen. Reicht das nicht?“
Er sah sie ungläubig an. „Aber … es müssen noch andere gewesen sein! Ich habe gehört …“ Er ließ den Satz unvollendet und starrte sie an.
Sie war dem Lachen nahe. Zuerst hatte sie bei ihrem Mann im Bett versagt, dann hatte sie ihren früheren Liebhaber mit ihm diskutiert, und jetzt konnte er kaum glauben, dass sie nicht die Lebedame war, für die alle sie hielten.
„Du hast auf Klatsch gehört, Marcus“, sagte sie. „Das ist alles.“
Er lehnte sich etwas zurück und sah sie prüfend an. „Von Trier? Er war der Einzige? Aber …“
„Geflirtet habe ich schon.“ Isabella zeichnete mit der Hand ein Muster auf die Bettdecke. „Es war ein Zeitvertreib.“
„Nur warum …“ Marcus ereiferte sich jetzt mehr und mehr, und Zorn blitzte aus seinen Augen. „Warum lässt du zu, dass die Leute so über dich reden?“ Er fasste sie mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte sie. „Die Liebhaber und die Skandale … Gibt es irgendetwas, was man nicht über dich gesagt hat?“
„Ich bin nicht sicher“, antwortete sie ruhig. „Ich versuche stets, nicht hinzuhören.“
Marcus’ Augen waren jetzt fast rot unterlaufen vor Zorn.„Warum hast du diesen ganzen Klatsch möglich gemacht? Warum hast du der Mätresse deines Mannes erlaubt, der Beerdigung beizuwohnen, sodass alle Welt glauben musste, ihr lebtet in einer bequemen ménage à trois?“
Isabella hatte plötzlich das Gefühl, sie sei viel älter und weiser als er. „Lieber Marcus“, sagte sie wehmütig, „mein Leben mit Ernest war so erbärmlich und elend, dass ich für wenig Frieden fast alles getan hätte. Madame de Coulanges machte Ernest glücklich.“ Sie sah ihn leicht belustigt an. „Sie hat ihn mir vom Hals gehalten, und das war viel wert. Aus dem Grunde war ich der Meinung, dass sie es verdiente, in Würde Abschied von ihm zu nehmen.“
Damit rutschte sie an die Bettkante. „Ich werde dich jetzt verlassen. Es tut mir leid, dass die Dinge sich heute so entwickelt haben.“
„Bleib.“ Er hielt sie fest, als sie unter der Bettdecke hervorkommen wollte, und zog sie neben sich. „Leg dich hin.“ Er sprach jetzt ruhig, fast zart. „Du siehst erschöpft aus. Du hast mir viel gesagt, über das ich nachdenken muss, Bella. Aber ich möchte nicht, dass du mich jetzt verlässt.“
Wenigstens nannte er sie noch „Bella“. Das war ein Trost, denn es zeugte von einer Vertrautheit, die sie beide erreicht und offenbar nicht verloren hatten. Plötzlich verspürte sie große Erleichterung. Der Schatten Indias war zwar immer noch gegenwärtig, aber Isabella war voller Hoffnung. Eines Tages würde sie über seine erste Frau reden und die Wahrheit von Marcus erfahren.
Isabella legte sich gehorsam hin und ließ es zu, dass er sie eng an sich heranzog. Sie versuchte, sich vorzustellen, was er jetzt dachte und fühlte, aber schon die Wärme seines Körpers war für sie tröstlich und beruhigend, sodass sie bald einschlafen würde. Sie drehte ihr Gesicht näher an seinen Nacken und atmete den Duft seiner Haut ein. Wie immer war dieser Duft vertraut und genau richtig. Es war ein merkwürdiges, aber beruhigendes Gefühl. Nach und nach wuchs das Vertrauen zwischen ihnen.
Marcus wusste genau, wann Isabella einschlief. Ihr Atem wurde ruhiger, und ihr Körper lag weich und entspannt in seinen Armen. Er rückte zu ihr, um sie noch näher an sich zu ziehen, hüllte sie sorgsam in die Bettdecke und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie sah so reizend, jung und schön aus. Dennoch fühlte er etwas wie Verzweiflung.
So hatte er sich das Ende des Abends nicht vorgestellt. Dieses Resultat war genau das Gegenteil von dem, was er sich erhofft hatte, als sie in sein Schlafgemach getreten war und mit einem solchen Verlangen und einer so willkommenen Herausforderung in sein Bett kam. Hier zu liegen, sie so zart mit seinen Armen schützend zu umfassen, und dennoch so unwürdige Gefühle wie Zorn, Eifersucht und Groll zu empfinden, all das war außerordentlich. Verzweifelt fragte er sich, ob es ihm jemals gelingen könnte, diese Eifersucht zu überwinden.
Es war Marcus sehr bewusst, wie ungerecht er war. Er hatte so manche Frau gehabt, die ohne Liebe und nur zum beiderseitigen Vergnügen sein Bett geteilt hatte – und doch ärgerte er sich darüber, dass Isabella sich einem einzigen Mann in der Ehe und einem anderen in Liebe hingegeben hatte. Aber das war eben sein Gefühl. Sie hätte allein ihm gehören sollen.
Was sie betraf, so war er ihr gegenüber immer sehr besitzergreifend gewesen. Nie hatte er dies bei irgendjemand anders empfunden, am allerwenigsten bei seiner ersten Frau. Seine Gefühle für India waren vielschichtig und schuldbeladen, aber er hatte bei ihr nie auch nur einen Bruchteil des heißen Verlangens gespürt wie bei Isabella.
Er versuchte, die ganze Angelegenheit aus seinen Gedanken zu verbannen. Er konnte ja am folgenden Tag weiter darüber grübeln. Wenn er Isabella wollte – und er wollte sie immer noch –, dann würde er für immer mit diesem Gefühlswirrwarr leben müssen. Er musste einen Weg finden, damit er das konnte.
Marcus stand auf, als die Morgendämmerung den Himmel und sein Schlafgemach zu erhellen begann. Er hatte nur wenig geschlafen und fühlte sich erschöpft. Er wusste, dass Isabella sich beim Erwachen an alles erinnern würde. Sie würde reden wollen, aber gerade jetzt war er nicht dazu in der Lage. Auf eine ihm selbst unerklärliche Weise empfand er immer noch Groll darüber, dass sie einmal einen Liebhaber gehabt hatte. Als er aus dem warmen Bett stieg, hatte er das elende Gefühl, ein Verräter zu sein.
Hastig kleidete er sich an, ging die Treppe hinunter und verließ das Haus, um einen klaren Kopf zu bekommen. Am Strand angelangt, schlug er die Richtung zu den Kinvara-Klippen ein. Das Geräusch der Wellen beruhigte ihn, tief atmete er die Luft ein, die würzig nach Salz und Ginster roch. Er verdrängte alle Zweifel und Ängste, hob das Gesicht der Sonne entgegen und genoss das Gefühl des weichen Sandes unter seinen Füßen.
Erst als er wohlig erschöpft war und sein Herz voll neuer Hoffnung, kehrte er nach Salterton Hall zurück. Hungrig machte er sich auf den Weg in den Speisesaal. In der Türöffnung hielt er jedoch plötzlich inne.
Isabella saß in einem dunkelblauen Reitanzug am Tisch. Ihr Gesicht war sehr blass, das Haar war straff geflochten, und ihr Gesichtsausdruck verriet keine Gemütsbewegung. Marcus sah sofort, dass sie sich von ihm zurückgezogen hatte – genauso wie er von ihr. Nachdem sie gesehen hatte, dass er nicht mehr da war, musste sie angenommen haben, dass er ihr die Enthüllungen der letzten Nacht nicht verziehen hatte. Marcus fühlte sich hilflos. Er wusste, dass er versuchen sollte, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, ehe sie noch breiter wurde und ihnen alles, was sie aufgebaut hatten, entglitt. Aber er konnte es nicht. Etwas in ihm wollte es auch gar nicht. Marcus spürte, dass er wirklich noch wütend war und besitzergreifende Eifersucht in sich trug – all diese hässlichen Gefühle, der er auch sich selbst gegenüber nicht zugeben wollte. Er überlegte, ob ihm noch die Gelegenheit zur Flucht blieb.
Einen Augenblick danach war es zu spät, als Isabella sich in einem Ton höflicher Gleichgültigkeit nach seinem Morgenspaziergang erkundigte.
Sie nahmen schweigend ihr Frühstück ein. Marcus schrak vor dem Gedanken zurück, dass vertraute Zweisamkeit in ihrem Eheleben, wenn überhaupt, dann nur als höfliche Fassade erreicht werden könnte. So war nämlich seine Ehe mit India verlaufen. Die Beziehung beruhte nicht auf wirklicher Nähe. Und jetzt war er dabei, all das genauso wieder zu leben.
„Würdest du gern heute Morgen mit mir ausreiten?“ Seine Worte überraschten ihn fast genauso, wie sie offenbar Isabella überraschten. Marcus war gar nicht sicher, was ihn zu dieser Frage veranlasst hatte. Es war wohl ein verzweifelter Drang, alles zurechtzurücken, ehe irgendetwas anderes zwischen ihnen fehlschlug.
Isabella sah auf, und in ihr Gesicht kam wieder etwas Farbe. Sie freute sich, stellte er fest und fühlte sich prompt schäbig. Er wusste, dass er Isabella für seine eigene Eifersucht bestrafte, und versuchte mit aller Macht, einen Ausweg zu finden.
Also zwang er sich zu einem Lächeln. „Wir könnten den Weg zu den Kinvara-Klippen hinaufreiten. Du hast die Aussicht von dort oben immer so gern gehabt.“
Trotz seiner Anstrengungen kamen seine Worte gestelzt heraus, was Isabella nicht entging. Der glückliche Ausdruck in ihrem Blick wurde etwas blasser, als sie zustimmend nickte.
„Ja, das würde ich gern tun. Wir können uns in zwanzig Minuten bei den Ställen treffen.“
Marcus leerte seine Kaffeetasse und stellte bittere Betrachtungen darüber an, wie glatt und oberflächlich das Leben ohne ein wirkliches Gespräch zwischen Isabella und ihm verlaufen könnte. Zweifellos würde er das in Zukunft noch oft erleben können.
Unten in den Ställen konnten sie die Atmosphäre der Anspannung zwischen ihnen wenigstens dadurch überdecken, dass sie sich intensiv mit den Pferden beschäftigten. Dann ritten sie aus dem Hof hinaus, den Pfad hinauf zu den Dünen und weiter bis oben auf die Klippen. Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen, während die Pferde vorsichtig ihren Weg über das elastisch federnde Gras suchten. Marcus wusste, dass Isabella darauf wartete, ob er auf das Gespräch der vergangenen Nacht zurückkam oder andeutete, dass man es nicht mehr berühren würde. Er war verärgert, doch was konnte er sagen? Ich ärgere mich über die Tatsache, dass du Ernest Di Cassilis geheiratet hast, und noch mehr darüber, dass du mit Heinrich von Trier geschlafen hast, und ich bin geradezu wütend über dein Flirten mit all den anderen Männern, die deinen Namen so in den Schmutz ziehen. Marcus presste die Lippen zusammen. So sollte es aber nicht sein.
Isabellas Gesicht unter dem Hut war ernst, und sie wich Marcus’ Blick aus. Die Anspannung zwischen ihnen wurde stärker, und er hatte das Gefühl, dass sie sich im nächsten Augenblick in Enttäuschung und Zorn entladen musste.
„Ich will mit dir um die Wette reiten“, sagte er. „Bis zur Kapelle?“
Isabella sah ihn an, und ihre Augen leuchteten plötzlich auf. Sie bemerkte die zornige Herausforderung in seinem Blick und verstand genau, was er jetzt dachte. Ohne eine Antwort zu geben, presste sie die Sporen in Asters Flanken und ließ dem Tier freien Lauf. Damit ließ sie Marcus zurück, der ihre Gestalt wie im Flug davongaloppieren sah.
Er wendete Achilles und folgte Isabella. Dabei drängte er die ganze Wut, die Bitterkeit und das Misstrauen aus seinem Körper heraus, während sie beide über die Heide- und Grasflächen schier atemlos dahindonnerten. Lange Zeit gab es nur das dumpfe Hufgetrappel der Pferde auf dem Gras, die frische Brise in seinem Gesicht, eine seltsame Hochstimmung in seinem Inneren und den Vorsprung Isabellas, der sein Blut in Wallung geraten ließ.
Sie war jetzt nur noch einige Yards vor ihm, und die Steinmauer, die die Kapelle umgab und das Ziel des Wettrennens darstellte, kam schnell näher. Isabella zügelte Aster so stark, dass das Pferd sich fast aufbäumte. Die Hufe knirschten über den Boden, und Ross und Reiterin kamen wenige Fuß vor den Mauern des Kirchhofs zum völligen Stillstand. Kurz darauf kam Marcus neben ihr an.
„Du hast gewonnen“, sagte er. „Ich dachte, ich würde dich noch einholen.“ Er hielt inne.
Isabella sah ihn nicht an. Es schien fast, als hätte sie ihn gar nicht einmal gehört. Sie starrte über die Kirchhofsmauer, wo eine schweigende Prozession von Leuten auf die Tür der kleinen Kapelle zuschritt und einen winzigen hölzernen Sarg trug. Isabella stieß einen unterdrückten Schrei aus und bedeckte ihren Mund mit den Händen. Unvermittelt griff sie in Asters Zügel, wendete das Pferd und war bald zwischen den Bäumen am Rande des Bergrückens verschwunden, ehe Marcus sich überhaupt rühren konnte.
Er starrte auf die Kirchentür, die sich hinter dem Leichenzug schloss. Es war ein Kinderbegräbnis.
Von Kindern wusste Marcus nichts. Er hatte mit India eine Familie haben wollen, allerdings nur mit dem Ziel, die Erbfolge zu sichern. Tiefer waren seine Gefühle nicht gegangen. Er hatte keine Vorstellung davon, ein Kind zu lieben und es dann zu verlieren, keine Ahnung von den Wunden, mit denen das Leben eines Menschen dadurch geschlagen wurde. Aber er hatte Einfühlungsvermögen.
Er gab Achilles die Sporen, dass das Tier in Galopp verfiel. Zwar hatte er keine Ahnung davon, wohin Isabella geritten war oder ob sie überhaupt anhalten würde, doch er wusste, er musste sie finden.
Am Ende war es nicht schwierig. Er fand sie am Rande der Klippen, auf einem feuchten Steinhaufen in den Ruinen des alten Leuchtturms. Draußen tat Aster sich am Gras gütlich. Isabella hatte nicht versucht, sich zu verstecken. Sie hatte nur Zuflucht genommen. Er hatte sie fragen wollen, wie es ihr ging, aber als er in ihr Gesicht blickte, erkannte er, dass es hier der Worte nicht bedurfte. Schweigend nahm er sie in die Arme und hielt sie fest, bis ihr Schluchzen nachgelassen hatte und sie ihren Kopf gegen seine Schulter lehnte. Dann barg sie, ohne nachzudenken oder zu zögern, ihr Gesicht an seiner Brust. Es rührte ihn in seinem Innersten an, dass sie sich ihm in ihrem Kummer anvertraute. Zart strich er ihr Haar von ihren erhitzten Wangen und spürte ihre Tränen auf seiner Haut.
„Das Kind“, sagte sie mit brüchiger Stimme, und Marcus zog sie noch näher an sich heran, so als ob er dadurch ihren Schmerz verbannen könnte.
„Es tut mir so leid“, sagte er leise. „Ich wünschte, ich könnte verstehen.“
Isabella schüttelte den Kopf und barg sich noch enger an ihn. „Ich will dich nicht verlieren, Marcus“, sagte sie. „Ich habe so viel verloren und bin so sehr verletzt worden. Ich könnte es nicht ertragen, wenn das noch einmal geschähe.“
Er drückte seine Lippen auf ihr Haar. „Das wird es nicht“, sagte er mit tröstender Stimme.
Es wurde ganz still in ihm, und er spürte, wie allmählich der Zorn, der Kummer und die Eifersucht dahinschmolzen. Und er erkannte, dass sie in allem, was wirklich von Bedeutung war, ihm gehörte – und dass sie ihm immer gehört hatte.