17. KAPITEL
„Sir Stanley und Lady Jensen, Lady Marr, Mr. und Mrs. Latimer, Mrs. Bulstrode, Mr. und Mrs. Spence …“
Isabella wiederholte die Namen aller bedeutenden Einwohner von Salterton, an die sie sich erinnern konnte, während sie und Marcus den Wagen bestiegen, der sie zum ersten Gesellschaftsabend von Salterton bringen sollte.
„Ich möchte wissen, ob Miss Parry noch da ist, und dann gab es noch Captain Walters.“
Marcus umschloss Isabellas Hand fest und beruhigend, weil sie nervös mit dem Saum ihres Umhangs spielte.
„Bella, deine Namensaufzählung hört sich an wie ein Appell an Bord eines Schiffes“, sagte er. „Alles wird gut gehen, da bin ich ganz sicher. Du bist bezaubernd und schön, und wenn du ihre Namen kennst, dann wird jeder das als einen zusätzlichen Vorzug ansehen.“
„Ach“, rief sie plötzlich aus, „ich habe das niederdrückende Gefühl, dass jetzt der Augenblick kommt, in dem sich Pens Prophezeiung erfüllt.“
„Und die wäre?“
„Dass ich mich an keinem Ort zur Ruhe setzen könnte, am allerwenigsten in Salterton.“ Isabella biss sich auf die Unterlippe. „Sie hält mich für viel zu skandalträchtig.“
„Wenn man deinen Auftritt von gestern als Maßstab nimmt“, antwortete er lächelnd, „dann könnte sie recht haben.“
„Ich weiß nicht, was du meinst“, erwiderte sie mit einer Spur von Belustigung in ihren Augen. „Wenn du dich auf mein Baden beziehst, dann kann ich dir versichern, dass alles vollkommen sittsam verlief.“
Marcus drehte sich rasch herum, um sie anzusehen. „Bella“, sagte er, „ich weiß, dass du nackt geschwommen bist. Ich habe dich gesehen.“
Sie unterdrückte ein Lächeln. Damit hatte sie Marcus einen ihrer vergnüglichsten Streiche gespielt. An dem Tag hatte er sie immer wieder von der Seite angesehen, so als ob er nicht recht glauben konnte, dass er sich so geirrt hatte.
Wirklich, sie empfand große Befriedigung dabei, wenn sie Marcus so necken konnte. Sein plötzliches Erscheinen an der Badekabine hatte sie erschreckt und verwirrt. Nachdem er gegangen war, war sie aus dem Wasser gestiegen und hatte sich eiligst angezogen. Die einzige andere Möglichkeit wäre gewesen, Marcus vom Pferd ins Wasser zu ziehen – wobei Martha Otter sich mit Sicherheit energisch gegen das gemischte Baden ausgesprochen hätte, besonders aber gegen die Art, die Isabella im Sinn gehabt hatte. Ihr Verstand sagte ihr, dass es das einzig Vernünftige gewesen war, sich Marcus vom Leibe zu halten, aber ihr eigenwilliger Körper flüsterte ihr etwas ganz anderes zu.
„Ich habe dich gesehen“, wiederholte er und lächelte. „Nackt. Es war sehr anregend.“
An diesem schwülen Abend war es sowieso schon recht warm in dem Wagen. Jetzt fühlte Isabella sich erst recht erhitzt. Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern.
„Ich überlegte gerade“, fuhr er fort, „als Teil unserer … Abmachung … könntest du vielleicht mit mir schwimmen gehen?“
Isabella malte sich verlockende Bilder aus: Wasser rann an seinem Körper herab und berührte klar und kühl ihre Haut, seine Nacktheit gegen ihren eigenen bloßen Körper gedrückt, der heiße Sand unter ihren Füßen und die Wärme der Sonne auf ihrem Rücken … Unruhig rückte sie auf dem Sitz hin und her, als sie eine vertraute Anspannung in der Magengegend spürte. Sie hatte Marcus ihr Bett verweigert, und nun bemühte er sich nach Kräften, sie zu einer Sinnesänderung zu veranlassen und erneut zu verführen. Und – sie mochte es selbst kaum glauben–sie wollte verführt werden. Und das schon nach drei Tagen. Vielleicht lag es an all den Erinnerungen, die hier in der Luft lagen. In Salterton hatte Isabella bereits früher die Leidenschaft mit Marcus gekostet; und jetzt kämpfte sie einen aussichtslosen Kampf gegen den Versuch, sich diese Lust zu versagen.
Marcus’ lange und starke Finger waren mit den ihren verschränkt. Licht und Schatten spielten auf seinem Gesicht, und in seinen Augen brannte dunkles Verlangen. Er lehnte sich enger an sie.
„Bella …“
Der Wagen hielt mit einem Ruck.
„Wie ärgerlich, dass die Fahrt nicht länger dauert“, sagte er nur. Er ließ Isabella los, stieg zuerst aus, um ihr die Stufen herunter zu helfen und sie dann in den hell erleuchteten Saal zu führen.
Die Gesellschaftssalons von Salterton waren erst kürzlich erbaut worden und grenzten an die kleine Leihbücherei auf der breiten Strandpromenade. Heute Abend waren sehr viele Leute in den Räumen. Isabella musste sich anstrengen, um zu erkennen, wie der Zeremonienmeister sich aus der Menge löste und mit ausgestreckter Hand auf sie zukam, um sie zu begrüßen. Dann eilte eine ältere Dame auf Isabella zu und umarmte sie zu ihrer Überraschung ganz herzlich.
„Meine Liebe! Darf ich die Erste sein, die Ihnen sagt, dass es eine große Freude ist, Sie wieder in Salterton zu sehen? Ich habe gehört, dass Sie zurück sind und konnte es gar nicht glauben!“ Sie küsste Isabella auf die Wange und hielt sie am ausgestreckten Arm fest. „Oh, ich erinnere mich noch sehr gut an die Zeit, als Sie ein kleines Mädchen waren! Sie waren so ein liebes Kind. Ihre Tante und ich waren gut miteinander befreundet, wissen Sie.“
„Wie geht es Ihnen, meine Liebe?“, erkundigte Isabella sich, als sie sich aus der festen Umarmung gelöst hatte. Sie hatte keine Ahnung, wer die Dame war und warf Marcus einen hilfesuchenden Blick zu. Aber er zuckte nur die Achseln, bevor er von jemand anders in Anspruch genommen wurde. Isabella fragte sich, ob sie sich während des ganzen Abends überhaupt noch sehen würden.
Die Fremde redete immer noch munter weiter, als wären sie die engsten Busenfreundinnen. Zum Glück hatten die Jahre als Gemahlin eines Fürsten Isabella darin geschult, so zu erscheinen, als ob sie mit vielen Leuten bekannt war, selbst wenn sie sie noch nie gesehen hatte.
„Es ist tatsächlich viele Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben“, sagte sie dann verbindlich lächelnd. „Wie geht es der Familie, Madam?“
Die Dame strahlte. „Oh, Mr. Goring geht es sehr gut, danke. Er ist heute Abend nicht hier. Er leidet so an seinem Rheuma, müssen Sie wissen. Und die liebe Cecilia hat letztes Jahr geheiratet und lebt jetzt in der Nähe von Oxford. Es wird eine Freude sein, wenn wieder eine Herrin auf Salterton Hall weilt, die ein Interesse an dem Anwesen hat“, fuhr Mrs. Goring fort. „Die arme Lady Jane war in den letzten Jahren recht schwach geworden, und dieser Schwiegersohn, Stockhaven, hat sich dort kaum sehen lassen. Salterton Cottage ist so sehr vernachlässigt worden, dass man sich nicht wundern muss, dass jemand es niederbrennen wollte! Ein Schandfleck ist aus dem Haus geworden! Unverantwortlich!“ Mrs. Goring hielt inne und hob ihre Lorgnette ans Auge. „Also so etwas! Ich glaube, da drüben ist tatsächlich Stockhaven! Niemand hat mir gesagt, dass er nach Salterton zurückgekommen ist! Dass ich aber auch eine solche Neuigkeit nicht mitbekommen habe!“
„Lord Stockhaven ist erst diese Woche zurückgekehrt, Madam“, sagte Isabella. Ihre Lippen zuckten, als sie merkte, dass Marcus die wenig schmeichelhafte Bemerkung über ihn mitgehört hatte. „Genauer gesagt, wir sind zur gleichen Zeit zurückgekommen. Lord Stockhaven und ich haben kürzlich geheiratet.“
Mrs. Goring wandte sich langsam und mit unverhülltem Erstaunen wieder Isabella zu. Durch die Lorgnette präsentierte sie Isabella den furchterregenden Anblick ihres stark vergrößerten Auges. „Nun!“, sagte sie mit Nachdruck. „Das sind aber wirklich Neuigkeiten!“ Damit schenkte sie Isabella ihr verbindlichstes Lächeln, nickte Marcus jedoch recht kühl zu und entschuldigte sich dann, um die Neuigkeit der am nächsten stehenden Frau ins Ohr zu flüstern.
Zur Gesellschaft von Salterton gehörten Stutzer, Lebemänner, karrieresüchtige Männer, Offiziere mit halbem Sold, reiche Witwen, arme Witwen, Debütantinnen, Ehefrauen … Es war wie London en miniature. Isabella machte Konversation, lächelte, stellte Fragen und tanzte mit einigen glücklichen Gentlemen. Und die ganze Zeit dachte sie an Marcus am anderen Ende des Raumes. Er hatte nicht um den ersten Tanz gebeten, und Isabella war darüber ein wenig traurig. Ein ernster junger Mann hatte ihn in ein Gespräch verwickelt und schien ihn von irgendetwas überzeugen zu wollen.
Isabella ließ den nächsten Tanz aus und setzte sich neben einem alten Kapitän zur See, dessen Erzählungen von Seeabenteuern sie keineswegs langweilten. Marcus kam immer noch nicht zu ihr, und sie musste sich selbst in Erinnerung rufen, dass sie es gewesen war, die darauf bestanden hatte, dass die Ehe nur auf dem Papier existierte. Sie kam ihrer gesellschaftlichen Pflicht nach – genau wie er. Sie waren öffentlich zusammen angekommen, und für den Rest des Abends war jeder seine eigenen Wege gegangen, wie es den Vorstellungen des Ton entsprach. Aber Isabella fühlte sich elend dabei.
„Ihr gehorsamer Diener, Lady Stockhaven.“ Ein Gentleman verbeugte sich und bat um das Vergnügen des nächsten Tanzes. Sie erkannte ihn als Mr. Owen, einen der Sommerbesucher, der ihr zu Beginn des Abends vorgestellt worden war. Marcus war nach wie vor von dem Gespräch in Anspruch genommen, und Tanzen schien das Letzte zu sein, das ihm in den Sinn kam. Isabella gab dem Neuankömmling lächelnd die Hand.
„Danke, Sir. Ich freue mich auf den Tanz.“
Während sie ihre Plätze in der Gruppe einnahmen, fragte Isabella sich, ob Mr. Owen überhaupt tanzen konnte. Offenbar war er zur Meereskur in Salterton, denn seine Haut wies eine wächserne, ungesunde Blässe auf. Seine grauen Augen waren glanzlos und ohne besonderen Ausdruck, außerdem hinkte er. Isabella hielt ihn für etwas älter als sie selbst, er sah jedoch nicht so aus, als ob er sich zum alten Eisen zählte. Der Geruch von Mottenkugeln und Fruchtlikör umwehte ihn, und nicht nur das ließ sie schaudern. Es hatte auch nichts mit seinem Unwohlsein zu tun, sondern mit etwas ganz und gar Unnatürlichem, Krankhaften. Schlimmer noch: Er kam ihr auf beunruhigende Weise bekannt vor. Sie wünschte, sie hätte den Tanz mit ihm abgelehnt.
„Kuren Sie mit dem Meerwasser, Sir?“, fragte Isabella mehr um Konversation zu machen als aus echtem Interesse. Mr. Owen nickte.
„Ich leide an Rheuma, Lady Stockhaven. Außerdem habe ich nervliche Beschwerden und von Zeit zu Zeit geringfügige Übelkeit. Seeluft und häufiges Baden sind die einzige Kur.“
Isabella erinnerte sich, wie ihre Tante einmal gesagt hatte, dass Ärzte und Kuren Leute dazu brachten, sich krank zu fühlen. Sie unterdrückte ein Lächeln.
„Das tut mir leid“, sagte sie.
Mr. Owens glasiger Blick ruhte auf ihr. Er lächelte schwach und gezwungen. „Ich muss gestehen, dass Sie mir zu gesund für diesen Ort erscheinen, Lady Stockhaven, aber ich habe das Gefühl, dass Sie in kurzer Zeit von der Seebrise eine Erkältung bekommen.“
„Das ist ja sehr beruhigend“, antwortete sie trocken.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Marcus sich endlich von dem eifrigen jungen Mann zu befreien suchte. Und eine kleine Falte erschien zwischen seinen Brauen, als er in Isabellas Richtung blickte. In dem ganzen Raum war kaum jemand, der gesünder aussah als Marcus, und Isabella hatte plötzlich den Wunsch, zu ihm zu eilen und ihn von hier wegzuführen, damit sie ihre beiderseitige gute Gesundheit feiern und den Geruch von Krankheit abschütteln könnten – und zwar in einer Weise, die die Hälfte der Bewohner Saltertons vor Schreck in ein frühes Grab bringen würde. Isabella suchte Marcus’ Blick, und er brach das Gespräch ab. Dabei blickte er sie fragend an. Isabella öffnete die Lippen, während sie ihn anstarrte. Es verschlug ihr fast den Atem, weil ihr bewusst wurde, wie sie einander mit gespannter Wachheit ansahen. Marcus’ Blick ruhte auf ihr, sodass ein wohliger Schauer sie durchrieselte. Sein Blick war intensiv und in geradezu intimer Weise auf sie gerichtet. Hier in den Gesellschaftssalons von Salterton brachte seine ganze Erscheinung das Verlangen zum Ausdruck, sie wieder ganz zu besitzen. Er kam auf sie zu.
Die musikalische Darbietung war fast zu Ende. Isabella löste ihren Blick und ihre Gedanken von Marcus und zwang sich zu einem Lächeln für den kränklichen Mr. Owen.
„Vielen Dank für den Tanz, Sir. Darf ich Sie zu einem Stuhl begleiten? Sie scheinen etwas außer Atem zu sein.“
Owen nickte und lehnte sich schwer an ihren Arm. „Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich Sie nicht auf dem üblichen Gang durch den Raum begleiten kann, Lady Stockhaven.“
„Bitte machen Sie sich deswegen keine Sorgen“, antwortete sie freundlich und führte ihn mit einiger Erleichterung zu einem der geschnitzten Stühle. Sie spürte ein Prickeln im Nacken und wusste, dass Marcus in der Nähe war.
„Sie müssen mich entschuldigen, Sir“, sagte sie zu Owen. „Ich glaube, ich werde zum nächsten Tanz aufgefordert.“
„Ja, von mir“, sagte eine Stimme ganz nahe. Marcus streckte ihr die Hand entgegen und verbeugte sich leicht. Der feurige Ausdruck in seinen Augen galt nur ihr allein. Dennoch wahrte er die gesellschaftlichen Formen, wenngleich sein Blick ihr sagte, wie sehr er nach ihr verlangte.
„Guten Abend, Owen“, begrüßte Marcus ihn und zog Isabella eng an sich. Sie legte die flache Hand auf seine Seite und spürte das kräftige Pochen seines Herzens gegen ihre Handfläche.
Mr. Owen stieß einen lauten Seufzer nach Art eines Invaliden aus. „Guten Abend, Stockhaven. Ich hoffe, dass Sie heute Abend weder an Gicht noch an Anfällen leiden?“
„Nein“, antwortete Marcus. Isabella ahnte, dass er sich innerlich vor Lachen schüttelte. „Vielen Dank, Sir. Mir geht es gut.“
Voller Ungeduld wandte er sich Isabella zu. „Kommen Sie, meine Liebe. Wir sind sicher stark genug für einen Walzer. Und dann denke ich, dass wir uns zurückziehen sollten – ehe wir uns ganz verausgaben.“
Isabella war überrascht, dass man in der konservativen Gesellschaft von Salterton Walzer spielte. Nur die kräftigsten und mutigsten der Einwohner des Dorfes machten sich daran, den Walzer zu tanzen. Die anderen standen abseits mit einer Mischung aus Neid und Missbilligung, um zu sehen, wer den Mut hatte, sich zu beteiligen.
„Ich hoffe, dir macht der Abend Freude, Marcus“, sagte Isabella leichthin, als sie ihre Aufstellung nahmen. Sie war sich seiner Gegenwart sehr bewusst, aber auch der Anwesenheit der zahlreichen Leute um sie herum. Irgendwie musste sie versuchen, durch diesen Tanz zu kommen, ohne ihre Gefühle öffentlich zu zeigen.
„Um die Wahrheit zu sagen, das hat mir alles ziemlich zugesetzt“, bemerkte er und zuckte etwas zusammen. Er schien auch Schwierigkeiten zu haben, sich auf Konversation zu konzentrieren.
„Man hat mich aufgezogen wegen meines Mangels an Bürgerstolz und mich als Geizhals betrachtet, weil ich mich geweigert hatte, in den Pier zu investieren. Und dann habe ich die Meinung dieser Goring mit anhören müssen, dass ich für meine Frau nicht gut genug sei! Wohingegen du …“, Marcus wandte sich Isabella zu und sah sie prüfend an, „von allen gefeiert wurdest. Es ist bemerkenswert, dass du dich nach all diesen Jahren an Mrs. Goring erinnern konntest. Sie schien äußerst erfreut darüber zu sein.“
Isabella flüsterte Marcus mit einem leichten Lächeln zu: „Ich hatte keine Ahnung, wer sie war, als sie mich begrüßte. Aber sie schien so erfreut, mich zu sehen, dass es unhöflich gewesen wäre zuzugeben, dass ich sie überhaupt nicht kannte.“
Er lächelte.„Das hätte ich nicht gedacht. Wie gewandt du dich in der Gesellschaft bewegen kannst. Und wie freundlich du allen gegenüber bist.“ Er hielt einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr: „Man sagte mir, dass du der Schule Bücher und Musikinstrumente hast zukommen lassen. Dass du an Leute geschrieben hast, wenn deine Tante dir Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen weitergereicht hatte, dass du jeden Besucher willkommen geheißen hast, der sich auf seinen Reisen bis nach Cassilis gewagt hatte. Und dass du deinen Einfluss dazu genutzt hast, denen zu helfen, die normalerweise keine Arbeit oder keine Bildung bekommen hätten und denen es an Beziehungen fehlte. Du erstaunst mich, Isabella. Ich wusste von alledem nichts.“
Isabella lächelte innerlich. Marcus zu überraschen machte ihr Freude. Er hatte sich viele Vorurteile über sie zurechtgelegt, und es tat gut, sie zu widerlegen.
Die Musik begann.
Isabella hatte noch nie zuvor mit Marcus Walzer getanzt. Es war einfach wunderbar. Mehr als das, es war sündhaft, sinnlich und verführerisch. Sie spürte die Wärme seiner Handfläche auf ihrem Rücken und die Bewegung seiner Schenkel gegen ihr Seidenkleid. Ihre Sinne wurden ganz davon eingenommen, und ihr Körper schmolz vor Vergnügen dahin – sie wehrte sich nicht gegen diese Empfindungen. So ein Walzer war eindeutig gefährlich. Man sollte ihn verbieten. Was die Gelübde der Enthaltsamkeit anging, sich ihrem Mann zu versagen, nun … offenbar hatte sie bisher nicht richtig nachgedacht, und der Wein, den sie an diesem Abend getrunken hatte, verhalf ihr jetzt anscheinend zu einer klaren Sicht der Dinge.
„Bella.“ Marcus sprach leise in ihr Ohr, und Isabella erschauerte bei dem Hauch seines Atems gegen ihre Haut.
„Hm?“
„Wer war der Mann?“
Isabella löste sich aus ihren sinnlichen Träumen und versuchte, sich auf Marcus’ Gesicht zu konzentrieren. „Welcher Mann?“ Sie räusperte sich. „Von welchem Mann sprichst du?“
Marcus lachte. „Du hörst dich etwas zerstreut an. Bist du nicht ganz bei der Sache, Bella?“
„Nicht besonders.“ Sie strich mit den Fingern zart über seine Schulter.
Marcus blickte sie fragend an. „Woran hast du dann gedacht?“
„Ich habe mir vorgestellt, in deinen Armen zu liegen.“
Marcus kam aus dem Takt. Einen Augenblick lang fragte Isabella sich, ob ihre schamlose Aussage ihn abgeschreckt haben könnte. Aber dann sah sie in seinen Augen eine Mischung aus Belustigung und wildem Verlangen.
„Im Allgemeinen oder im Besonderen?“, fragte er in rauem Flüsterton.
„Im Besonderen. In etwa fünf Minuten“, flüsterte sie zurück.
Sie hatte es zu weit getrieben. Marcus ließ sie sofort los, allerdings nur um ihre Hand zu nehmen und sie vom Tanzboden zur Tür hin zu ziehen. Es erschien ihnen endlos lange, sich von allen zu verabschieden. Isabella dankte Mrs. Goring mit knappen Worten für ihre eindringliche Einladung zum Tee. Alles was sie wollte, war, mit Marcus im traulichen Dunkel allein zu sein und seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Endlich waren sie in der Kutsche, und die Tür fiel ins Schloss. Mit einem Laut der Erleichterung sank Isabella in Marcus’ Arme und spürte mit Wonne seinen Mund auf ihren Lippen.
Er ließ die Zunge tief in ihren geöffneten Mund gleiten, sodass sie Mühe hatte zu atmen. Mit beiden Händen fuhr er durch ihr Haar. Seine Lippen waren hart und gleichzeitig verführerisch, fordernd und lockend zugleich. Hungrig erwiderte Isabella den Kuss, drängte sich ihm voller Ungeduld entgegen.
Marcus ließ seine Hand in ihr Dekolleté gleiten und umfasste ihre Brust. Isabella kam ihm willig entgegen. Wieder erinnerte sie sich schwach daran, dass sie hatte warten wollen, ehe sie sich ihm wieder hingab, aber dann wurde ihr ganz deutlich, dass sie ihn liebte, und das war ihrem übervollen Herzen Grund genug.
In kürzester Zeit hatte er ihr Kleid und Unterwäsche von den Schultern gestreift, sodass sie von der Taille aufwärts nackt war. Sie war Marcus zugewandt, ihre Beine ruhten ausgebreitet auf seinen Oberschenkeln. Er umfasste fest ihre Taille, und Isabella beugte ihren Kopf zurück und seufzte vor Lust, während er ihre Brüste mit Küssen bedeckte. Ganz behutsam biss er ihr zart in die Brustknospen. Sie tauchte ein in reines Gefühl und wünschte, es möge nie enden.
Die Kutsche kam mit einem Ruck zum Stehen, und Isabella wäre fast von Marcus’ Schoß gefallen.
Marcus verwünschte das jähe Ende der Zweisamkeit und sagte: „In Zukunft müssen wir dafür sorgen, dass der Kutscher einen Umweg nimmt.“
Schnell half er Isabella dabei, ihre Kleider zu ordnen, und gab ihr Halt, als sie mit weichen Knien die Stufen hinunterging. Sie wollte am liebsten, dass er sie auf die Arme nahm und sie die Treppe hinauf in ihr Schlafgemach trug. Aber Marcus blieb umsichtig.
Bei dem schwachen Licht der Wagenlampen wandte er sich ihr zu und sprach ruhig: „Bella, wenn du deine Meinung geändert hast, dann werde ich dich jetzt allein hineingehen lassen. Falls nicht – werde ich nie wieder zulassen, dass du allein schläfst.“
Sie ergriff seinen Arm. „Ich will nicht allein sein“, sagte sie eindringlich.
Weitere Worte waren nicht mehr nötig. Er legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie die Stufen zur Eingangstür hinauf und weiter in die Eingangshalle. Freudige Erregung erfasste Isabella. Sie spürte sein brennendes Verlangen in allen seinen Berührungen. Nur noch einen Augenblick und sie wären sicher in ihrem Schlafgemach. Dort könnten sie sich gegenseitig die Kleider vom Leibe reißen, auf die weiche Matratze fallen und einander nehmen mit all der wilden Leidenschaft, die sie durchfuhr …
Plötzlich blieb Isabella stehen, und jeder Gedanke daran, die Treppe hinaufzustürmen, um ins Bett zu kommen, war auf einmal verschwunden.
Eine bunte Anzahl von Gepäckstücken stand am Fuße der Treppe aufeinandergestapelt, und aus dem Salon ertönten laute Stimmen.
„Pen“, sagte Isabella tonlos, „und Freddie auch, vermute ich.“
„Lord Standish und Miss Penelope Standish sind eingetroffen, Mylord, Mylady“, bestätigte die Wirtschafterin, indem sie geschäftig in die Eingangshalle eilte, „und Mr. Cantrell.“
Isabella tauschte einen Blick mit Marcus. In seinen Augen erkannte sie milde Überraschung und Resignation, so als ob er all das erwartet hatte und sich nun in sein Schicksal fügte. Er sah sie an und schüttelte tief enttäuscht den Kopf.
Sie biss sich auf die Lippen. „Wie unpassend!“, sagte sie.
„Mylord?“, sagte die Wirtschafterin etwas unsicher. „Ich habe Ihre Gäste in den Salon gebeten.“
„Danke, Mrs. Lawton“, antwortete Marcus freundlich. Er holte tief Luft, lächelte Isabella zu und hielt ihr seine Hand hin.
„Komm, meine Liebste, sehen wir doch, was unsere unerwarteten Gäste zu sagen haben.“
Sie hörten Pen, wie sie ihren Bruder zurechtwies, gerade als Mrs. Lawton die Tür für sie öffnete.
„Also wirklich, Freddie“, sagte Pen gerade, „was ist bloß in dich gefahren, dass du dich so überstürzt davongemacht hast, ohne ein Wort zu sagen?“
„Ich wollte einfach ans Meer“, hörte Isabella Freddie kleinlaut antworten. „Meine Gesundheit, weißt du.“
„Unsinn!“, rief Pen aus. „Du machst dir doch gar nichts aus dem Landleben!“
„Das stimmt!“, griff Freddie das Stichwort auf. „Aus dem Landleben mache ich mir auch nichts – aber das Meer, Penelope …“
„Guten Abend, Kinder“, sagte Isabella freundlich in der Absicht, den Wortwechsel der Geschwister zu beenden. Sie ging hinüber zum Sofa und gab Pen einen Kuss auf die Wange, während Marcus Alistair begrüßte. „Wir haben euch draußen im Hof gehört. Wie schön, euch beide hier zu sehen!“
„Es tut mir leid, Bella.“ Pen hatte den Anstand, leicht verlegen dreinzublicken. Sie drehte sich schwungvoll auf dem Sofa herum und begrüßte Marcus: „Guten Abend, Cousin Marcus.“ Dann wandte sie sich wieder Isabella zu. „Ich habe Freddie eben erklärt, dass er nicht einfach ohne richtige Vorbereitungen verschwinden kann.“
„Das haben wir von draußen auch gehört“, erwiderte Isabella, wobei sie bemerkte, dass Marcus Freddies träge Gestalt lange prüfend ansah. „Ich kann also davon ausgehen, dass ihr nicht zusammen hierher gereist seid?“, erkundigte sich Isabella.
„Nein, das sind wir nicht“, antwortete Pen entrüstet. „Freddie wollte nicht auf mich warten, sonst hätte ich ihn begleiten können!“
„Zum Teufel“, sagte Freddie und wurde rot dabei. „Es war einfach eine Entscheidung des Augenblicks. Kann man denn nicht einmal spontan handeln?“
Isabella wandte sich an Alistair Cantrell, der sich in seiner bekannt ruhigen Art zurückgehalten hatte.
„Guten Abend, Mr. Cantrell“, sagte sie. „Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass Sie meine schwierigen Geschwister erdulden mussten und meine Schwester sicher hierher begleitet haben.“
„Es war mir ein Vergnügen, Lady Stockhaven“, gab Alistair prompt zurück.
„Ich sehe, dass man Ihnen Erfrischungen angeboten hat“, fügte Isabella hinzu, indem sie auf die Speisereste auf einem Tablett blickte, „und dass zumindest Pen es sich hat schmecken lassen.“
„Ich hatte Hunger“, brachte Pen zu ihrer Verteidigung vor. „Wenn ich reise, bekomme ich immer Appetit.“
Schweigen trat ein. Isabella sah, wie Alistair Cantrell ihre Schwester mit einem Lächeln beobachtete, und fragte sich erstaunt, ob sich zwischen Pen und Mr. Cantrell etwas entwickelte.
„Ich wollte noch einen Schlaftrunk zu mir nehmen“, sagte Marcus leichthin. „Alistair, Standish, macht ihr mit?“ Er sah Freddie an, und wieder bemerkte Isabella eine Spur von Ablehnung in seinen Augen. Sie hatte diese Feindseligkeit zwischen Freddie und Marcus auch schon früher wahrgenommen, wusste aber keine Erklärung dafür.
Freddie bewegte sich etwas verlegen hin und her. „Ich glaube, ich spreche zuerst mit meiner Schwester, Stockhaven, wenn Sie mich entschuldigen.“
„Selbstverständlich“, antwortete Marcus höflich und ging mit Alistair auf die Tür zu. „Wir sind in der Bibliothek, wenn Sie dann zu uns stoßen möchten.“ Er blickte mit einem leichten Lächeln zu Isabella. Sein Blick entschuldigte sich und gab gleichzeitig ein Versprechen ab. Isabella verstand ihn gut.
„Gute Nacht, Liebste“, sagte er.
Isabella seufzte unwillkürlich, als sich die Tür hinter ihrem Mann schloss, und wandte sich dann ihren streitenden Geschwistern wieder zu.
„Ich sage dir etwas, Pen“, ließ Freddie sich gerade lautstark vernehmen, „Cantrell wird an dir gar nicht mehr interessiert sein, jetzt wo er erlebt hat, wie du mich heruntergeputzt hast. So eine Xanthippe liebt niemand!“
Pen wurde feuerrot. „Ich versuche ja überhaupt nicht, Mr. Cantrell für mich zu interessieren, Freddie.“
„Das ist auch gut so!“, versetzte ihr Bruder höhnisch. „Nichts geht einem Mann mehr gegen den Strich als eine zänkische Frau!“
„Freddie, Pen!“, fuhr Isabella dazwischen. „Wenn ihr eure Streitereien nur für einen Augenblick lassen könntet und mir sagen würdet, worum es eigentlich geht, dann wäre ich schon sehr dankbar.“
„Haben wir etwa eure Flitterwochen durch unsere unangemeldete Ankunft unterbrochen, Bella?“, fragte Pen spitz und pickte die letzten Krümel vom Tablett. „Wenn Marcus dich heute Abend nicht aufsuchen möchte, dann war dem wohl nicht so. Eure Ehe scheint eine recht lauwarme Angelegenheit zu sein.“
„Das geht dich nichts an“, antwortete Isabella gelassen. Sie widerstand dem plötzlichen Drang, Pen zu sagen, dass ihre Ehe mit Marcus gerade recht leidenschaftlich hätte sein können, wenn ihre Geschwister nicht zu einer so unpassenden Zeit angekommen wären.
„Ich würde aber gern wissen, warum ihr beide so überstürzt beschlossen habt, an die See zu reisen.“ Isabella blickte ihren Bruder fragend an. „Freddie?“
Freddie bewegte sich wieder verlegen hin und her.„Ich brauchte etwas Gesellschaft und frische Luft“, murmelte er. „In London ist niemand mehr, nun da die Saison zu Ende ist. Und da du auch weg warst, Bella, war alles langweilig.“
„Das ist sehr schmeichelhaft für mich“, antwortete Isabella trocken. An Freddies abweisend-störrischem, aber auch unglücklichem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass sie höchstwahrscheinlich keine weiteren Auskünfte von ihm bekommen würde. Allerdings zweifelte sie sehr daran, dass seine Erklärung auch nur im Entferntesten der Wahrheit entsprach, und ließ die Sache zunächst auf sich beruhen.
„Und du, Pen?“, fragte sie ihre Schwester.
„Es war deine Schuld“, antwortete Pen hitzig und bekam einen ganz roten Kopf. „Du scheinst vergessen zu haben, Bella, dass du die Erste warst, die London überstürzt verlassen hat. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Dann verschwand Freddie plötzlich, und ich wusste gar nicht, was ich machen sollte. Deshalb habe ich Mr. Cantrell kommen lassen.“
„Das war zu erwarten“, warf Freddie ein.
Pen beachtete ihn nicht. „Wir hielten es für das Beste, hierherzukommen und zu sehen, ob alles in Ordnung war.“
„Ihr habt euch beide ja außerordentlich beeilt“, bemerkte Isabella trocken. „Ich hoffe, dass ein Dienstmädchen dich begleitet hat, Pen.“
Die Röte in Pens Gesicht vertiefte sich. „Natürlich hat Mr. Cantrell dafür gesorgt, dass der Anstand gewahrt wurde. Wir haben uns ein Mädchen aus dem Haushalt seiner Mutter ausgeliehen.“ Sie seufzte. „Von Mr. Cantrell ist nichts anderes zu erwarten. Er ist die Schicklichkeit in Person.“
Zu ihrer großen Überraschung erkannte Isabella plötzlich, dass der Hauptgrund für Pens Wut und ihre schlechte Laune ungestilltes Verlangen war. Nach vielen Stunden in der Gesellschaft eines Mannes, dessen Verhalten ausgesprochen tadellos war, war ihre Schwester völlig aufgewühlt und beinah ohnmächtig vor Ungeduld.
„Nun“, sagte Isabella mit beruhigender Stimme, „ihr seid jetzt hier, und ich freue mich sehr, euch beide zu sehen. Ihr müsst recht müde sein. Wollt ihr auf eure Zimmer gehen?“
„Du kannst Pen mit hinaufnehmen“, sagte Freddie. „Ich würde ganz gern noch einen Schluck von dem Weinbrand nehmen, den du dort hast, Bella.“
„Wie du willst“, antwortete Isabella. „Du willst aber nicht lieber zu Marcus und Mr. Cantrell gehen?“
Er sah sie unsicher an. „Ich würde lieber allein bleiben.“
Wieder spürte Isabella diese betretene Verlegenheit in seinem Verhalten. Das Zusammenleben im Haus dürfte ziemlich schwierig werden, wenn ihr Mann und ihr Bruder einander wie zwei misstrauische Hunde umschlichen. Sie seufzte.
„Gut“, sagte Isabella dann. „Mrs. Lawton wird dir dein Zimmer zeigen, wenn du fertig bist.“
Sie nahm Pen am Arm, und ging mit ihr zusammen die Treppe hinauf. Aus der Bibliothek drangen die Stimmen von Marcus und Alistair, wie sie sich entspannt unterhielten. Pen, die immer noch einen hochroten Kopf hatte, warf einen Blick auf die Tür, ging aber schnell daran vorbei. Isabella sah, dass sie tief in Gedanken versunken war. Pen machte überhaupt keine Bemerkung darüber, dass sie wieder auf Salterton Hall war. Sobald sie das blaue Schlafgemach erreicht hatten, wo sie ungestört waren, ergriff Pen Isabellas Hand.
„Bella, es gibt etwas, was ich dir einfach sagen muss, und dann magst du mich aus dem Haus jagen, wenn du willst!“
Isabella sah sie erstaunt an. „Ich werde mit Sicherheit nichts so Ungeheuerliches tun, Penelope. Was hast du denn zu gestehen?“
Pen ließ sich in den Sessel sinken und rang verzweifelt ihre Hände. „Mr. Cantrell hat mir gesagt, dass ich dir alles erzählen muss.“
„Ich verstehe“, sagte Isabella, wobei sie bei dem plötzlichen Gedanken erschrak, dass sie die Situation völlig falsch eingeschätzt haben könnte. Hatte Alistair Cantrell ihre Schwester auf der Reise nach Salterton gar verführt?
„Ich wollte es dir immer sagen, aber nie schien sich die richtige Gelegenheit zu bieten. Es war einfach so, dass wir kein Geld hatten und ich mir so große Sorgen über Freddies Schulden machte.“ Angst blickte aus Pens blauen Augen. „Oh Bella, bitte verzeih mir! Ich hatte nie die Absicht, dein Vertrauen zu missbrauchen.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, antwortete Isabella, „aber du jagst mir einen Schrecken ein, Pen.“
„Die Klatschspalte in den Zeitungen!“, sagte Pen in dramatischem Ton. Dabei zog sie ihre Reisetasche in die Mitte des Raumes und öffnete langsam und umständlich den Deckelverschluss. „Ich habe Skandalartikel für Mr. Morrows Gentlemen’s Athenian Mercury geschrieben! All die Einzelheiten über deine Schulden, das Haus im Brunswick Gardens und deine plötzliche Heirat …“
„Ich … verstehe“, sagte Isabella zögernd.
„Ich brauchte das Geld“, fuhr sie zerknirscht fort und wühlte dabei in der Tasche herum, sodass ihre Unterwäsche herausflog. „Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen, Bella, aber als wir uns dann wieder richtig nähergekommen waren, hatte ich dich so lieb gewonnen, dass ich mich als elende Verräterin fühlte …“
Isabella setzte sich langsam und schwerfällig auf die Bettkante. „Verstehe ich dich richtig, Pen“, sagte sie, „dass du diejenige bist, die diese Geschichten an die Presse gegeben hat?“
„Ja“, antwortete Pen kleinlaut und mit hochrotem Kopf. Sie hockte sich hin und nahm die Exemplare mit all ihren Artikel in die Hände. „Es tut mir so leid! Ich hatte das Gefühl, ich hätte dich verraten, und Mr. Cantrell sagte …“
„Ja?“, sagte Isabella. „Was hat Mr. Cantrell mit alledem zu tun?“
„Er schreibt für dieselbe Zeitschrift. Wir trafen uns im Büro von Mr. Morrow, und Mr. Cantrell vermutete, dass ich die Klatschspalten geschrieben hatte. Er drängte mich, dir die Wahrheit zu sagen.“
„Nur gut, dass wenigstens jemand bei dieser Angelegenheit einige Skrupel hatte“, antwortete Isabella trocken.
Pen errötete noch mehr. „Oh Bella, bitte hasse mich nicht dafür! Ich war so verzweifelt auf das Geld angewiesen. Aber dann hatten wir uns nach all diesen Jahren wiedergesehen, und ich fühlte mich so schäbig, weil ich das ausnutzte, und war hin und her gerissen.“ Sie seufzte. „Ich sehe jetzt ein, dass das sehr böse von mir war.“ Wieder stieß sie einen tiefen Seufzer aus. „Ich werde das nie wieder tun. Es muss doch andere Möglichkeiten geben, an Geld zu kommen, als mit dem guten Namen meiner Schwester Geschäfte zu machen.“
Isabella schwieg. Sie verstand viel besser, als Pen ahnte, was es hieß, so verzweifelt zu sein.
„Du hast Freddies Schulden erwähnt“, sagte sie dann. „Ich hatte keine Ahnung davon. Ist das der eigentliche Grund, Pen? Steckt er in großen Schwierigkeiten?“
„Ich weiß es nicht genau“, antwortete Pen kleinlaut. „Aber die Kosten des Lebensunterhalts steigen, wir können das Dienstmädchen nicht mehr bezahlen, und ich fürchte, dass Freddie so manches vor mir verbirgt.“
„Zum Beispiel warum er aus einer Laune heraus so überstürzt hierher nach Salterton gekommen ist“, sagte Isabella nachdenklich. „Warum hast du mir nie etwas davon gesagt, Pen?“
„Du hattest doch genug um die Ohren“, antwortete sie niedergeschlagen. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht eher etwas gesagt habe. Ich wünschte, ich hätte es getan.“
Isabella runzelte die Stirn. „Ich kann einfach nicht glauben, dass du meine Ehegeschichten an die Klatschblätter verkauft hast!“
Pen war dem Weinen nahe. „Es tut mir so leid! Ich schwöre dir, dass ich nie vorhatte, mich so zu erniedrigen.“ Sie seufzte. „Hasst du mich jetzt, Bella?“
Isabella schüttelte den Kopf. „Ich kann dich nicht hassen, Pen. Ich weiß nur zu gut, was es heißt, in großen finanziellen Schwierigkeiten zu sein. Außerdem sind wir nur eine kleine Familie, nicht wahr? Wir können es uns nicht leisten, einander zu verlieren.“
Pen brach in Tränen aus. „Oh, ich könnte im Erdboden versinken!“ Sie putzte sich geräuschvoll ihre Nase. „Es tut mir alles so leid, Bella! Wie kann ich das nur wiedergutmachen?“
Isabella seufzte. „Du erzählst mir alles, was du über Freddies Lebensumstände weißt“, antwortete sie und lehnte sich an das Kopfende des Bettes. „Und ich meine wirklich alles, Pen.“ Eine Falte erschien zwischen ihren Brauen. „Hast du je erlebt, dass Freddie irgendwohin geeilt ist, und dann auch noch an die See? Irgendetwas stimmt da nicht.“
Pen stand auf. „Das war ja das Allermerkwürdigste! Er hatte beim Frühstück diesen seltsamen Brief erhalten, woraufhin er sofort davonstürzte! Ich wollte mich ja mit dir treffen“, fügte sie vorwurfsvoll hinzu, „weil wir vorhatten, die Ausstellung in der Royal Academy zu besuchen.“
„Ja, das wollten wir“, antwortete Isabella, während sie versuchte, den wirren Bericht ihrer Schwester in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es fiel ihr nicht zum ersten Mal auf, dass man sehr intelligenten Leuten manchmal nur schwer folgen konnte. „Was für ein seltsamer Brief war das, Pen?“
„Offenbar ein Brief wegen seiner Spielschulden.“ Pen gähnte. „Entschuldigung, Bella. Ich bin so müde. Ich weiß, das ist alles recht unverständlich.“ Sie rieb sich die Augen. „Freddie bekam den Brief beim Frühstück und rannte unmittelbar danach hinaus. Als ich ihm später erzählte, dass du nach Salterton gereist bist, verschwand er ebenso plötzlich – nur eine kurze Nachricht hinterließ er mir. Und er ging ohne Gepäck.“
„Jetzt hat er aber Gepäck“, antwortete Isabella mit Betonung auf jedem Wort. „Ich habe es in der Eingangshalle gesehen.“
Pen runzelte nachdenklich die Stirn. „Das ist aber seltsam. Wie kann er plötzlich Gepäck haben?“
„Er könnte das Notwendigste auf der Reise gekauft haben, denke ich“, sagte Isabella.
Pen breitete abwehrend die Hände aus. „Aber er hat doch gar kein Geld!“
„Spielschulden“, sagte Isabella leise. Sie dachte an ihren Vater und seine Schwäche für Glücksspiele, und die Angst presste ihr das Herz zusammen. Bitte, lieber Gott, mach, dass Freddie sich nicht mit einem dieser grässlichen Geldverleiher eingelassen hat.
„Freddie hat dir wohl nicht gesagt, von wem der Brief war“, sagte Isabella mit wenig Hoffnung.
„Nein“, antwortete Pen, „aber ich weiß, von wem er kam, weil ich ihn aus Versehen geöffnet habe. Die Adresse lautete Wigmore Street, und der Brief war unterschrieben mit dem Namen ‚Warwick‘“.