1. KAPITEL
Es war ein unmöglicher Ort für die Suche nach einem Ehemann.
Wenn sie die Wahl auf dem Heiratsmarkt hätten, würden die meisten Frauen mit Urteilsvermögen wohl immer die vornehme Vertrautheit von Almack’s bevorzugen, vor allen Dingen, wenn die Alternative das Fleet-Gefängnis war.
Fürstin Isabella Di Cassilis konnte sich diesen Luxus nicht erlauben. Sie war verzweifelt.
Die Fürstin hatte dem Kerkermeister ihre besondere Notlage erklärt. Sie musste unbedingt einen Mann heiraten, der so viele Schulden hatte, dass es auf ihre Verbindlichkeiten von zwanzigtausend Pfund auch nicht mehr ankäme. Ihr Zukünftiger sollte zudem von recht robuster Gesundheit sein, denn sie wollte vermeiden, dass er vor ihr sterben würde und sie zu ihren eigenen noch seine Schulden würde übernehmen müssen. Und sie brauchte ihn jetzt.
Wenn Isabella bei Bekanntwerden dieses Abenteuers gesellschaftlich geächtet würde, hätte dies für sie keinerlei Bedeutung. Ihr Ruf war ohnehin nicht mehr zu retten, die anspruchsvolleren Mitglieder des Ton verwehrten ihr bereits den Zutritt. Welchen Schaden sollte ein weiterer Skandal überhaupt noch anrichten?
Isabella Standish wurde nicht als Fürstin eines europäischen Landes geboren, nicht einmal eines so unbedeutenden wie Cassilis. Ihr Vater hatte zu den rangniederen Mitgliedern des Ton gehört, der seine ehrgeizigen Ziele nie ganz erreicht hatte. Ihr Großvater war Fischlieferant des geistig umnachteten König Georgs III. gewesen. Nach dem Genuss einer besonders schmackhaften Regenbogenforelle hatte der Monarch ihn in den Adelsstand erhoben.
Es war Isabellas Unglück gewesen, dass sie bei einem Bummel durch die Bond Street dem gelangweilten Fürsten Ernest Rudolph Christian Ludwig Di Cassilis aufgefallen war. Damals war sie 17 Jahre alt und stand kurz vor ihrer Vermählung. Er war bezaubert von ihrer hübschen Erscheinung und ihrem natürlichen Wesen und hielt mit einem Gegenangebot sofort um ihre Hand an. Ihr Vater war nicht gesonnen, dieses Angebot abzulehnen, da ihm aufgrund seiner ausschweifenden Lebensweise der Bankrott drohte. So kam Fürst Ernest gerade zur rechten Zeit, wenn auch nicht für Lord Standishs Tochter. Die Hochzeit, die einige Tage danach stattfand, war nicht die, die Isabella sich vorgestellt hatte.
Es war auch gänzlich Fürst Ernests Schuld, dass seine Witwe zwölf Jahre später einem Kerkermeister durch einen engen steinernen Korridor in die Verliese des Fleet-Gefängnisses folgte. Ernest war höchst unpassend in den Armen seiner Mätresse gestorben, wodurch er seiner Frau nichts als Schulden und einen befleckten Namen hinterlassen hatte. Nachdem Isabella nach England heimgekehrt war, entdeckte sie, dass die Untreue ihres verstorbenen Mannes auch finanzieller Art war. Ernest hatte in ihrem Namen Schulden auflaufen lassen. Jetzt also wurde sie zu verzweifelten Maßnahmen gezwungen, um sich von diesen unglücklichen Schulden zu befreien.
Isabella zog den schwarzen Umhang enger um sich und drückte die Kapuze tiefer ins Gesicht. Im Gefängnis wurden alle ihre Sinne beansprucht. Hier war es fast stockdunkel. Die Luft war erfüllt mit Hitze und Tabakrauch. Dazu kam der durchdringende Gestank hunderter Leiber auf engstem Raum. Laute Stimmen mischten sich mit dem Klirren eiserner Fesseln, die über den Steinboden schabten, und mit dem Schreien und Weinen von Kindern. Der Fußboden war schmierig, und an den Wänden lief Wasser herab, auch im Sommer. Hände griffen in die Falten von Isabellas Umhang, als sie vorbeiging. Sie spürte, wie sich die Verzweiflung der Gefangenen dem gesamten Ort mitteilte, von den Wänden rann und sie gleichsam einhüllte. Entsetzen und Mitleid schnürten ihr fast die Kehle zu und ließen ihren ganzen Körper erzittern. Bevor sie in dieses Höllenloch hineingegangen war, hatte sie geglaubt, dass ihre Lage verzweifelt sei. Aber sie hatte nicht einmal gewusst, was Verzweiflung war. Und doch war der Abstand zwischen ihren Lebensumständen und dem, was sie hier antraf, gefährlich gering. Ein Mensch musste nur einmal von seinem gesicherten Weg abkommen und ausgleiten, um dann hier in diesem Abgrund vergessen und unbeweint zu enden.
Der Kerkermeister schob Isabella am Arm weiter. „Es ist jetzt nicht mehr weit.“
Als er spürte, wie sie zitterte, fügte er in dem unbeholfenen Versuch, ihr Trost zuzusprechen, hinzu: „Wir haben eine bessere Klasse von Gefangenen im Haus des Gefängnisdirektors untergebracht, Ma’am. Sie haben da nichts zu befürchten.“
Nichts zu befürchten.
Sie zitterte immer noch, und die Worte gingen ihr beständig durch den Kopf.
Ihr Anwalt Mr. Churchward hatte ihr bemerkenswert unverblümt mitgeteilt, dass sie unter drei Möglichkeiten wählen könne: Heirat, Exil oder Schuldgefängnis. Keine dieser Möglichkeiten war angenehm.
Sie hatten im Wohnzimmer von Isabellas Haus im Brunswick Gardens gesessen, als Churchward ihr die Nachricht von Ernests Schulden überbrachte. Trotz aller Offenheit war Mitgefühl in dem, was der Anwalt ihr sagte, so als ob eine so heikle Angelegenheit eigentlich nicht für die Ohren einer Dame bestimmt war. Isabella wusste seine Rücksichtnahme zu schätzen, und als sie weder ohnmächtig wurde noch in große Unruhe verfiel, schien Churchward unendlich erleichtert.
Eine Fackel brannte am Ende des Ganges. Der Kerkermeister öffnete eine schwere Tür, die vernehmlich über den Boden schleifte und quietschte, als ob sie selten benutzt wurde. Er trat einen Schritt zurück und ließ Isabella vorgehen. Die Luft war hier frischer, enthielt aber noch das Aroma von Tabak, Schweiß und abgestandenem Essen.
Der Kerkermeister hielt vor einer Zellentür, spie auf den Boden und wischte sich dann hastig mit dem Handrücken über den Mund, als ihm klar wurde, dass er mit einer Dame sprach. „Hier ist es, Ma’am. Das ist genau der Mann für Sie, John Ellis. Wie man mir sagte, ist er von adliger Herkunft, gesund und völlig mittellos.“
Von irgendwo aus den Verliesen des Gefängnisses drang ein entsetzlicher Schrei an Isabellas Ohr. Ein Schauder erfasste sie, und sie zwang sich, dem Kerkermeister zuzuhören. Sie wusste, dass sie Fragen stellen musste. Wenn sie sich nur nicht so hartherzig und berechnend vorgekommen wäre! Sie war dabei, mit dem Rest ihres Geldes das Leben eines Mannes zu kaufen. Ihre Freiheit erkaufte sie sich zum Preis seiner Einkerkerung.
In der Theorie war ihr dieser Plan als gut durchführbar erschienen: ein sauberer, wenngleich rücksichtsloser Handel. Isabella würde einen Gefangenen dafür bezahlen, dass er ihre Schulden übernahm. Er wäre hinter Gittern, und sie wäre frei. Da es sich aber plötzlich um eine Person aus Fleisch und Blut handelte, nahm der Plan seltsam unheimliche Züge an. Dennoch – es war entweder sein Leben oder ihres …
„Hat er … Familie oder Freunde?“, fragte sie zögernd.
Der Kerkermeister grinste schief. Er begriff, was sie wissen musste.„Nein, Ma’am. Es gibt niemanden, der ihn auslösen könnte, und er kann sicherlich dazu überredet werden, Ihre Schulden auch noch zu nehmen. Er hat dabei nichts zu verlieren.“
„Wie lange ist er schon hier?“ Nun da sie im Begriff war, den Handel abzuschließen, zögerte sie und erwog, die Angelegenheit aufzuschieben.
„Fast drei Monate, und soweit ich weiß, soll er für den Rest seines Lebens hier bleiben.“ Der Kerkermeister sah sie von der Seite an. „Wollen Sie es sich nochmal überlegen?“
„Nein danke“, erwiderte Isabella. „Ein auf Dauer abwesender Gatte ist genau das, was ich brauche.“
Die Zellentür wurde heftig aufgestoßen, und ein anderer Kerkermeister kam stolpernd heraus, rutschte auf dem schmierigen Fußboden aus und verschüttete das Essen, das er auf dem Tablett trug. Er fluchte leise. Die dünne Suppe schwappte über und ergoss sich auf Isabellas Umhang.
„Und kommen Sie erst dann wieder, wenn Sie mir etwas Essbares anbieten können“, rief eine männliche Stimme aus der Zelle. Es war eine angenehme Stimme, aber sie hatte einen leicht drohenden Unterton.
„Ist das Ihr Mr. Ellis?“, fragte Isabella trocken, als es von innen gegen die Zellentür schlug, wie um den Worten Nachdruck zu verleihen. „Es hört sich ja an wie der Teufel selbst.“
„Ja, ja, John Ellis ist ein übellauniger Geselle“, gab der Kerkermeister zur Bestätigung zurück. „Aber Sie brauchen sich darüber keine Sorgen zu machen, Ma’am.“
„Wenn ich mir vorstelle, dass ich hier eingekerkert wäre, dann hätte ich auch üble Laune“, sagte Isabella verständnisvoll. Sie sah sich um und zitterte etwas. „Das Beste ist, wir bringen es schnell hinter uns.“
Die Zelle war düster. Sie wurde nur schwach von einem hoch angebrachten vergitterten Fenster erhellt. Isabella erschreckte es sehr, dass dieser „bessere“ Gentleman sich nicht einmal eine eigene Zelle leisten konnte. Er musste wirklich arm sein. Dann kam ihr der Gedanke, dass es im Haus des Gefängnisdirektors sicher geräumigere und besser gelüftete Räume gab, als es diese trübe Zelle war, wo die Luft fast so stickig war wie weiter unten. Ihr wurde vor innerer Anspannung und Ekel richtig übel.
Drei Männer kauerten auf dem Fußboden und machten ein Spiel mit Würfeln und Spielmarken. Als die Tür sich öffnete, sahen sie kaum auf, so sehr richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel. Zwar wurden nur Pennies eingesetzt, aber selbst wenn die Welt unterginge, würden sie ihr Spiel nicht abbrechen.
An einem grob gezimmerten Tisch saß eine schattenhafte Gestalt mit dem Rücken zum Licht. Schließlich bewegte er sich, und Isabella sah an dem Buch, das er in der Hand hielt, dass er gelesen hatte.
Obwohl der Kerkermeister John Ellis als mürrisch und übellaunig bezeichnet hatte, sah Isabella in seinem Gesicht Humor und Tatkraft. Dieser Gesichtsausdruck verschwand jedoch plötzlich, so als ob eine Kerze ausgeblasen worden wäre. Jetzt war nur noch grimmige Strenge zu sehen. In dem trüben Licht traten seine Gesichtszüge hart hervor. Die wettergebräunte Haut ließ darauf schließen, dass er längere Zeit in heißen Klimazonen zugebracht hatte. Die Züge seines kantigen Gesichts waren zu sehr ausgeprägt, als dass man es im üblichen Sinne als attraktiv bezeichnet hätte – doch von ihm ging eine Anziehungskraft aus, die viel bezwingender wirkte als nur gutes Aussehen. Es war eine Anziehungskraft, bei der es einem den Atem verschlug. Isabella hatte viele gut aussehende Männer kennengelernt. Eine Fürstin hatte diese Vorrechte. Allerdings hatte keiner dieser Männer sie so verwirrt, dass ihr der Atem stockte und sie fast ohnmächtig wurde.
John Ellis legte das Buch auf den Tisch und sah mit einem langen Blick zu ihr auf, blieb jedoch stumm.
„Stehen Sie auf, wenn eine Dame hereinkommt“, schnarrte der Kerkermeister.
Der Gentleman ließ seinen Blick in aufreizender Weise ganz gemächlich von oben bis unten über Isabellas Körper wandern. Dann nahm er ebenso gemächlich die Füße vom Tisch und straffte sich etwas, blieb aber nach wie vor sitzen. Immer noch wanderte sein herausfordernder Blick über ihre Gestalt, was Isabellas Blut in Wallung brachte, sodass sie hochmütig ihr Kinn vorschob. Seine Augen waren hart, und er hatte den Gesichtsausdruck eines Mannes, der in seinem Leben zu viel erfahren hatte, als dass er eine Gefühlsregung zulassen würde, die über bloße Gleichgültigkeit hinausging.
Plötzlich durchzuckte Isabella eine erschreckende Erkenntnis. Die Welt um sie herum schien zu verschwinden. Isabella war wieder siebzehn, fast noch ein Kind und gerade in die Gesellschaft eingeführt worden. Sie erinnerte sich daran, wie sie und dieser Gentleman sich zum ersten Mal gesehen hatten. Es war nicht in einem romantischen Ballsaal gewesen, sondern ganz schlicht bei einer Tasse Tee in dem abgewohnten Salon ihrer Tante in Salterton.
„Wer ist dieser junge Mann?“, hatte Isabella ihre Tante, Lady Jane Southern, gefragt. Und Jane hatte lächelnd geantwortet: „Er heißt Marcus Stockhaven und ist Leutnant bei der Marine.“ Jane hatte etwas die Stirn gerunzelt, als sie den Ausdruck gespannter Erwartung in Isabellas Gesicht sah. „Mach dir keine Hoffnungen, Bella, denn deine Mama würde die Verbindung nie erlauben. Er ist ein Niemand.“
Ihre Warnung war natürlich zu spät gekommen. Die Hoffnungen blühten in dem Augenblick auf, als Isabella dasaß und den unergründlichen dunklen Blick des Mannes auf sich gerichtet sah. Sie fühlte sich auf angenehme Weise erregt und unfähig, gegen ihr Schicksal anzukämpfen.
„Er hat kein Geld und keine Aussicht auf einen Platz in der Gesellschaft. Und deine Mama wünscht, dass du dich gut verheiratest.“ Janes warnende Worte waren verhallt wie ein Echo. Isabella hatte ihre Tante nicht weiter beachtet und sich kopfüber in die erste Liebe gestürzt. Es war eine Liebe, die aller Erwartung nach in eine Ehe hätte münden sollen. Aber dann war sie gezwungen worden, Fürst Ernest zu heiraten, und alles war schiefgegangen.
Nun da sie Marcus Stockhavens Blick begegnete – so wie zwölf Jahre zuvor in jenem Wohnzimmer –, wurde Isabella ganz stark von dem Gefühl erfasst, etwas verloren zu haben. Eine große Sehnsucht durchfuhr sie schmerzlich und ließ ihre Liebe, aber auch ihren Trennungsschmerz wieder ganz gegenwärtig werden. So als ob all die Gefühle, die sie für erloschen gehalten hatte, plötzlich wieder zu neuem Leben erwacht waren.
Dann sprach Stockhaven, und die Ketten der Vergangenheit fielen von ihr ab.
„Eine Dame“, sagte er nachdenklich, und sein Blick ruhte immer noch auf ihr. „Welchen Grund könnte eine Dame haben, hierher zu kommen?“
Einer der Spieler sah auf und machte eine so unflätige Bemerkung, dass Isabella zusammenzuckte. Sie hob die Hand, um der aufkommenden Entrüstung des Kerkermeisters Einhalt zu gebieten.
„Danke“, sagte sie kurz. „Ich regele das. Bitte führen Sie … Mr. Ellis … und mich in einen Raum, wo wir allein sprechen können.“
Ihre Bitte rief einige Bestürzung hervor. Offenbar hatte der Kerkermeister nicht vermutet, dass sie um ein vertrauliches Gespräch bitten würde. Es gab kaum Möglichkeiten, einem solchen Wunsch zu entsprechen.
Marcus Stockhaven stand auf. „Sie wünschen, unter vier Augen mit mir zu sprechen, Madam?“
„Ja“, antwortete Isabella mit fester Stimme.
Stockhavens Stimme war glatt und kalt, sein Ton spöttisch. „Es ist Ihnen sicher bewusst, Madam, an welchem Ort wir uns befinden? Und dass hier der Preis für ein vertrauliches Gespräch den Wert von Rubinen übersteigt?“
„Dann ist es ein Glück, dass ich meine Smaragde mitgebracht habe“, antwortete sie gelassen. „Denn deren Wert ist noch höher als der von Rubinen.“
Sie langte in ihr Retikül und nahm das Smaragdarmband heraus, das Ernest ihr geschenkt hatte, als ihre Tochter geboren wurde. Dabei hatte er gesagt, dass es im Falle der Geburt eines Sohnes ein Diamantarmband gewesen wäre. Die Smaragde waren nur zweite Wahl – wie ihre Ehe. Isabella hatte den Erwartungen von Ernest nie ganz entsprochen. Aber wenigstens erwies sich das Geschenk endlich als nützlich.
In dem trüben Licht der Zelle ging ein strahlender Glanz von den Edelsteinen aus. Die Spieler hielten inne. Einer von ihnen stieß einen Fluch aus, der Habgier und fast ehrfürchtige Scheu ausdrückte.
„Ich möchte ungestört mit Mr. Ellis reden“, wiederholte Isabella, zu dem Kerkermeister gewandt. Und ihr Ton duldete keinen Widerspruch. „Sofort.“
„Sofort, Ma’am“, wiederholte der Kerkermeister dienstbeflissen.
Recht bald fand sich eine leere Zelle. Bis auf eine schimmelige Matratze, einen harten Stuhl, einen Tisch und ein Nachtgeschirr enthielt der Raum nichts. Er war auch sehr kalt. Der Kerkermeister nahm begierig das Armband aus Isabellas ausgestreckter Hand und ließ es schneller in seiner Tasche verschwinden als eine Schlange eine Maus verschlingt. Marcus Stockhaven klemmte sein Buch unter den Arm und folgte Isabella gemächlich von der einen Zelle in die nächste, als ob er einen Spaziergang durch einen Park machte. Isabella bewunderte seine Gelassenheit, denn sie zitterte vor Anspannung am ganzen Körper.
Die Tür schloss sich mit einem Kreischen, dem ein langes Schweigen folgte. Wortlos setzte sich Marcus Stockhaven auf den einzigen Stuhl. Den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, bedachte er sie mit einem leicht amüsierten Blick aus seinen dunklen Augen. Isabella empfand sowohl seine bewusste Unhöflichkeit als auch seinen Gesichtsausdruck als zutiefst beunruhigend. Aber schließlich hatte er sie schon immer mit einem bloßen Blick aus der Fassung bringen können.
„Nun?“
Bei diesem herrischen Ton zuckte Isabella zusammen. Schon hatte sie das Gefühl, dass nicht sie das Gespräch beherrschte, sondern Marcus. Doch sie musste trotzdem versuchen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen und die Initiative wiederzugewinnen.
„Ich …“ Ungeachtet ihrer Entschlossenheit blieben ihr die Worte im Hals stecken. Aber sie durfte jetzt keine Bedenken aufkommen lassen. Unmittelbar nachdem sie mit Churchward gesprochen hatte, war sie zu einer der Rechtsschulen gegangen, um sich eine Sondergenehmigung zu besorgen. Von dort hatte sie das Fleet-Gefängnis aufgesucht, um einen Ehemann zu erwerben. Verzweiflung hatte sie angetrieben und verhindert, dass sie ihre Handlungen allzu sehr hinterfragte. Wann auch immer Zweifel in ihr hochgekommen waren, hatte sie sich auf die düstere Aussicht konzentriert, das Gefängnis zu besuchen. Dadurch war alles andere in den Hintergrund getreten. Aber jetzt, unter dem erbarmungslosen, dunklen Blick von Marcus Stockhaven fand sie nicht die richtigen Worte.
Stockhaven zog spöttisch eine dunkle Augenbraue hoch. „Ich habe alle Zeit der Welt“, sagte er gelassen, „aber ich würde es vorziehen, wenn Sie so schnell wie möglich zur Sache kämen, Madam. Es ist eine Überraschung, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen, und ich muss sagen, keine besonders angenehme. Also …?“ Er zuckte die Achseln und fügte hinzu: „Sagen Sie mir, worum es sich handelt, und lassen mich wieder meinem Buch zuwenden.“
Isabella schluckte mehrmals. Er empfing sie also nicht mit offenen Armen. Natürlich nicht. Wie töricht von ihr, so etwas zu erwarten, da sie ihm doch in der schmählichsten und demütigendsten Weise, die man sich vorstellen kann, den Laufpass gegeben hatte. Und nun war ihre Vergangenheit zurückgekehrt, um sich über sie lustig zu machen.
„Ich dachte mir, dass Sie es sind“, sagte sie langsam und mit Bedacht. „Ich habe Ihre Stimme erkannt.“
„Wie schmeichelhaft für mich nach all den Jahren“, erwiderte Stockhaven trocken. Er stützte den Kopf auf die Hand. „Was tun Sie hier?“
Isabella blickte auf die Tür, hinter der der Kerkermeister höchstwahrscheinlich lauschte. Jetzt durften auf keinen Fall Namen genannt werden, wenn sie ihre Anonymität bewahren wollte. Daran war Stockhaven vermutlich auch für seine Person gelegen.
„Ich suche jemanden“, sagte sie zögernd.
„Sicher nicht mich.“ Stockhaven erhob sich geschmeidig.
Er war groß und breitschultrig, und seine Gestalt schien die ärmliche Zelle zu beherrschen. Sein ganzer Körper strahlte eine Kraft aus, die die stickige Enge des Raumes nicht zu unterdrücken vermochte.
„Nein, ich habe nicht eigens nach Ihnen gesucht“, sagte sie mit etwas mehr Mut in der Stimme. „Aber da ich Sie nun gefunden habe …“ Sie hielt inne. Könnte sie jetzt ihr Anliegen vorbringen? Nein, das wäre etwas zu plump, selbst für sie. Außerdem gab es Dinge, die sie wissen wollte.
„Was wichtiger ist“, fuhr sie fort, „was tun Sie hier, Sir, unter dem Namen John Ellis?“
Sein dunkler Blick nahm für Sekunden einen durchdringenden Ausdruck an, ehe er wieder mit kühler Gelassenheit auf ihr ruhte. Isabella konnte seine Gefühle erraten. Dies war ihm nicht gleichgültig. Er wollte seine wahre Identität nicht offenlegen, und er hätte es sicher lieber gesehen, wenn sie nicht ausgerechnet im Fleet-Gefängnis auf ihn gestoßen wäre.
„Verzeihen Sie, aber das geht Sie nichts an.“ Sein Ton war schroff.
„Vielleicht doch“, antwortete sie mit fester Stimme und trat einen Schritt weiter vor. Tausend Zweifel gingen ihr durch den Kopf, und ebenso viele Gründe stellten sich ein, die ihr sagten, dass es die denkbar schlechteste Idee war, Marcus Stockhaven zu bitten, sie zu heiraten. Aber sie ließ all diese Gründe unbeachtet. Isabella war fest entschlossen, die unerwartete Chance zu nutzen, die seine Anwesenheit hier ihr bot.
„Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten, Sir“, sagte sie jetzt mit größerer Selbstsicherheit. Wieder vermied sie es, ihn beim Namen zu nennen. „Helfen Sie mir, und ich will … Ihnen helfen. Zumindest werde ich niemandem sagen, dass ich Sie hier gesehen habe.“
Marcus Stockhaven antwortete nicht. In seinem Schweigen lag etwas, das sie einschüchterte. Hastig fuhr sie fort: „Ich nehme an, niemand weiß, dass Sie hier sind?“
Noch immer sagte er nichts.
Aber sie ließ nicht locker. „Ich vermute, Sie wünschen nicht, dass jemand das weiß?“
Diesmal sah sie, wie ihre Worte sein Schweigen durchdrangen. Stockhaven machte eine unwillkürliche Bewegung. Wieder bohrte sich dieser harte, dunkle Blick in sie. „Vielleicht nicht.“
„Die Schande des Schuldgefängnisses …“
„Ja“, unterbrach er sie. „Wollen Sie mich erpressen, Madam?“ Ein spöttisches Lächeln spielte um seinen Mund. „Ich bedaure, nicht zahlen zu können.“
„Ich will nicht Ihr Geld“, sagte sie. „Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.“
„Mich? Um einen Gefallen?“ Stockhavens Lächeln wurde breiter. „Sie müssen ja verzweifelt sein, auch nur an so etwas zu denken.“
„Ja, vielleicht. Aber Sie müssen erst recht verzweifelt sein, dass Sie überhaupt hier sind.“
Er neigte den Kopf und gab damit zu, dass Isabella ins Schwarze getroffen hatte. „Also? In welcher Weise können wir uns … gegenseitig helfen?“
In seinem Ton lag etwas, das Isabella die Zornesröte ins Gesicht trieb. Sie erinnerte sich daran, wie mühelos dieser Mann stets ihre Schutzschilde hatte durchbrechen können. Nun fühlte Isabella sich durch seine bloße Gegenwart überraschend verletzbar, ja geradezu verstört. Daher versuchte sie, ihre Aufgewühltheit durch äußerliche Gelassenheit zu tarnen.
Sie blickte sich in der schmutzigen Zelle um, sah die tropfnassen Wände und die bloße Matratze, auf der eine einzige schmutzige Decke lag.
„Als Gegenleistung für einen Gefallen von Ihnen will ich nicht nur schweigen, sondern ich bin bereit, Ihren Aufenthalt hier angenehmer zu machen“, erklärte sie und fügte hinzu: „Ein eigenes Zimmer, saubere Wäsche, gutes Essen und Wein …“, dabei fiel ihr das Buch auf dem Tisch ein, „und mehr Bücher zum Lesen.“
Marcus Stockhaven sah Isabella nachdenklich an. Wie in stummer Bitte trat sie noch einen Schritt auf ihn zu. Einen Augenblick lang schwieg er. Sie spürte deutlich, wie ein Zittern durch ihren Körper lief, während sie auf seine Antwort wartete.
„Wie großzügig von Ihnen“, erwiderte er spöttisch. „Aber nun heraus mit der Sprache. Was wollen Sie?“ Er sprach in einem gelassenen Ton, aber in seinen dunklen Augen war Kälte.
Isabella holte tief Luft. Einen Augenblick lang zögerte sie, doch dann gab es kein Zurück.
„Ich möchte, dass Sie mich heiraten“, sagte sie, und die Überwindung war ihrer Stimme anzumerken.