16. KAPITEL

Die ungewöhnliche Geschichte der Fürstin und des leidenschaftlichen Earl of S sorgt weiterhin für Erstaunen. Die Leser dieser Zeitschrift werden sich wohl an die überstürzte Hochzeit erinnern. Jetzt scheint es, dass die neue Countess ihren Mann eine Woche danach nicht weniger überstürzt verlassen hat. Wie bekannt, verließ sie London, um ihre Flitterwochen allein in einem Seebad zu verbringen. Der Earl ist ihr eiligst nachgereist. Möglicherweise ist die Countess erneut von den Liebesfähigkeiten der Engländer enttäuscht worden und auf der Suche nach einem ausländischen Liebhaber. Wir hoffen, dass die Meeresbrise dem Earl dazu verhilft, seine Lady mit neuer Kraft zufriedenzustellen …
aus: The Gentlemen’s Athenian Mercury, 6. Juli 1816

„Skandalöser Unsinn“, sagte Alistair Cantrell erbost und ließ die Zeitschrift mit einem ärgerlichen Seufzer fallen. Dann betrachtete er missmutig seinen Teller mit den mittlerweile kalten Spiegeleiern. Wirklich, heute Morgen fühlte er sich ausgesprochen unwohl. Ihm gegenüber am Frühstückstisch saß die Ursache seiner schlechten Laune: Miss Penelope Standish, taufrisch und strotzend vor Gesundheit, machte sich mit herzhaftem Appetit über ihr Frühstück her. Offenbar hatte sie gut geschlafen und nicht wach gelegen, um an ihn zu denken.

Sie hatten Alresford recht spät erreicht und zu ihrem Leidwesen festgestellt, dass aufgrund des Jahrmarkts im nahe gelegenen Winchester die besten Zimmer in den Gasthäusern von den zahlreichen Besuchern belegt waren. Schließlich hatten sie Obdach gefunden in der kleinsten und unansehnlichsten von allen Herbergen am Ort. Selbstverständlich hatten Pen und ihr Dienstmädchen das letzte freie Zimmer genommen – worauf Alistair bestanden hatte – , und er hatte die Nacht auf dem Sofa in der Gaststube verbracht. Natürlich hatte er in dem abgestandenen Dunst von Rauch und Herdfeuerasche und bei dem Gedanken an Pen, die unmittelbar über ihm süß träumte, kein Auge zugetan.

„Ich schwöre, diesmal bin ich unschuldig“, sagte Pen, während sie genüsslich ihr drittes Toast verzehrte. Sie sah ihn an und runzelte dann leicht die Stirn. „Fühlen Sie sich wirklich wohl heute Morgen, Mr. Cantrell? Sie sehen etwas angeschlagen aus.“

Alistair sah sie an, und sein Gesichtsausdruck hellte sich etwas auf. Es war ja nicht Miss Standishs Schuld, dass sie solche Geschwister hatte: einen Bruder mit lockerem Lebenswandel und eine Schwester, die rücksichtsloserweise ein Anwesen in Dorset erbte statt in gut zugänglichen Gegenden wie Kent oder Essex.

„Glauben Sie, dass wir Salterton heute erreichen?“, fragte Pen hoffnungsvoll.

Er schüttelte den Kopf.„Das bezweifle ich, Miss Standish. Auf den Straßen ist viel Verkehr, sodass wir verhältnismäßig langsam vorankommen. Ich hoffe, dass wir heute Abend im ‚Three Legged Cross‘ unterkommen und morgen Vormittag Salterton erreichen.“

„Ich möchte bloß wissen, wo Freddie ist“, sagte sie. Ihre Sorge um ihren Bruder hatte aber offenbar keinen hemmenden Einfluss auf ihren Appetit gehabt. „Ich hoffe nur, dass er sich auf den Straßen zurechtgefunden hat. Er hat nämlich einen sehr schlechten Orientierungssinn.“

„Er wird schon irgendeine Unterkunft gefunden haben“, antwortete er kurz.

Pen spitzte ihre schön geschwungenen Lippen. „Oho, Mr. Cantrell! Das war ja recht unverblümt! Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht. Ich habe immer geglaubt, dass Sie außerordentlich gutmütig sind.“

Alistair wurde rot. „Verzeihen Sie, Miss Standish.“

„Keine Ursache“, antwortete sie mit liebenswürdigem Lächeln. „Starke Emotionen in einem Mann sind nicht verkehrt. Ich kann selbst recht leidenschaftlich sein.“

Alistair verschlug es fast den Atem. Dem musste er einen Riegel vorsetzen. Der Gedanke an Miss Standishs Leidenschaftlichkeit würde ihn in den Wahnsinn treiben – besonders in der Enge eines geschlossenen Wagens.

„Meine Hauptleidenschaften im Leben sind Lesen und leichte Gartenarbeit“, sagte Alistair, wobei er manch anderen Drang unterdrückte.

Pen warf ihm einen schnellen Blick aus strahlend blauen Augen zu. „Du liebe Zeit, Mr. Cantrell, das hört sich an, als ob Sie sehr viel sitzen. Ich bin überrascht, dass Sie eine so gute Figur haben. Dem Körper tut ein Mangel an Bewegung gar nicht gut.“

Eine bestimmte Körperregion regte sich bei Alistair allein bei dem Gedanken, welche Art von Bewegung er mit Miss Standish jetzt gern ausüben würde. Er rückte unruhig hin und her und legte die Serviette auf seinem Schoß zurecht.

„Miss Standish …“ Alistair räusperte sich. Das Biest wollte ihn doch wohl nicht zum Besten halten? „Wenn Sie bald reisefertig sein könnten, würde ich das begrüßen.“

„Selbstverständlich, Mr. Cantrell“, antwortete sie und stand auf. „Ich bin schnell fertig, und dann können wir unsere jeweiligen Leidenschaften auf dem Weg nach Salterton durchsprechen. Welch reizvolle Art, die Zeit zuzubringen!“

Und damit rauschte sie aus der Gaststube, während Alistair wieder mit der Serviette hantierte und darüber nachdachte, wohin ihre Leidenschaften sie beide noch führen könnten.

Pen und Alistair wussten es nicht, aber Freddie war nur etwa fünf Meilen von ihnen entfernt. In seinen Mantel gehüllt, schlief er in der Schankstube des „Maiden’s Arms“ auf dem Fußboden. Er war mit der Postkutsche nach Winchester gereist, wo auch er sich dem Problem der Unterbringung gegenübersah. Gelöst hatte er es dadurch, dass er so viel getrunken hatte, dass er in einer Hecke hätte schlafen können, ohne es zu bemerken. Und weil ihm jemand dabei die Geldbörse entwendet hatte, würde es nun recht lange dauern, bis er Salterton erreichte.

Am zweiten Tag in ihrem neuen Heim wachte Isabella früh auf. Am Tag zuvor war sie von der Reise zu ermüdet gewesen, um etwas zu unternehmen. Jetzt aber war sie ausgeruht und gespannt darauf, ihre Umgebung zu erforschen.

Das Zimmer, welches Lady Jane bewohnt hatte, ging nach Süden auf das Meer hinaus. Der Sonnenschein und das Glitzern der Wellen begannen langsam den Raum zu erhellen. Isabella stand auf und ging zum Fenster hinüber. Sie öffnete die Fensterflügel und ließ die frische salzige Luft herein, mit der auch die Erinnerungen ins Zimmer strömten. Sie blickte auf das alte Fischerdorf mit seinen weiß getünchten Häusern zu ihrer Linken und auf die eleganten neuen Gebäude entlang der Strandpromenade. In sich spürte sie dasselbe Pochen gespannter Erwartung, das sie als Kind an der See empfunden hatte.

So viele Erinnerungen kamen ihr in den Sinn: die Krümmung der geschwungenen breiten Treppe, wo sie und Pen immer durch die Geländerstäbe sahen, um die Besucher unten in der Eingangshalle zu beobachten. Das alte Kinderzimmer mit seinem Geruch nach Staub und Wachs, die verfallene Laube am Ende der Gartenanlage, wo sie und Marcus sich getroffen hatten …

Und überall die Bilder, die India gemalt hatte, oder die kleinen Glastiere, die sie gesammelt hatte, oder ein Buch auf einem Regal mit ihrem von Kinderhand geschriebenen Namen innen … Salterton Hall war für Isabella erfüllt von den Geistern der Vergangenheit, und als sie so am Fenster stand und den Morgen über die Bucht heraufdämmern sah, wurde ihr bewusst, wie schwierig es sein würde, diese Geister zu bannen. Selbst wenn sie nicht gewusst hätte, wie sehr Marcus India geliebt hatte, wäre die Rückkehr nach Salterton nicht einfach gewesen. Jetzt war ihr zumute, als ob sie auf Fließsand stünde.

Aus einem plötzlichen Gefühl der Ungeduld heraus kleidete Isabella sich eilig an und lief die Treppe hinunter. Sie musste jetzt einfach im Meer baden, um einen klaren Kopf zu bekommen und diese Erinnerungen hinwegzuspülen.

Im Haus war man schon fleißig: Alles lief mit der glatten Präzision, die einen gut organisierten Haushalt kennzeichnete. Von Winchester aus hatten Marcus und Isabella ihre unmittelbar bevorstehende Ankunft durch einen Boten angekündigt. Aber zu Isabellas Erstaunen war Salterton Hall in bester Bereitschaft gewesen, als sie mit der Kutsche angekommen waren. Eine solche reibungslose Organisation zeugte von gut eingespieltem Personal. Es schien, als hätte Marcus seine Verwaltungspflichten seit Lady Janes Tod sehr ernst genommen. Von der guten Beziehung zwischen Marcus und dem Dienstboten aber zeugte insbesondere die Tatsache, dass die Angestellten sie selbst mit herzlicher Höflichkeit begrüßt hatten, Marcus jedoch mit liebevoller Zuneigung. Das hatte Isabella sehr beeindruckt. Sie war jedoch nicht willens, ihm gegenüber diese Beobachtung zu erwähnen – jedenfalls jetzt noch nicht.

Isabella nahm den Weg, der durch die Gartenanlage hinab zu der sandigen Allee führte, die Salterton Hall mit dem Dorf verband. Der Morgen war ruhig, nur die Rufe der Seevögel in der Bucht waren zu hören. Unten im Hafen überquerten ein paar Fischerboote die Bucht, und das Kielwasser teilte sich pfeilförmig hinter ihnen. Eine weiß gestrichene Badekabine stand am Strand, und ein stämmiges Pony wartete geduldig zwischen den Stangen der Deichsel. Davor saß eine recht füllige, kräftige Frau und entwirrte mit großer Geduld ein Fischernetz.

Isabella hielt an und lächelte. Sie fühlte sich nun endgültig wieder in ihre Kindheit versetzt und rannte hinunter zum Strand, um ihre Lieblingsbadefrau zu begrüßen.

„Martha! Martha Otter!“

Die füllige Frau sah auf, und ein freundliches, breites Lächeln malte sich auf ihrem wettergebräunten Gesicht. „Guten Morgen, mein Lämmchen. Wir hörten, dass Sie zurück sind.“

„Wie geht es dir, Martha?“, erkundigte sich Isabella.

„Wie immer“, antwortete Martha zufrieden, und Isabella fragte sich, wie es möglich war, dass man sich nach zwölf Jahren noch „wie immer“ fühlte.

„Sie sind gewachsen“, sagte Martha dann.

„Äußerlich, denke ich“, antwortete sie mit einem leichten Seufzer. „Ich würde gerne baden, Martha. Würdest du mich bitte mit hinausnehmen?“

Die Frau erhob sich schwerfällig. „Mit Vergnügen, Herzchen. Sie müssen ja ganz schön verrückt sein, wenn Sie so früh hier herauskommen. Aber die Meereskur hat ja noch niemandem geschadet. Hat aber auch noch keinem genützt“, fügte sie nachdenklich hinzu, „ganz gleich, was die Quacksalber sagen.“

Isabella kletterte in die Badekabine, während Martha ihre Röcke schürzte und das Pony in das Wasser führte. Der Strand fiel hier ganz flach ab, zum Schwimmen wie geschaffen.

„Ich hoffe, dass ein Bad meine trüben Gedanken vertreiben kann“, sagte Isabella. „Heute Morgen bin ich irgendwie nicht gut zurecht – an so einem schönen Tag dürfte das gar nicht sein.“

Martha warf ihr einen Blick über ihre kräftige Schulter zu. „Ah, Salterton wird Ihnen guttun. Was beunruhigt Sie? Es ist doch wohl nicht Ihr neuer Ehemann, oder? Machen Sie sich keine Sorgen, mein Kleines. Man hört, dass er sehr lieb zu Ihnen ist. Er war es immer und wird es immer sein.“

Während sich die Badekabine quietschend tiefer in das Meer bewegte, ließ Isabella ihre bloßen Füße im Wasser baumeln.

„Ich wünschte, das wäre wahr“, sagte sie recht niedergeschlagen.

Martha gab dem Pony einen aufmunternden Klaps. „Sie und Mylord waren damals eigentlich noch richtige Kinder, und wir dachten, es war was für immer.“ Sie sah Isabella wieder über die Schulter an. „Was ist falsch gelaufen, Miss Bella?“

„Alles Mögliche“, antwortete sie mit einem Seufzer.

„Aber jetzt ist alles wieder gut“, sagte Mrs. Otter ruhig.

Isabella seufzte wieder. „Meine Cousine India …“

„Ah“, sagte Martha Otter wieder. „Die kleine Miss India, Gott hab sie selig.“

Isabella spürte eine leichte Verärgerung darüber, dass India das Mitgefühl der Badefrau hatte, wenn sie sich auch sofort danach für ihren Ärger schämte. Nur irgendwie schien ihr das Ganze nicht fair zu sein. Wie konnte sie mit einem Geist konkurrieren? Die Toten waren unberührbar, und Isabella würde in Indias Schatten leben müssen und beim Vergleich mit ihrer Cousine stets ungünstig abschneiden. Das ärgerte sie, und sie hasste sich selbst wegen dieser Laune.

„India und ich hatten nie ein besonders enges Verhältnis“, sagte sie. „Ich kannte sie nicht sehr gut.“

„Sie hatten vieles gemeinsam“, gab Mrs. Otter zu bedenken. „Sie wussten es nur nicht.“

Isabella fragte sich, ob Martha damit meinte, dass beide Marcus geheiratet hatten. Aber zu ihrer Überraschung fuhr die Badefrau fort: „Sie haben Indias Verehrer abgewiesen.“

Isabella runzelte die Stirn. Sie hörte jetzt zum ersten Mal, dass India einen Verehrer gehabt hatte. Es schien immer, dass ihre Cousine viel zu schüchtern gewesen war, um Gentlemen auf sich aufmerksam zu machen. Und Isabella konnte sich nicht erinnern, dass irgendjemand India besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

„Wer hat ihn abgewiesen?“, fragte sie.

„Ihre Eltern natürlich.“ Martha schüttelte wehmütig den Kopf. „Mächtig stolz, diese Southerns. Nicht gut genug für sie, haben sie gesagt.“

„Ich erinnere mich an keinen Verehrer“, sagte Isabella. „Wer war er?“

„Keine Ahnung“, antwortete Martha mit betonter Gleichgültigkeit. „Aber ein gut aussehender Junge. Er hatte ein sündiges Lächeln. Konnte die Vögel auf den Bäumen verzaubern und India mit ihnen.“

Isabella schwieg, lauschte dem Platschen der Räder im Wasser und versuchte, sich die letzten paar Sommer in Salterton in Erinnerung zu rufen. Ihre Cousine und sie waren im gleichen Alter, aber sie hatten sich gegenseitig nie etwas anvertraut. India war ein stilles und in sich gekehrtes Mädchen. Isabella, mehr nach außen gewandt, hatte versucht, sie dazu zu ermuntern, mehr aus sich herauszugehen, war indes jedes Mal höflich, aber entschieden abgewiesen worden.

„Seltsam“, sagte Isabella jetzt. „Ich erinnere mich daran überhaupt nicht. Ich dachte, dass sie, als sie Marcus heiratete …“ Sie stolperte etwas über seinen Namen, so wie sie auch über den Gedanken an die Heirat zwischen India und Marcus gestolpert war. „Ich dachte immer, es sei eine Liebesheirat gewesen. Ihre erste Liebe, meine ich.“

Mrs. Otter machte ein Geräusch, das sich ganz ähnlich wie das Wasserprusten einer Robbe anhörte. „Liebesheirat! Fragen Sie doch einmal Ihren Mann danach, Miss Bella.“

Wenn ich es nur wagen könnte, dachte sie. Sie hatte ein wenig von der Loyalität und der Leidenschaft, die India in Marcus wachgerufen hatte, gesehen, und obwohl sie sich nicht für feige hielt, hielt sie es nicht für angebracht, das Thema zur Sprache zu bringen. Die trüben Gedanken drohten wieder über sie hereinzubrechen, und Isabella verspürte eine große Ungeduld mit sich selbst.

„Sind wir hier außer Sichtweite vom Strand, Martha?“, erkundigte sie sich.

„Weit genug“, antwortete Mrs. Otter und hielt das Pferd an. „Ich weiß, was Sie denken, Miss Bella, aber nur die Herren schwimmen nackt. Das ist Tradition.“

„Dann wird es höchste Zeit, dass sich das ändert“, antwortete Isabella mit Nachdruck. Mit entschiedenen Handgriffen zog sie sich aus und sprang ins Meer.

An diesem Morgen war auch Marcus früh aufgestanden. Er redete sich ein, dass es bloßer Zufall war, dass er genau in dem Augenblick aufgewacht war, als Isabella das Zimmer verlassen hatte und in den Garten gegangen war. Aber er spürte, dass es mehr als das war. Marcus war ihrer so bewusst, dass es schien, als ob sein Körper auf den ihren gleichsam eingestimmt war – selbst durch die bedauerlicherweise verschlossene Verbindungstür hindurch. Wenn er im Bett lag und Isabella so nahe wusste, quälte ihn die Tatsache, dass sie für ihn dennoch unerreichbar war.

Marcus beobachtete sie vom Fenster aus, wie sie durch den Garten und den Sandweg auf den Strand zuging. Der Anblick der verfallenen Laube, wo sie immer ihr Stelldichein verbracht hatten, rief die leidenschaftlichsten Erinnerungen wieder wach und war nicht geeignet, sein Verlangen zu dämpfen. Am besten war jetzt eine harte körperliche Anstrengung. Er ging zu den Ställen, sattelte Achilles und ritt den Weg, der vom Strand hinaus zur Spitze der Klippen führte. Von hier oben hatte er einen wunderbaren Blick über die geschwungene Bucht und das nahe gelegene Dorf Salterton. Was sich seinem Blick ebenfalls darbot, war seine Frau, die nackt von den sanften Wellen getragen wurde.

In dem heller werdenden Licht sah sie auf dem leichten Wogen der See so schwerelos aus wie Distelwolle. Ihr Haar war wie die langen Locken einer Meerjungfrau auf dem Wasser ausgebreitet. Das Morgenlicht zauberte mit Licht- und Schattenspielen eine silberne Hülle um ihren Körper.

Marcus stieß einen kaum unhörbaren, bewundernden Pfiff aus. Er wollte das Teleskop herausnehmen, das er immer in der Jackentasche trug, hielt dann jedoch inne. Es erschien ihm plötzlich als recht lüstern, seine eigene Frau auf solche Weise heimlich zu betrachten. Aber es passte hervorragend zu Isabella, dass sie sich als einzige Person in Salterton über die gesellschaftlichen Regeln hinwegsetzte und frühmorgens nackt im Meer schwamm. Und das auch noch an einem Sonntag! In Salterton gab es sonntags keine öffentlichen Unterhaltungen, denn der Ort betrachtete sich als viel zu exklusiv, als dass er auf das unrühmliche Niveau von Brighton oder Margate herabsinken würde. Isabella glich das jedoch auf ihr eigene großartige Weise aus. Marcus sah schon, wie sich immer mehr Leute auf der Strandpromenade ansammelten.

Sein Blick kehrte zu Isabella zurück. Sie glich einer Wassernymphe mit vollkommenem Körperbau. Ihre Haut leuchtete im Morgenlicht wie weißer Marmor. Sein Blick verfolgte die zarte Linie ihrer Schultern, wanderte zu den Rundungen ihrer wohlgeformten Brüste, dann zu ihrer Taille, die einen Mann in Versuchung brachte, seine Hand über ihre Hüfte und weiter zu ihren langen, schlanken Beinen gleiten zu lassen …

Sein Pferd trat unwillig zur Seite, weil er unwillkürlich die Zügel anzog. Marcus lächelte, als er das Tier auf den Strand zu vorwärts trieb. Noch mehr Leute hatten sich auf der Strandpromenade angesammelt und blickten hinaus aufs Meer.

Marcus blickte nicht nur dorthin, sondern ritt auch direkt in das Wasser hinein.

Er war nur ein paar Yards von Isabella entfernt, und das Wasser ging Achilles schon bis zur Brust, als sie sich umdrehte und Marcus ansah.

„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn. „Wusstest du eigentlich, dass es Bußgelder gibt für Gentlemen, die in die Privatsphäre von badenden Damen eindringen?“

„Die gelten nur, wenn man in einem Boot ist, nicht auf einem Pferd“, antwortete er lächelnd. „Außerdem gibt es keinen Gentleman in Salterton, der nicht bereit wäre, den Preis zu bezahlen, um dich so zu sehen, mein Schatz.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, warum. Ich bin ganz anständig bekleidet.“

Marcus blinzelte. Dann starrte er sie an. Isabella schwamm jetzt auf dem Rücken, so wie er sie vorher gesehen hatte. Aber da gab es einen großen Unterschied: Vom Hals bis zu den Zehen war sie in ein blaues Badegewand gehüllt, das sich sittsam in dem leichten Wellengang bewegte.

„Aber ich habe dich gesehen …“ Marcus hielt inne. „Du warst nackt.“

Isabella hob in gut gespielter Empörung eine Augenbraue.

„Hast du mich heimlich beobachtet, Stockhaven?“

„Nein … aber ich …“ Er merkte, dass er wie ein Schuljunge in den Flegeljahren stotterte. Aber seine Augen hatten ihn doch nicht getrogen? Marcus runzelte die Stirn, weil er den beschämenden Gedanken nicht abschütteln konnte, dass er sich Isabella vielleicht so vorgestellt hatte, wie er sie haben wollte und nicht so, wie sie in Wirklichkeit war.

„Du warst aber nackt!“, brach es aus ihm heraus. „Ich habe dich gesehen!“

„Es ist Sonntagmorgen“, antwortete Isabella kühl. „Dieses Interesse am Körperlichen erscheint mir etwas unangemessen. Vielleicht solltest du dich, wie wir vor einigen Tagen besprachen, mehr auf dein seelisches Wohlbefinden konzentrieren und nicht lüsternen Fantasien in Bezug auf deine Frau nachgeben.“

Plötzlich wurde die Tür der Badekabine energisch aufgestoßen. Achilles scheute, und es fehlte nicht viel, dann hätte das Pferd Marcus ins Wasser geworfen. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass Isabella in der Obhut einer Badefrau war, und so sah er erschrocken auf.

„Danke, Martha“, sagte Isabella. Nur ihr Kopf war jetzt über dem Wasser sichtbar; mit ihren nassen Strähnen über der Stirn und im Wasser hätte sie Circe sein können. „Mein Mann geht jetzt.“

Martha stemmte die Hände in die Hüften. „Es scheint mir, dass Ihr Mann ein bisschen mehr Respekt vor seiner Frau lernen sollte.“

Marcus hob die Augenbrauen. Er sah abwechselnd auf Isabella und auf die sie schützende mächtige Gestalt Martha Otters.

„Verzeiht mir“, sagte er zögernd. „Ich dachte …“ Er hielt inne. Das war kein geeigneter Augenblick, um die Badefrau an seinen Fantasien teilhaben zu lassen. Isabella beobachtete ihn, und Marcus hätte schwören können, dass in ihren Augen ein Anflug von Belustigung hervorblitzte, als sie sah, wie unbehaglich er sich fühlte.

Martha war offenbar noch nicht beschwichtigt. Sie stand da und beobachtete Marcus, wie er mit Achilles wendete und durch das seichter werdende Wasser auf den Strand zuhielt.

Es scheint mir, dass Ihr Mann ein bisschen mehr Respekt vor seiner Frau lernen sollte …

Marcus verzog reumütig den Mund. Diese Lektion lernte er in dieser Zeit recht häufig.

Er erreichte den Strand und erkannte beim Blick zurück, dass die Badekabine so stand, dass Isabella vom Land aus nicht gesehen werden konnte. Die versammelte Menge sah auch gar nicht auf Isabella, sondern blickte auf die See hinaus, wo ein herankommendes Segelschiff sichtbar geworden war. Marcus hatte mehr Aufsehen erregt dadurch, dass er mit einem Pferd in das Wasser geritten war, als Isabella mit ihrem Schwimmen. So viel also zu seiner Annahme, dass sie sich nackt vor den Leuten des Ortes zur Schau gestellt hatte. Dieser Gedanke war schon recht abenteuerlich, und er musste sich das alles eingebildet haben. Das war ein weiterer Beweis dafür, dass er völlig in seine Frau vernarrt war.

Marcus lachte über sich selbst, als er Achilles zu dessen Erleichterung an das trockene Land trieb. Ihm wurde klar, dass er sich als Ehemann sehr besitzergreifend benahm. Der Gedanke erschreckte ihn, denn während seiner Ehe mit India hatte er nie eine Gefühlsregung gehabt, die über ein mildes Vergnügen an der Gesellschaft seiner Frau hinausging. Aber er hatte eben die falsche Cousine geheiratet.

Jetzt bot sich ihm die Chance, bei der richtigen seine Fehler wiedergutzumachen. Ganz gleich, wie lange seine Werbung um seine Frau dauern würde – sie würde am Ende zu gegenseitiger Achtung führen, die der Leidenschaft, die zwischen ihnen brannte, entsprach. Dazu war er fest entschlossen.