3. KAPITEL
Als Isabella siebzehn war, hatte sie davon geträumt, Marcus Stockhaven zu heiraten. Die tatsächliche Hochzeit mit ihm jedoch war nicht der Stoff, aus dem Träume gemacht werden. Um dem Anlass zu genügen, hatte Marcus zwei Schillinge an einen Mitgefangenen gezahlt, um sich ein sauberes Hemd auszuleihen. Aber es fand sich nicht einmal heißes Wasser zum Rasieren. Die Kapelle war düster, und kein Blumenschmuck hellte die Atmosphäre auf. Es gab keine Gäste und keinen Hochzeitstanz. Kurz, es war eine erbärmliche Angelegenheit.
Den Priester musste man mit Bestechung von seiner Weinbrandflasche weglocken. Auf die Sondergenehmigung schaute er nur mit mildem Interesse, mit weitaus größerem Eifer jedoch auf die fünfzig Guineen, die Isabella ihm für seine Mitwirkung anbot.
Marcus hingegen prüfte die Sondergenehmigung genau, während sie vor dem Altar in der Gefängniskapelle standen. Er hob die Brauen in leichtem Erstaunen.
„Wer ist Augustus Ambridge?“, fragte er, und eine Spur Schärfe war in seinem Ton. „Als Ihr zukünftiger Ehemann habe ich sicher das Recht, das zu erfahren.“
„Oh“, erwiderte Isabella in einiger Verwirrung. Sie hatte vergessen, dass sie den Namen eines Bräutigams hatte nennen müssen, um die Heiratslizenz überhaupt zu erhalten. Dabei hatte sie den ersten Namen gewählt, der ihr in den Sinn kam. Besagter Augustus Ambridge hatte in den zwei Jahren ihrer Witwenschaft um sie geworben. Seine Absichten waren jedoch keineswegs ernsthaft gewesen.
„Er ist … ein Freund“, antwortete sie dann.
Eine steile Falte erschien zwischen seinen Brauen. „Ein Freund? Aha.“
„Nicht die Art Freund, an die Sie denken“, erwiderte sie schnell. Sie hatte das Gefühl, sich irgendwie verteidigen zu müssen, obwohl sie ihm eigentlich keine Erklärung schuldete. Er sollte ja nur ihr abwesender Ehemann sein, und unter den gegebenen Umständen ging es ihn nichts an, wie sie sich verhielt. Außerdem konnte er ohnehin nichts ändern. Aber da war etwas in seinem ruhigen dunklen Blick, der sie zur Ehrlichkeit zwang.
Das war immer so gewesen, und dieses Gefühl bereitete ihr Unbehagen.
„Er ist nur ein Bekannter“, sagte sie. „Einer von vielen Bekannten.“
„Aha“, sagte er wieder, und Isabella biss sich auf die Zunge, um nicht in allen Einzelheiten erklären zu müssen, welcher Art die Beziehung war. Das entsprach nämlich nicht ihren Prinzipien. Niemals klagen und nichts erklären, das waren die Grundsätze der Aristokratie, die sie sich zu eigen gemacht hatte.
Sie blickte Marcus an und sah die harte Linie seines Mundes und den abweisenden Blick in seinen Augen. Dabei fragte sie sich, wie ein solcher Mann im Fleet-Gefängnis enden konnte. Wenn Ernest so etwas passiert wäre, dann hätte sie das überhaupt nicht überrascht. Ernest war schwach, Marcus jedoch stark; Marcus war einfühlsam und verständnisvoll, während Ernest niemals auch nur einen Funken Gefühl gezeigt hatte. Allerdings konnten zwölf Jahre manche Änderungen in einem Menschen bewirken. Sie durfte nicht vergessen, dass sie nicht wusste, wie er jetzt war.
Isabella glättete sorgsam ihren Umhang, um ihre Erregung zu verbergen und sich von dem Gedanken abzulenken, dass sie im Begriff war, einen sehr großen Fehler zu machen. Sie hatte lediglich vorgehabt, kurz zu heiraten und schnell wieder zu gehen. Dabei wollte sie ihrem Ehemann völlig fremd bleiben. Aber sie hatte ihre eigenen Regeln schon gebrochen, war bereits tiefer beteiligt, als sie es je vorhatte.
„Sie können sehen, dass ich den Namen meines Bekannten durchgestrichen habe“, sagte sie und wies auf das Dokument, um einen sachlichen Ton bemüht. Er durfte niemals merken, wie aufgewühlt sie war!
„Sodass ich meinen Namen einsetzen kann?“, fragte er und fügte mit finsterem Blick hinzu: „Das dürfte die Rechtmäßigkeit der Angelegenheit unterstreichen.“
Isabella entwand ihm das Dokument und händigte es dem Priester aus. „Das Dokument ist rechtlich einwandfrei, und für weitere hundert Pfund wird die Eheschließung ordnungsgemäß im Register eingetragen. Die Heiratsurkunde wird ausreichen, um meine Gläubiger zufriedenzustellen.“
Marcus nahm den Federhalter vom Tisch und schrieb seinen Namen über den von Augustus Ambridge auf die Lizenz. Obwohl dieser Name schon durchgestrichen war, machte er ihn mit einer dicken schwarzen Linie noch deutlicher ungültig. Marcus’ Gesichtsausdruck war grimmig, und Isabella begann, den Mut zu verlieren. Plötzlich erschien ihr das alles schrecklich falsch, und sie war gar nicht mehr sicher, dass sie die Angelegenheit würde zu Ende bringen können. Zitternd presste sie die Arme an ihren Körper, um sich etwas zu beruhigen.
„Haben Sie ein Blatt Papier?“, fragte Marcus den Priester.
Der alte Mann fuhr erschreckt zusammen, als ob Marcus um ein unmögliches Privileg gebeten hatte. Dann aber trottete er zu der düsteren und unansehnlichen Kapelle und kam zurück mit einem Blatt rauen Pergaments. Er händigte es Marcus mit einem Blick aus, der erkennen ließ, dass eine erneute Summe Geldes jetzt angebracht wäre. Isabella seufzte und gab ihm zwei Schillinge, die sofort in seiner Tasche unter dem schmutzigen Chorgewand verschwanden.
Marcus tauchte die Feder in das Tintenfass und kritzelte ein paar Zeilen. Dann löschte er das Geschriebene mit Sand und händigte es Isabella aus.
„Nehmen Sie dies. Ich möchte nicht, dass irgendetwas unklar bleibt.“
Isabella runzelte die Stirn, als sie den Text las. Marcus hatte geschrieben, er sei bereit, die volle Verantwortung für die Schulden, die im Namen seiner Frau aufgelaufen waren, zu übernehmen. Wenn es irgendetwas gab, das Isabella noch erbärmlicher und geldgieriger hinstellte, als dies jetzt schon der Fall war, so waren es diese paar Zeilen. Sie unterstrichen den geschäftlichen Charakter der Vereinbarung in einer Weise, die keinen Raum für Gefühl ließ.
„Trauzeugen?“, sagte Marcus mit deutlicher Ungeduld in seiner Stimme.
Isabellas Mut sank noch mehr. Das war das Einzige, was sie nicht bedacht hatte.
„Ich hatte nicht gedacht …“, begann sie und sah über ihre Schulter. Der Kerkermeister stand mit erwartungsvollem Gesicht hinter ihnen. Er dachte sicher, dass noch ein paar Pfund für ihn dabei herausspringen würden, wenn er als Trauzeuge fungierte und später über den gesamten Vorgang Schweigen bewahrte. Ein verzweifeltes Lachen drohte in ihr hochzukommen. Eine Hochzeit im Fleet-Gefängnis mit einem Kerkermeister als Trauzeugen und einem Priester, der halb betrunken war von dem Weinbrand, den sie ihm als Teil der Bestechung mitgebracht hatte. Konnte eine Hochzeit unter einem ungünstigeren Stern stehen? Isabella schlug die Hand vor den Mund, um das Lachen zu unterdrücken.
Der Kerkermeister rieb die Handflächen an seiner schmutzigen Hose, pfiff nach einem der anderen Wärter und trat auf den Wink des Priesters an die kleine Gruppe heran. Marcus nahm Isabellas Hand. Seine Berührung war unpersönlich, und doch zuckte etwas Unbestimmtes durch ihr Bewusstsein – wie eine Flamme, die den Zunder entfacht. All ihre Aufmerksamkeit richtete sich plötzlich nur auf Marcus. Sie wollte ihm fast ihre Hand entziehen, so stark war ihre Reaktion auf seine Berührung. Sie wusste, dass er ihr Zittern spürte, und kam sich jetzt so verwundbar vor, als ob sie nackt dastünde. Mit einem Schlag fühlte sie sich diesem Mann völlig ausgeliefert, und das war etwas, was sie nicht vorausgesehen hatte.
Die Trauungszeremonie begann. Es schien Isabella, als ob der Vorgang möglichst schnell beendet werden sollte. Eine Trauung im Fleet-Gefängnis war nie eine lange und sehnsuchtsvoll romantische Angelegenheit. Da gab es keine zart ineinander verweilenden Blicke zwischen Braut und Bräutigam, kein verständnisvolles Lächeln des Geistlichen. Stattdessen herrschte gespanntes Schweigen, das nur von den gemurmelten Worten des Geistlichen und den Erwiderungen der Brautleute unterbrochen wurde. Marcus’ Antwort kam entschlossen und sofort, während Isabella ihr Ehegelübde zögernd äußerte. Sie geriet sogar einmal ganz ins Stocken, da sie durch die Erinnerung an ihre erste Eheschließung zwölf Jahre zuvor eingeholt wurde. Marcus schien dies zu spüren und umschloss ihre Hand fester, während er sich Isabella zuwandte. Isabella rechnete mit Ungeduld in seinen Augen, aber als sie ihn ansah, betrachtete er sie mit einer seltsam nachdenklichen Anteilnahme. Sie raffte all ihren Mut zusammen, straffte sich und wiederholte ihr Gelübde mit festerer Stimme.
„Haben Sie den Ring?“, fragte der Priester.
Isabella schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht daran gedacht, dass ein Ring nötig sein würde. Da sie überdies ihren gesamten Schmuck verpfändet hatte, um einige ihrer Schulden abzutragen, hätte sie ohnehin keinen mitbringen können. Sie hörte, wie Marcus resigniert seufzte. Aber einen Augenblick später streifte er seinen Siegelring vom Finger und legte ihn auf die aufgeschlagenen Seiten des Psalters. Isabella warf ihm einen gequälten Blick zu.
„Sie können mir doch nicht Ihren Siegelring geben!“, rief sie verzweifelt.
Er zeigte sich jedoch unbeeindruckt. „Dies ist weder die Zeit noch der Ort für eine Diskussion.“
„Aber ich …“
Marcus beachtete sie nicht und wandte sich wieder an den Priester. „Fahren Sie fort.“
Er nahm den Ring und steckte ihn Isabella behutsam an den Finger, so als ob er sie beschützen wollte. Isabella spürte das Schmuckstück warm und schwer an ihrer Hand, es war für sie zu groß. Sie drehte es an ihrem Finger. Der goldene Ring trug eine deutliche Inschrift aus vier miteinander verschlungenen Buchstaben: M…J…E…S… Mit dem Finger zeichnete sie die Linien nach.
Sie hatte das Gefühl, dass es vollkommen falsch und viel zu persönlich war, Marcus’ Siegelring zu nehmen, da sie doch nichts anderes wollte als seinen Namen auf einem Stück Papier.
Der Priester steckte das Book of Common Prayer unter den Ärmel seines schmutzigen Chorgewandes. Er schob Isabella die schon ausgefertigte Heiratsurkunde zu und wartete ungeduldig auf seine Gebühren. Isabellas Finger zitterten, während sie das Dokument sorgfältig zusammenfaltete und dann in ihr Retikül steckte. Das Papier versprach ihr Freiheit. Aber als Marcus nun ihre Hand losließ, fühlte sie sich einsamer und unglücklicher als jemals zuvor.
Er beobachtete sie. Isabella glaubte, eine Spur spöttischer Belustigung in seinen Augen wahrzunehmen. Zweifellos fand er ihre missliche Lage komisch: Die skandalumwitterte Fürstin Di Cassilis war tatsächlich gezwungen, einen Schuldner zu heiraten …
„Nun?“, sagte Marcus.
„Danke“, erwiderte sie, wobei sie ihm nicht in die Augen sehen konnte.
„Keine Ursache.“ Er lächelte, aber es war kein Lächeln, das ihr hätte Trost geben können. „Ich bin sicher, dass Sie mir Ihrerseits etwas versprochen haben.“
Ihre Blicke trafen sich. Isabellas Herz pochte vernehmlich. Die Kehle schien ihr plötzlich ganz trocken. Bilder dieser schon lange verlorenen Abende tanzten vor ihrem inneren Auge: die zarte Berührung seiner Lippen auf ihrer feuchten Haut, der trockene Salzgeruch des Meeres gemischt mit dem Duft schöner alter Rosen, die flirrende Hitze jenes Sommers … Aber die Flammen jener Leidenschaft waren nach vielen Wintern längst erloschen.
„Einige Flaschen Wein, gutes Essen und ein paar Sachen, die das Leben erträglicher machen?“ Marcus rief ihr dieses Versprechen in Erinnerung.
„Oh, natürlich.“ Isabella spürte, wie sie rot wurde, hatten ihre Gedanken doch eine ganz andere Richtung genommen. Sie machte eine Pause. Ihre Börse war fast leer, aber das war es nicht, was sie zögern ließ weiterzusprechen. Es schien ihr undenkbar, ihr plumpes Angebot zu wiederholen – besonders nachdem Marcus es zuvor so wütend abgelehnt hatte.
„Ich hatte vor, Sie zu bezahlen“, sagte sie nun, „aber ich glaubte, Sie hätten meinen Vorschlag abgelehnt.“
Marcus lächelte wieder, diesmal mit einem Anflug von echtem Humor. „Ich versichere Ihnen, so stolz bin ich gar nicht. Außerdem dachte ich, wir hätten uns geeinigt, dass dies eine geschäftliche Angelegenheit ist. Wir haben einen Handel abgeschlossen.“
„Ja, das stimmt“, erwiderte Isabella. Sie suchte nach Münzen und drückte sie ihm in die Hand. Marcus steckte sie in die Tasche seiner Weste.
„Und Sie müssen Ihren Ring zurücknehmen“, fügte sie hastig hinzu und war schon dabei, den goldenen Siegelring von ihrem Finger zu ziehen.
Marcus schüttelte den Kopf, nahm ihre Hand und schob den Ring wieder an seinen Platz. „Behalten Sie ihn“, sagte er ruhig, „bis wir uns wiedersehen.“
Das gab ihr einen Stich. „Wird das denn geschehen?“
„Mit Sicherheit.“
„Aber erst, wenn die Ehe wieder aufgelöst ist.“
Marcus’ Lächeln wurde breiter. „Natürlich.“
Sie sahen einander einen Augenblick an. Isabella beschlich ein Gefühl der Unsicherheit.
„Ich glaube, ich sollte jetzt gehen?“, sagte sie zaghaft.
Angesichts ihres offensichtlichen Unbehagens nahm Marcus’ Stimme einen spöttischen Ton an.„Ja, ich glaube, das sollten Sie. Es ist jedoch üblich, die Braut am Hochzeitstag zu küssen.“
Isabella fuhr erschreckt auf, trat hastig einige Schritte zurück, bis ihr Rock sich an dem Holzpfosten der vordersten Kirchenbank verfing. Marcus folgte ihr. Sie streckte eine Hand aus, um ihn abzuwehren.
„Wie Sie mir in Erinnerung gerufen haben, ist dies eine geschäftliche Angelegenheit, Sir, und das, wovon Sie sprechen, war nicht Teil der Abmachung.“
Marcus sah sie mit einem herausfordernden Lächeln an. Isabella wusste nicht, ob er das aus Rache oder Boshaftigkeit gesagt hatte oder einfach, um sich zu amüsieren. Auf alle Fälle war seine körperliche Nähe geeignet, ihre Gelassenheit zunichte zu machen. Sie wollte fliehen, konnte sich aber nicht rühren.
Der Kerkermeister hinter ihnen war inzwischen unruhig geworden, weil er seinen Gefangenen zurück in die Zelle bringen wollte. Marcus beachtete ihn nicht. Er machte einen großen Schritt vorwärts, fasste Isabella am Arm und zog sie zu sich heran, wobei ihre Brüste gegen den rauen Stoff seiner Jacke gedrückt wurden. Er neigte den Kopf, und fasste sie noch fester. Und dann küsste er sie.
Der Druck seiner Lippen auf ihrem Mund war kaum mehr als ein geflüsterter Hauch. Aber er reichte aus, um Isabella in die Vergangenheit zurückzuversetzen. Die Erinnerung an seine Küsse war zusammen mit all den anderen ineinander verwobenen Bildern ihrer Leidenschaft lange in ihrem Inneren verschlossen gewesen. Isabella hatte diese Gefühle vor sich selbst und vor anderen die ganze Zeit über verborgen. Nun aber rührten sie sich wieder und drohten auszubrechen. Was an Zärtlichkeit einmal zwischen ihnen gewesen war, mochte lange vorbei sein, aber die gegenseitige Anziehungskraft flammte so heiß auf wie ehedem. Das erschreckte Isabella.
Ihrer Kehle entrang sich ein kleiner, unsicherer Laut, und sie versuchte, sich von Marcus zu lösen. Aber da hatte er bereits den Arm um sie gelegt und presste seinen Mund so hungrig auf ihre Lippen, dass jeder Rest von Abwehr in Isabella erlahmte. Das Feuer der Sinnlichkeit durchfuhr sie und entflammte ihren Körper bis in die Zehenspitzen.
Niemand hatte sie je so geküsst wie Marcus. Ernest hatte sich einigen oberflächlichen Umarmungen hingegeben, ehe er die Ehe vollzog, aber seine Berührungen hatte jede Zärtlichkeit vermissen lassen. Ihre Ehe war hohl und leer gewesen.
Doch in Marcus’ Armen erbebte Isabella. Die Berührung, sein Geschmack und ihr Verlangen vermengten sich, während er sie küsste und dann kurz innehielt, nur um ihre Lippen wieder umso leidenschaftlicher zu suchen. Ihr Körper wurde wie aus einem langen Schlaf erweckt, als sie sein Begehren spürte, seine Stärke und Kraft. Dann, als er sie plötzlich losließ, war alles vorüber, und Isabella fiel in das Dunkel zurück.
Die Luft zwischen ihnen schien vor Hitze zu glühen. Marcus’ Gesicht war im Schatten, aber in seinen Augen loderte ein Feuer, das Isabella verbrannte.
„Sie hätten nicht …“, begann sie, und ihre Worte kamen nur mit Mühe heraus.
Marcus’ Gesichtsausdruck war hart. „Es musste sein.“
„Zeit zu gehen“, rief der Kerkermeister hinter ihnen. Er klimperte vielsagend mit den Münzen in der Tasche. „Es sei denn, Sie möchten noch etwas hierbleiben, Madam? Eine gemütliche Zelle für Sie beide, um den Ehestand zu feiern?“
Ehestand. Das klang so endgültig.
Marcus hob fragend eine Augenbraue. Isabella wandte sich von ihm ab. „Nein“, sagte sie kurz. „Nein danke.“
Marcus drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging vor dem Kerkermeister hinaus. Er schaute nicht zurück. Die Tür der Kapelle schloss sich geräuschlos hinter ihnen, und Isabella lauschte den schwächer werdenden Schritten. Einen Augenblick lang verspürte sie den wilden Wunsch, Marcus nachzueilen, damit er bei ihr bliebe. Aber er war fort, und alles war vorbei.
Der Priester berührte Isabellas Arm. „Sie möchten sicher von hier fort, Madam. Erlauben Sie mir, Sie hinauszubegleiten.“
Wie benommen folgte Isabella ihm durch das Labyrinth der düsteren Flure hinaus an das Tageslicht. Die Tür fiel ins Schloss, und Isabella befand sich auf der Straße. Es war heller Nachmittag, und die vielfältig pulsierenden Geräusche der Stadt drangen an ihr Ohr. Sie fühlte sich seltsam leicht und gleichzeitig etwas verwirrt, als ob sie aus einem lebhaften Traum voller Sinnlichkeit und lange vergessener Wünsche erwacht wäre. Nur war das alles kein Traum gewesen. Isabella war rechtmäßig mit Marcus Stockhaven verheiratet – vielleicht doch nicht ganz rechtmäßig, wenn man die Umstände ihrer Eheschließung in Betracht zog. Ihr Herz krampfte sich bei diesem Gedanken zusammen.
Marcus’ Siegelring war schwer und ungewohnt an ihrem Finger. Isabella fragte sich, warum er ihn nicht verpfändet hatte, um sich damit einige Vergünstigungen zu erkaufen. Aber der Stolz eines Mannes war eine eigene Sache. Auch wenn er tief in Schulden steckte, wäre er vielleicht zu weit gegangen, wenn er das Schmuckstück mit dem Familienwappen verpfändet hätte. Er hätte damit dem Namen Stockhaven keine Ehre erwiesen.
Nun hatte er aber seinen Siegelring nicht verpfändet, sondern Isabella gegeben. Einen Augenblick lang bedauerte sie, dass sie den Ring nicht tragen konnte. Sie würde ihn jedoch sicher aufbewahren und ihn nach Auflösung der Ehe wieder an Marcus zurückschicken. Er hatte zwar gesagt, dass sie sich wiedersehen würden, aber es wäre besser, wenn sie sich nie wieder begegneten.
Isabella konnte die steife Heiratsurkunde durch den Stoff ihres Retikül fühlen, das sie unter dem Arm trug. Sie war frei und sicher vor ihren Gläubigern, und das musste das Allerwichtigste sein. Aber als sie schnell aus dem Labyrinth der Gassen rund um das Fleet-Gefängnis schritt, wurde sie von einem tiefen Gefühl der Unruhe ergriffen. Sie fragte sich, warum sie eine solche Angst empfand. Schließlich war Marcus doch im Schuldgefängnis eingeschlossen, und ihr stand es frei, so weiterzuleben, als wenn nichts geschehen wäre. Sie hatte nun genau das, was sie immer wollte.
Einen Augenblick lang überlegte sie, was geschehen könnte, wenn Marcus seine Freiheit wiedererlangen sollte. Dabei durchfuhr sie ein Schauer von Angst. Solange Marcus im Gefängnis saß,war sie sicher. Wenn er in Freiheit wäre, wäre das allerdings etwas ganz anderes. Einen solchen Mann konnte man nicht beherrschen, dafür war er zu stark.
Sie blickte Trost suchend hinauf zur Sonne und sagte sich, dass es ganz ausgeschlossen war, dass er je wieder freikäme.
Ihre Schulden würden getilgt, ihr Erbanspruch würde anerkannt, und dann könnte sie die Auflösung der Ehe bezahlen. Sie hatte gar keinen Grund für ein Wiedersehen mit ihm.
Dennoch blieb eine unbestimmte Angst.
Marcus lag auf der Matratze in der leeren Zelle, die jetzt seine eigene war. Das Buch über Schiffsarchitektur lag zugeklappt neben seinem Ellbogen, und daneben stand eine fast noch volle Flasche Wein. Die Zelle war seit dem dämmrigen Morgen, als er sie betreten hatte, unverändert geblieben. Nichts deutete darauf hin, dass Isabella Di Cassilis jemals hier gewesen war und dadurch sein Leben verändert hatte. Es gab nichts, was an sie erinnerte, und doch war ihre Anwesenheit in der Luft zu spüren, die ihn umgab, sodass es unmöglich war, an etwas anderes zu denken.
Während der vergangenen zwölf Jahre hatte Marcus oft an Isabella gedacht. Aber er würde bestreiten, dass er ihr jemals nachgetrauert hätte. Ein Zucken von Bitterkeit und gleichzeitig Belustigung umspielte seinen Mund. Er war nicht jemand, der den Dingen nachhing, die hätten sein können. Aber während er immer geglaubt hatte, dass diese unglückliche jugendliche Affäre endgültig vorbei war, so erkannte er jetzt, dass das nicht der Fall war. Jetzt wusste er, dass er Isabella wollte – und auch eine Abrechnung.
Marcus rieb sich die Augen. Er hatte sich alle Mühe gegeben, Isabella aus seinen Gedanken und aus seinem Leben zu verbannen, aber er hatte die Nachrichten, die über sie kursierten, nicht gänzlich ignorieren können. Der Name ihres Mannes war der Inbegriff der Verworfenheit gewesen, besonders in seinen späteren Jahren, als er mit einer schamlosen Truppe, die ihm wie ein greller Kometenschweif folgte, quer durch Europa zog. Seine Frau nahm er dabei stets mit, und es war unvermeidlich, dass ihr Name infolge seiner Ausschweifungen ebenfalls ruiniert wurde. Marcus dachte an den vernichtenden Schlag, den ihr verstorbener Mann ihr zugefügt hatte. Zwanzigtausend Pfund war eine ungeheure Schuld, um jemand anders damit zu belasten, aber es war allgemein bekannt, dass der verantwortungslose Fürst Ernest sich um Ehre und Anstand genauso wenig kümmerte wie um seine Frau selbst. Und man konnte gut behaupten, dass es schließlich nur gerecht war, dass Isabella, die allein des Geldes wegen geheiratet hatte, als Witwe mit Schulden belastet war.
Marcus versuchte vergeblich, auf der harten Matratze eine bequemere Lage zu finden. Isabella hatte sich dafür entschieden, Fürst Ernest zu heiraten. Und nun musste sie die Folgen dieser Entscheidung tragen. Sie hatte Marcus rücksichtslos sitzen lassen, um einen vermögenden Mann mit Titel zu heiraten. Das war die schlichte Wahrheit. Marcus war dem betörenden Charme einer Abenteurerin erlegen.
Als er Isabella Di Cassilis nun erneut begegnet war, hatte er nichts für sie empfinden wollen. Er wollte sie nur ansehen, aber nichts fühlen, keine Liebe, keinen Hass und schon gar nicht Sehnsucht. Aber das war ihm gründlich misslungen. Nur wenige Augenblicke waren nötig, um ihm klarzumachen, dass er sie immer noch begehrte. Als sie unter dem Ansturm seiner Küsse erbebte, vergaß er die trostlose Atmosphäre des Fleet-Gefängnisses und verspürte den Drang, sie auf dem kalten Steinfußboden der Kapelle zu nehmen.
Nein, als gleichgültig konnte er sich nun wirklich nicht bezeichnen.
Marcus stand auf und ging zu dem kleinen Fenstergitter hinüber. Unerreichbare, verlockende Helle strömte herein und verhieß ihm all das, was er aufgegeben hatte – Licht und Freiheit und die Möglichkeit zu tun, was auch immer er wollte. Er war zu einem ganz bestimmten Zweck freiwillig in das Gefängnis gegangen. Isabellas Vermutungen über seine finanzielle Lage konnten gar nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Selbst wenn er ihre Schulden in dreifacher Höhe übernähme, hätte der Verlust praktisch gar keine Auswirkungen für ihn.
Er hielt inne und starrte auf das kleine helle Fensterquadrat. Was eigentlich wollte er von Isabella Di Cassilis? Sie hatte ihn aus keinem anderen Grund als den gewählt, dass er einen passenden Ehemann abgab, genauso wie sie Jahre zuvor die kühl berechnete Entscheidung getroffen hatte, Fürst Ernest zu heiraten. Marcus hatte ihr die Möglichkeit gegeben, ihren Schulden zu entgehen. Er schuldete ihr nichts mehr. Aber sie – sie schuldete ihm eine Erklärung der Vergangenheit und auch eine Abrechnung für die Gegenwart. Wenn er ihre Gläubiger befriedigte, dann würde sie ihm noch viel mehr schulden.
Seine Aufgabe hier war fast beendet. Er hatte ohnehin die Absicht gehabt, seine Freilassung innerhalb einer Woche zu erwirken; es war sogar innerhalb weniger Tage möglich. Wahrscheinlich war ein früherer Zeitpunkt vorzuziehen. Isabellas Besuch und ihre Großzügigkeit hatten die Neugier anderer geweckt, was er sich nicht leisten konnte. Es wurde schon über die Schönheit seiner Frau geredet, und Vermutungen über ihre wahre Identität machten die Runde. An einem solchen Ort konnte nichts geheim bleiben.
Marcus starrte immer noch auf das kleine vergitterte Fenster mit dem Stück blauen Himmels. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass Isabella nicht begeistert sein würde, wenn sie ihn in Freiheit sähe. Wenn er aus dem Gespräch mit ihr etwas gelernt hatte, dann war es die Gewissheit, dass die Fürstin Isabella Di Cassilis – oder genauer, die neue Countess of Stockhaven – von einem Ehemann nur den Namen wollte.
Er lachte in sich hinein. Die Arme! Den Namen würde sie bekommen. Aber zwischen ihnen gab es noch etwas zu klären.
Marcus ließ sich Feder und Tinte geben, wobei er großzügig eine von Isabellas Guineen für das Vorrecht ausgab, den Brief unverzüglich an eine Adresse in der Brook Street gehen zu lassen.
Es handelte sich um eine kurze Notiz:
Alistair, ich habe meine Pläne geändert. Ich verlasse mich darauf, dass du mich baldmöglichst hier herausholst. Besten Dank, S.
Marcus hielt inne. Dann machte er einen Zusatz:
P.S. Bitte finde für mich heraus, wenn du so freundlich sein willst, wer die wichtigsten Gläubiger der Fürstin Di Cassilis sind.
Der Kerkermeister stand bereit, den Brief entgegenzunehmen. Marcus wusste, dass der Mann seinen Auftrag ausführen würde. Die Kerkermeister im Fleet-Gefängnis hatten ein feines Gespür für Autorität und – in Marcus’ Fall – für eine Wendung des Schicksals.
Dieser Mann, das wussten sie, würde recht bald frei sein.