5. KAPITEL
„Stockhaven hat nach Ihnen gefragt, Mr. Warwick.“
Der Raum im Obergeschoss eines Gebäudes in der Wigmore Street war heiß und stickig. Im Parterre an der Straßenseite des Gebäudes war das teure Modegeschäft für die Nacht geschlossen. Das ebenfalls teure Bordell, das nach hinten hinaus lag, öffnete gerade seine Türen.
Der Mann hinter dem Schreibtisch schrieb ununterbrochen und schaute nicht einmal auf. „Wo?“ Seine Stimme war leise. Diese Beherrschtheit war genau das, was anderen Angst vor Edward Warwick einflößte: Jeder spürte, dass diese oberflächliche glatte Sanftheit nur die Bösartigkeit im Inneren verbarg.
„Im Fleet.“
„Das wusste ich.“ Mit einem dünnen Lächeln sah Warwick auf. „Er tut mir fast leid, drei Monate in dem Rattenloch und kein Erfolg.“ Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, und die schiefergrauen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich gehe davon aus, dass niemand geredet hat?“
„Natürlich nicht.“ Der andere Mann stand steif vor dem Schreibtisch. Ihm war kein Platz angeboten worden. „Niemand würde es wagen, Sir.“
Warwick stand auf. Er war nicht groß, und die fast schwächliche Gestalt mochte manchen dazu verleiten, ihn zu unterschätzen. Er war blond, gertenschlank und von solch unbestimmtem Aussehen, dass sich kaum jemand deutlich an ihn erinnern konnte. Genau das kam ihm gut zustatten.
„Warum sind Sie also hier, Pearce?“, fragte Warwick mit einem deutlich drohenden Unterton. „Es kann nicht sein, dass Sie mir etwas sagen wollen, was ich schon weiß. Ich hoffe, dass Sie nicht meine Zeit vergeuden.“
Der andere Mann wurde unruhig. „Nein, Sir. Ich bin hier, weil Stockhaven geheiratet hat. Vor drei Tagen im Fleet. Wir dachten, dass Sie das wissen sollten.“
Warwick erstarrte. „Geheiratet? Wen?“
Pearce schluckte. „Fürstin Isabella Di Cassilis, Sir.“
Schweigen trat ein. Nichts geschah. Warwick war so still, als ob er nichts gehört hätte. Dennoch zitterte Pearce am ganzen Körper.
„Sie sind sicher?“ Warwicks Stimme war jetzt wieder sanft und leise.
„Ja, Sir. Das bedeutet, dass Stockhaven …“
„Jetzt Salterton Hall besitzt. Ja, das ist mir klar.“
Pearce sagte nichts mehr. Edward Warwick brauchte ihn nicht. Er konnte seine Schlussfolgerungen selbst ziehen, sein Verstand war messerscharf.
„Ich dachte“, fuhr Warwick nach einer langen Pause fort, „dass Fürstin Isabella tief in Schulden stecke und gezwungen sei, Salterton zu verkaufen. Verdammt ärgerlich!“
„Ihre Schulden waren drückender, als wir angenommen hatten. Sie hatte keine Zeit zu verlieren.“ Pearce schüttelte den Kopf. „Henshalls sind sehr diskret, Sir.“
Warwick seufzte. Auch seine Informationen waren nicht immer korrekt.
„Das kommt ungelegen.“
Pearce wusste, dass das eine Untertreibung war. Er wartete.
Warwick seufzte erneut. Dann sagte er im sachlichen Ton: „Nun gut. Überlassen Sie das mir. Beobachten Sie Stockhaven und halten Sie mich auf dem Laufenden.“
Er holte einen kleinen Beutel aus der obersten Schublade des Schreibtisches. Ein leises metallenes Geräusch war zu hören. Warwick schob Pearce den Beutel über den Schreibtisch zu. „Gute Arbeit.“
Pearce war so erleichtert, dass ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. „Danke, Sir.“
Im Brunswick Gardens auf der anderen Seite der Stadt las Isabella die Abendausgabe des Gentlemen’s Athenian Mercury. Diese Zeitschrift beschäftigte sich in einem ausführlichen Artikel mit ihr, was sie aber keineswegs störte.
Mitglieder des Ton werden ohne Zweifel enttäuscht sein, dass sie seit der Rückkehr der schönen Fürstin von fernen Gestaden so wenig von ihr zu Gesicht bekommen haben. Kann es sein, dass die Fürstin eine Einsiedlerin geworden ist, oder ist es nur, dass sie sich wegen knapper Mittel kein neues Kleid leisten kann, mit dem sie in der Gesellschaft glänzen könnte? Oder darf man annehmen, dass die wohlanständigen Gesellschaftsgastgeberinnen es nicht ertragen, dass ein solcher Paradiesvogel ihre Nester in Unruhe versetzt? Eines ist sicher: Wenn die Fürstin sich zu Hause versteckt, wird sie keinen reichen Gentleman finden, der allen ihren Bedürfnissen entgegenkommt …
Isabella legte die Zeitschrift mit einem Seufzer nieder. Eine ganze Woche hatte dieses Sensationsblatt eine Serie über die Rückkehr einer gewissen fürstlichen Persönlichkeit gebracht, die es verschämt als Fürstin IDC bezeichnete. Man brauchte nicht zu den scharfsinnigsten Geistern Europas zu gehören, um herauszufinden, wer gemeint war. Es schien, dass jemand Informationen über sie verkaufte. Das meiste war natürlich bloße Vermutung, aber mehrmals war der Informant gefährlich nahe an der Wahrheit gewesen. Es hatte zum Beispiel einen Hinweis darauf gegeben, dass die Fürstin sich gezwungen sah, das Haus im Brunswick Gardens zu verkaufen. Isabella fand es beunruhigend, dass offenbar jemand so viel über ihr Leben wusste.
„Miss Penelope Standish, Durchlaucht.“ Die sanften Töne des Butlers unterbrachen Isabellas Gedanken.
Der Ton des Butlers verfehlte seine Wirkung auf die junge Dame nicht, die gerade die Bibliothek betrat, denn sie lächelte ihm augenzwinkernd zu. Als der Butler mit einem kaum wahrnehmbaren, aber unwiderstehlichen Zucken der Lippen reagierte, brach sie in lautes Gelächter aus.
„Guten Abend, Belton. Ich habe immer den Eindruck, dass es Ihr Wunsch ist, eine echte Duchess anzukündigen.“
„Madam …“, erwiderte der Butler mit ernsten Gesichtsausdruck, „es steht mir kaum zu, irgendeine Präferenz zu äußern.“
Pen schenkte ihm erneut ein gewinnendes Lächeln und glich dabei sehr ihrer Schwester, die sie mit einem Kuss begrüßte.
„Du siehst heute Abend so betrübt aus, Durchlaucht“, sagte sie. „Hast du etwa eine Guinee verloren und dafür einen Groschen gefunden?“
„Lass doch bitte den Unsinn mit ‚Durchlaucht‘“, antwortete Isabella. „Ich habe Belton immer wieder darum gebeten, aber er besteht darauf, dass es nicht angemessen sei, mich nur mit ‚Madam‘ anzureden.“
„Der Meinung bin ich auch“, erwiderte Pen fröhlich und ließ sich mit jugendlichem Ungestüm auf das Sofa fallen.„Du kannst deinen Dienern ruhig die Befriedigung geben, dich angemessen anzureden, wenn sie schon das Vorrecht haben, für eine Fürstin tätig zu sein. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Dame in hoher Stellung, die ihre eigene Bedeutung nicht akzeptieren will.“
„Du redest ziemlichen Unsinn“, erwiderte Isabella, fühlte sich aber doch etwas aufgeheitert. Der Besuch ihrer Schwester war allemal besser, als einsam Tee zu trinken und sich darüber Gedanken zu machen, woher der Gentlemen’s Athenian Mercury seine Informationen bezog.
„Du siehst müde aus“, sagte Pen besorgt.
„Ich habe in letzter Zeit kaum geschlafen“, antwortete Isabella mit einem Seufzer. „Das setzt mir etwas zu.“
In Wirklichkeit waren die vergangenen Nächte nicht einfach schlaflos gewesen. Die Zeiten, in denen sie wach war, wechselten ab mit Träumen von Marcus und erstaunlichen erotischen Einzelheiten, die sie immer wieder wach werden ließen und ihr auch am Tag nicht aus dem Sinn kamen.
„Wollten wir nicht zur Duchess of Fordyce gehen?“, fragte Pen und zog ihre Handschuhe aus. Sie wies auf ihr rosarotes Kleid. „Da habe ich mir tatsächlich die Mühe gemacht, das einzige Kleid aus meinem Kleiderschrank abzubürsten, das dem Anlass angemessen ist, und du sitzt hier mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter.“
Die Belustigung in ihren Augen wich langsam, als sie hinzufügte: „Oh, ich vergaß, du solltest ja Mr. Churchward wegen Ernests Schulden aufsuchen, nicht? War es so schlimm?“
„Schlimmer“, erwiderte Isabella.
Pen schnalzte mit der Zunge. „Dann bin ich aber überrascht, dass ich dich nicht beim Packen antreffe“, sagte sie. „Hatte Mr. Churchward dir nicht den Rat gegeben, wieder auf den Kontinent zurückzukehren?“
„Das war einer seiner Vorschläge“, antwortete Isabella etwas ausweichend. Sie hatte nicht die Absicht, Pen etwas von ihrer Zweckheirat zu erzählen, denn sie wusste, dass die Schwester ihr Handeln nicht billigen würde. Noch dazu würde sie ihre Missbilligung in unangenehm belehrender Form zum Ausdruck bringen. Und da Isabella ohnehin vorhatte, die Ehe aufzulösen, bevor die Tinte auf dem Dokument getrocknet war, bestand keine Notwendigkeit, dass Pen irgendetwas darüber erfuhr. Manchmal sehnte Isabella sich nach einer Vertrauten, aber in den letzten Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, möglichst viel für sich zu behalten. Außerdem wusste sie, wie gefährlich es war, das Thema Marcus Stockhaven zu berühren.
„Dieses Haus soll verkauft werden“, fuhr Isabella fort. „Nicht dass ich das besonders bedaure; denn es war Ernests Haus, und er hat es mit seinem üblichen schlechten Geschmack eingerichtet.“
Pen sah sich um. Sie blickte auf die protzigen Goldverzierungen und die überladene Ausstattung. „Es wäre passend für ein Bordell“, gab sie zu, „als Wohnung könnte es mir nicht gefallen.“
„Mr. Churchward glaubt, dass vielleicht ein Krösus das Haus kaufen wird“, sagte Isabella mit finsterem Blick, „als zweites Domizil sozusagen.“
„Hört sich gut an.“ Pen läutete, um sich noch einmal Tee bringen zu lassen. „Und wenn du weitere Mittel brauchst“, fügte sie hinzu, „dann könntest du diesen protzigen Nippes verkaufen, den Ernest nach und nach angesammelt hat.“
Isabella schüttelte den Kopf. „Das Zeug ist wertlos. Genau wie mein Schmuck zum größten Teil unecht ist, so sind diese Sachen auch nur vergoldet. Die Schätze der Familie Di Cassilis sind vor Jahren für Ernests Vergnügungen verpfändet worden.“
Pen seufzte. „Das ist bitter. Du musst ja manchmal den Drang verspürt haben, Ernests englische Maßanzüge in Stücke zu schneiden und aus purer Rache auf die Straße zu werfen.“
Eine Falte erschien auf Isabellas Stirn. „Ich kann die Anzüge nicht vernichten“, sagte sie ernst, „ich bin darauf angewiesen, sie zu verkaufen.“
Ein Diener brachte ein Tablett mit frisch aufgebrühtem Tee, einer Porzellantasse und einigen frischen Scones.
Pen goss sich Tee ein. „Scones am Abend!“, rief sie entzückt aus. „Eine wunderbare Stärkung für einen Ball.“ Dabei rührte sie bedächtig Honig in ihren Tee. „Wo wirst du wohnen, wenn das Haus verkauft ist, Bella?“
„Mit dem Geld, das Tante Jane mir hinterlassen hat, kann ich zurückgezogen auf Salterton Hall wohnen. Das Einsiedlerleben wird mir zusagen.“
Pen, die gerade einen Schluck heißen Tee nahm, hätte sich beinah verschluckt.
„Du machst dir etwas vor, Bella, wenn du denkst, dass das Leben in einem Seebad dich zur Einsiedlerin macht“, erklärte sie. „Du wirst immer die Neugierde der Leute erregen, besonders in einem so kleinen Ort wie Salterton.“
„Nachdem ich in Ernests Schatten in ganz Europa umhergezogen bin, wird mir Ruhe und Frieden guttun, das kannst du mir glauben. Ich bin überzeugt, dass Salterton mich nicht im Geringsten skandalträchtig oder auch nur interessant finden wird.“
„Und du kannst mir glauben“, erwiderte Pen mit leichtem Spott, „dass du auch ganz ohne Absicht für Aufruhr sorgen wirst. Wenn ich Geld hätte, würde ich darauf wetten.“ Der spöttische Unterton verschwand, und sie fuhr fort: „Du wirst dich langweilen, Bella, weißt du. Es mag dir jetzt erstrebenswert erscheinen, dich in einem ruhigen Nest niederzulassen, aber bald wirst du nach irgendeiner Beschäftigung suchen.“
„Ich bin sicher, dass ich etwas finden werde, womit ich mich beschäftigen kann“, antwortete Isabella gelassen. Sie hatte lange und angestrengt über ihre Zukunft nachgedacht und freute sich darauf, sich an einen ruhigen Ort zurückziehen zu können. „Die Seeluft, der Büchereiwagen, der die Runde macht, die Besucher aus London … All das wird mir willkommene Ablenkung bieten.“
Ein Lächeln hellte Pens Gesicht auf. „Du könntest ja auch immer noch Briefe schreiben, denke ich. Wie ich mich erinnere, hast du während deiner Ehe eine umfangreiche Korrespondenz geführt.“
Isabella lächelte belustigt. „Danke für den Vorschlag – aber nein.“ Sie tippte mit dem Finger auf die Zeitung. „Offenbar hat irgendeine geschäftstüchtige Person aus meinen Aktivitäten schon Profit geschlagen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis meine Briefe den Weg in die Klatschspalten finden.“ Sie hielt kurz inne, bevor sie hinzufügte: „Es ist ärgerlich – und auch noch in so einem schäbigen kleinen Blatt.“
„Wäre es dir lieber gewesen, wenn der Klatsch in der Times erschienen wäre?“, fragte Pen mit schelmischem Blitzen in den Augen.
„Aber ja! In solchen Zeitungen bekommt man wenigstens einen ordentlichen Skandal“, gab Isabella zurück. „Man kann nichts daran machen. Meine ganze Ehe ist von Klatsch und Tratsch begleitet worden. Du wirst entschuldigen, aber ich werde nichts mehr zu Papier bringen.“
Pen runzelte die Stirn, während sie die Klatschspalte durchlas.
„Weißt du, wer das geschrieben hat?“
Isabella zuckte die Achseln. „Es könnte jeder gewesen sein, ein Bekannter, ein Diener. Auf jeden Fall scheint es jemand zu sein, der einiges über mein Leben weiß.“
Pen biss sich auf die Unterlippe. „Willst du versuchen herauszufinden, wer es ist?“
Isabella machte große Augen. „Das interessiert mich gar nicht. Etwas mehr oder weniger Klatsch schadet mir kaum.“
Pen legte die Zeitung weg. „Wenn du also keine Briefe mehr schreibst“,sagte sie,„dann ist es eben die Kur an der See. Wobei ich davon ausgehe, dass du nicht vorher vor Aufregung stirbst!“, fügte sie mit spitzbübischem Lächeln hinzu. Sie hielt inne. Dann sagte sie: „Du weißt doch sicher, dass du Marcus Stockhaven als Pächter in Salterton haben wirst? Tante Jane hat ihm das Nutzungsrecht eingeräumt, als er mit Cousine India verheiratet war.“
Isabella zuckte so heftig zusammen, dass sie ihre Tasse umwarf und sich der Tee in einem Schwall über den Fußboden ergoss.
„Marcus Stockhaven? Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?“
Im gleichen Augenblick wurde ihr klar, dass ihre Worte viel schärfer herausgekommen waren, als sie beabsichtigt hatte. Pen starrte sie nur an und errötete etwas.
Dann sagte sie, immer noch ein wenig erschreckt: „Meine Güte, Bella! Ich hatte keine Ahnung davon, dass das für dich nach all den Jahren von so großer Bedeutung sein würde. Es ist doch wohl eher Mr. Churchwards Aufgabe als meine, dich mit den Angelegenheiten deines Erbes vertraut zu machen, oder?“ In leichterem Ton fügte sie hinzu: „Seit Tante Janes Tod hat Marcus Salterton selten besucht. Du brauchst keine Angst davor zu haben, ihm unerwartet zu begegnen, wenn es das ist, was dir Sorgen macht.“
„Bitte entschuldige“, bat Isabella, immer noch ganz verwirrt. Es war ihr, als ob ihr das Herz in der Kehle hämmerte. Die bloße Erwähnung von Marcus’ Namen hatte das bewirkt. Gott möge verhüten, dass sie ihm wieder begegnete. Sie wäre dann ein zitterndes Wrack. Sie sagte sich, dass er ja im Gefängnis saß. Vielleicht war das Pachtverhältnis ein Problem für ihn gewesen. Da er nicht Eigentümer des Hauses war, konnte er es auch nicht verkaufen, um seine Schulden zu begleichen.
Isabella nutzte die Gelegenheit, die sich durch den umgeschütteten Tee bot, um sich von Pen abzuwenden und ihre Selbstkontrolle wiederzugewinnen. „Es sollte gar nicht so schrill klingen, Pen. Ich war nur sehr überrascht.“ Sie sah wieder auf und war von der Überraschung und ihrem schlechten Gewissen so rot im Gesicht wie Pen. „Bitte verzeih mir.“
Pen blickte etwas zerstreut um sich. „Oh, Tante Jane und ich müssen wohl einfach vergessen haben, es in unserer Korrespondenz zu erwähnen.“
Isabella zögerte mit der Antwort. In Pens Stimme war ein seltsamer Unterton, und sie konnte das Gefühl nicht unterdrücken, dass etwas nicht stimmte, so als ob irgendetwas unausgesprochen geblieben wäre. Sie wartete darauf, ob Pen noch etwas sagen würde. Pen aber vermied es, ihre Schwester anzusehen, und hantierte mit dem Teelöffel, wobei sie ganz in Gedanken Honig über die Untertasse verkleckerte.
„Ich schließe daraus, dass Mr. Churchward die Angelegenheit dir gegenüber überhaupt nicht erwähnt hat?“, fragte Pen dann.
Isabella sank in sich zusammen. Sie erinnerte sich daran, wie Churchward ihr bei ihrem ersten Besuch tatsächlich etwas über die Lasten hatte sagen wollen, die mit dem Anwesen verbunden waren. Aber sie hatte dies mit einer Handbewegung abgetan. Die Nachricht von Ernests Schulden hatte alles andere verdrängt, sodass ihr die Einzelheiten von Salterton nicht weiter wichtig erschienen waren. Es sah nun ganz so aus, als ob dieses Versehen sich als sehr kostspielig herausstellen würde. Überdies schien es, dass mehr Dinge sie mit Marcus Stockhaven verbanden, als sie vorausgesehen hatte. Und keines davon war willkommen.
„Nein, das hat er nicht“, antwortete Isabella gereizt. „Das ist unerträglich!“
Pen hob die Augenbrauen. „Dass Churchward vergessen hat, es dir zu sagen?“
„Nein! Ja!“ Sie versuchte mit Mühe, sich zu sammeln. „Doch, ich erinnere mich, dass er etwas von einem Pächter gesagt hat, aber ich habe ihn nicht zu Wort kommen lassen.“
„Aha …“ Pen schien sehr daran zu liegen, das Thema nicht weiter zu verfolgen. „Ich denke, Marcus wird dich nicht oft stören. Salterton Cottage wäre vor einigen Monaten beinah niedergebrannt, sodass es nun unbewohnbar ist. Außerdem zieht Marcus es vor, anderswo zu wohnen – oder auch zu reisen. Man sieht ihn selten in Gesellschaft. Ich weiß nicht einmal, wo er sich jetzt aufhält.“
Im Fleet-Gefängnis wegen seiner Schulden, sagte Isabella zu sich selbst.
Sie schluckte eine Fülle unangenehmer Gefühle hinunter und zwang sich zur Ruhe. Wichtig war es jetzt nur, Marcus für immer hinter Schloss und Riegel zu wissen. Wenn er jemals frei sein sollte … Der bloße Gedanke daran ließ sie innerlich erzittern.
Andererseits stand sie vor einem Rätsel. Was hatte Marcus’ finanzielle Situation so trostlos werden lassen? Sie hatte ihn gefragt, aber er hatte eine Erklärung verweigert, und sie hatte nicht darauf bestanden. Jetzt wünschte sie, sie hätte es.
„Ich denke, Marcus wird dich nicht oft stören …“
In Wirklichkeit fühlte sie sich durch Marcus Stockhaven schon viel heftiger gestört, als Pen jemals würde wissen können.
Pens Redefluss brachte Isabella in die Gegenwart zurück.
„Ich garantiere dir“, sagte sie gerade, „dass irgendein Landedelmann dich wegschnappen wird. Ein Mann mit Vermögen und Ansehen in der Gesellschaft von Salterton, der für die Weiterentwicklung des Kurortes große Pläne hat. Und der sich nur noch eine Frau mit Titel wünscht, um sein Ansehen zu steigern.“
„Das möge Gott verhüten!“, sagte Isabella und schüttelte sich. „Ich fürchte, ein so aufrechter Mann müsste sich mit mir nur schämen.“
Ihre Schwester sah sie an. „Es stimmt“, gab sie zu. „An dir ist etwas …“, sie zögerte, „… zu Kultiviertes, als dass du dich an einem kleinen Ort mit einem kleinstädtischen Mann so einfach bequem zurücklehnen könntest. Du willst immer etwas Skandalträchtiges machen und die Ortsgrößen damit aufscheuchen. Ich kenne dich.“
„Ich bin nicht skandalträchtig!“, wehrte Isabella sich. „Ernest war das.“
In dem Augenblick ließ sich ein lärmendes Geräusch vom Eingang her vernehmen. Demnach war das einzig andere Mitglied der Familie Standish angekommen. Belton stieß die Tür zur Bibliothek auf. „Lord Standish“, verkündete er mit einem Höchstmaß an todernster Gelassenheit, so als ob der Abend nur noch schlimmer werden konnte.
Wie seine Schwestern, so hatte auch Freddie Standish ein anziehendes Äußeres. Er war blond und schlank und vor allem bei älteren Damen beliebt, solange er nicht den Versuch unternahm, sein Glück durch die Hochzeit mit einer ihrer Töchter zu machen. Mit Pen teilte er sich das bescheidene Haus in Pimlico und arbeitete, zumindest nach außen hin, für einen Bankier, der für repräsentative Zwecke einen Gentleman mit Titel schätzte. Trotz seiner ärmlichen Lebensumstände schien Freddie immer gelassen und guter Dinge zu sein. Isabella liebte ihn dafür. Pen jedoch behauptete mit einem Augenzwinkern, dass Freddie nur eine einzige Gemütslage hatte, weil er zu dumm war, verschiedene andere zu entwickeln.
„Guten Abend, Freddie“, begrüßte ihn Isabella. „Gerade habe ich Pen erzählt, dass ich die Bankrotterklärung um einige Monate hinausschieben konnte, bis das Haus verkauft ist.“
„Gratuliere“, sagte Freddie, setzte sich auf das Sofa und drückte seine Schwester unbekümmert zur Seite, um etwas mehr Platz zu haben. Er schaute sich im Raum um. „Ich mochte dieses Haus nie, es ist viel zu gewöhnlich.“
„Ja, das ist es“, bestätigte Isabella mit einem Seufzer. „Ich werde nach Salterton ziehen.“
Er blickte sie ganz erschrocken an. „Salterton? In Hampshire?“
„Dorset“, warf Pen etwas spitz ein. „Ich habe ihr gesagt, dass das keine gute Idee ist.“
„Genau“, erwiderte Freddie. Er nahm einen von den gebutterten Scones vom Teller. „Dorset ist unsäglich langweilig. Warum versuchst du es nicht mit Kent, Bella?“
Isabella hörte, wie Pen einen geräuschvollen Seufzer vernehmen ließ. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie die scharfsinnige Penelope und der recht begriffsstutzige Freddie in dem gemeinsamen Haus auch nur annähernd miteinander leben konnten.
„Du willst mich also nicht besuchen“, sagte Isabella.
„Keine Angst“, antwortete er fröhlich. „Ehe ich mich in Dorset niederließe, würde ich lieber für meinen Lebensunterhalt arbeiten.“
„Du arbeitest jetzt schon für deinen Lebensunterhalt“, stellte Pen fest.
„Nur dem Namen nach“, antwortete er mit einem fröhlichen Grinsen.
„Leider habe ich diese Möglichkeit nicht“, sagte Isabella mit lebhaftem Nachdruck. „Als Erzieherin oder als Dienstmädchen würde ich während meines ganzen Lebens nicht genug verdienen, um Ernests Schulden zu tilgen. Die einzige mir verbleibende Möglichkeit wäre, als Liebesdienerin tätig zu sein. Ich nehme an, dass man von zu Hause aus arbeiten und Zeiten vereinbaren kann.“
„Nun mach aber mal einen Punkt, Bella!“ Freddie war so entsetzt, dass sein angebissenes Scone von dem kippenden Teller rutschte. Pen konnte es gerade noch fassen.
Isabella strich ihm beruhigend über den Arm. „Entschuldige bitte, Freddie. Ich habe nur Spaß gemacht.“
„Das hoffe ich aber auch“, erwiderte er und straffte die Schultern. „Als Haupt der Familie könnte ich das nie gutheißen. Tut mir leid, Bella, aber so ist es nun mal.“
„Ja natürlich“, antwortete Isabella besänftigend.
Kurz darauf teilte ihnen der Butler mit, dass Lord Augustus Ambridge gekommen sei, um die Damen zu dem Ball zu begleiten.