15. KAPITEL
Marcus saß im Wagen und bewunderte das Profil seiner Frau unter dem Rand der schwarzen Strohhaube. Er konnte sie in aller Ruhe betrachten, denn sie hielt während der Fahrt die meiste Zeit das Gesicht von ihm abgewandt. Mit den Fingern trommelte sie ungeduldig auf dem Verschluss ihres Retiküls.
An diesem Morgen war Marcus mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung aufgewacht. Isabella lag immer noch friedlich schlafend in seinen Armen – sie konnte ja nirgendwo anders hingehen. Als er sie betrachtete, fühlte er eine überwältigende Mischung aus Hoffnung und Verlorenheit. Nachdem sie am Tag zuvor von ihm fortgelaufen war, hatte er nur den einen Gedanken gehabt, nämlich sie wiederzugewinnen. Ein bestimmtes inneres Gespür hatte ihn auf die Suche gehen lassen. Er war von Gasthof zu Gasthof gegangen und hatte nicht geruht, bis er sie schließlich eingeholt hatte. Die ganze Zeit hatte er befürchtet, dass sie sich, wenn er sie gefunden hätte, völlig und unwiderruflich von ihm abwenden würde, sodass er nie wieder eine zweite Chance hätte. Das hatte sie nicht getan, er hatte aber nicht den Fehler gemacht zu denken, dass es in Zukunft einfacher sein würde. Sie hatte von Anfang an keinen Ehemann haben wollen. Doch nun musste er sie dazu bringen, dass sie ihre Meinung änderte.
Isabella war kurz nach ihm aufgewacht und sah ihn einen wunderbaren Augenblick lang lächelnd an. Dann drängte sich die Wirklichkeit in ihr Bewusstsein, und sie rückte ein wenig von ihm weg, um Abstand zu schaffen. Er war erstaunt darüber, wie zurückhaltend und schüchtern sie war. Nicht weil sie sich ihm in der Nacht zuvor so rückhaltlos hingegeben hatte, sondern weil er der Meinung gewesen war, dass sie Erfahrung mit Männern hatte. Nun, er hatte bei Isabella vieles vermutet, was sich später als falsch herausgestellt hatte. Marcus war sich jetzt deutlich dessen bewusst, dass er ihr keinen Anlass gegeben hatte, ihm zu vertrauen, so manchen Anlass jedoch, ihn zu hassen.
Schweigend nahmen sie ihr Frühstück ein. Der Speiseraum des Klosters war nicht gerade der geeignete Ort, Angelegenheiten ihrer Ehe zu besprechen. Es verlief alles recht unglücklich, denn als der Wagen bereit stand, und Marcus deutlich gemacht hatte, dass er sie nach Salterton begleiten würde, hatte sich Isabella hinter einer ausgesprochen kühlen Fassade versteckt.
„Wir müssen reden“, sagte Marcus unvermittelt.
Aus ihren blauen Augen warf sie einen schnellen misstrauischen Blick auf ihn. „Ich bin einverstanden. Doch …“ Sie zögerte. „Ich bin nicht ganz sicher, dass ich überhaupt weiß, was ich sagen will.“
„Wie wäre es damit, dass ich ein elender Kerl bin, der zweimal sein Versprechen gebrochen hat?“
Die Andeutung eines Lächelns spielte um ihre Lippen. Er freute sich, als er es bemerkte, bedeutete es doch, dass er vielleicht eine Chance hatte.
„Würdest du das sagen, wenn du an meiner Stelle wärst?“, fragte sie.
„Ganz ohne Zweifel. Und damit hättest du auch recht.“
Ihr Lächeln war jetzt zauberhaft und unwiderstehlich. „So?“ Sie hob die Augenbrauen.
„Ich fürchte, es stimmt.“ Er sah, wie sie wieder die Stirn runzelte. „Allerdings …“
Sie sah ihn an und neigte in unerschütterlicher Höflichkeit leicht den Kopf. Dabei wurde ihm wieder einmal bewusst, wie gründlich sie während ihrer Ehe mit Fürst Ernest gelernt haben musste, ihre Gefühle zu beherrschen. Marcus empfand einen stechenden Schmerz des Verlustes, wenn er an ihre Spontaneität als Mädchen dachte.
„Ich bin bereit, dir bestimmte Dinge zuzugestehen“, sagte er.
„Sehr großzügig von dir.“ Sie strich die eleganten grünen Paspelverschlüsse an ihrem Reisekleid zurecht und wartete.
Marcus holte tief Luft. Sich zu entschuldigen war nicht so einfach für ihn. Bisher fehlte ihm dabei die Übung.
„Es tut mir leid“, sagte er dann. „Ich habe dich falsch beurteilt. Bei unserem Wiedersehen habe ich nur an Rache gedacht für das, was du mir angetan hattest und auch …“ Er hielt inne.
„Und auch India“, ergänzte sie ohne Zögern.
Dieser Name schien immer auf unangenehme Weise zwischen ihnen zu stehen.
„Ich verstehe“, sagte Isabella. „Sie war deine Frau.“
Wieder wandte sie sich ab, und Marcus hatte das ärgerliche Gefühl, dass Isabella ihn völlig missverstanden hatte.
„Ich kann die unterschiedlichen Aussagen von dir und von India nicht einordnen“, sagte er mit einiger Mühe. „Aber ich bin wirklich davon überzeugt, dass du ihr niemals bewusst das Erbe wegnehmen würdest. Dafür bist du ein viel zu … großzügiger Mensch.“
Als sie antwortete, schien ihm, dass in ihrer Stimme eine Spur Wärme war. Aber vielleicht war das nur ein bloßer Wunschgedanke von ihm.
„Ein viel zu großzügiger Mensch“, wiederholte sie. „Das scheint mir ein recht plötzlicher Sinneswandel zu sein, Marcus, nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist.“
Das konnte er nicht leugnen. Er wusste, dass er von Anfang an gegen sein eigenes Empfinden und auch gegen Isabella gekämpft hatte. Er hatte einfach glauben wollen, dass sie falsch und trügerisch war. Jedes Mal hatte er nicht dem vertraut, was die Tatsachen und sein inneres Gefühl ihm sagten, sondern stattdessen versucht, immer das Schlechteste von ihr zu denken. Doch dieses Bild hatte nie richtig gepasst. Und nun hatte sich die ganze Welt um ihn herum verändert, und er erkannte die Wahrheit.
„Es tut mir leid“, sagte er wieder.
„Glaubst du, was ich dir am vorletzten Abend gesagt habe?“, fragte sie. „Die Gründe für meine Heirat mit Ernest?“
Er zögerte. Zwar glaubte er, was sie ihm erklärt hatte, war jedoch nicht sicher, ob er ihr verzeihen konnte, dass sie ihre Familie an die erste Stelle gesetzt hatte.
„Ich verstehe, warum du so gehandelt hast“, sagte er, wobei er seine Worte sorgfältig wählte. „Ich bedaure zwar, dass du dich nicht an mich um Hilfe gewandt hast, aber ich verstehe deine Gründe.“
Isabella biss sich auf die Lippen. „Du verzeihst mir also nicht.“
Marcus fühlte sich hin und her gerissen zwischen der Wahrheit und dem Wunsch, Isabella nicht weiter zu verletzen. „Das habe ich nicht gesagt, Bella. Eigentlich habe ich dir gar nichts zu verzeihen. Ich wünschte nur, du wärst zu mir gekommen, aber ich verstehe, warum du es nicht tatest.“
„Wir alle müssen manchmal unangenehme Entscheidungen treffen“, sagte sie so leise, dass Marcus sich nach vorn beugen musste, um sie zu hören. „Ich habe die Zukunft meiner Familie vor unser Glück gestellt.“ Dabei sah sie ihn an, und ihm presste es das Herz zusammen, als er die Angst in ihren Augen sah. „Das schmerzt sehr, Marcus.“
„Ja, das schmerzt.“ Er wusste, dass man solche Dinge weder unbeachtet lassen noch beiseiteschieben konnte. In jener Nacht der Geständnisse hatte er geglaubt, dass dies möglich wäre, aber jetzt wusste er es besser. Es gab einen schmerzlichen Mangel an Vertrauen zwischen ihnen, und es würde lange dauern, das zu ändern. Er wollte sie berühren und ihr damit das Gefühl der Sicherheit geben, wusste aber, dass es dazu zu früh war.
„Ich will immer noch, dass du Salterton bekommst“, sagte er unvermittelt. „Es gehört von Rechts wegen dir, und ich weiß, wie viel dir das Anwesen bedeutet. Ich werde es dir geben – und auch die Mittel, um es zu unterhalten.“
Isabellas Gesicht hellte sich auf. „Wirklich? Du wirst dein Wort halten?“
„Ich schwöre es.“ Er lächelte wehmütig. „In diesem Punkt will ich mein Wort halten.“
Ein Schatten verdunkelte Isabellas Gesicht. „Aber die gesetzliche Trennung?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, Bella, die kann ich nicht gewähren.“
Sie senkte den Kopf, strich über die Nähte ihrer Handschuhe. Marcus beobachtete, wie sie mit sich kämpfte. Er verstand ihre Zweifel und bösen Vorahnungen und wusste, dass er ihr mit seinen Anschuldigungen und Verdächtigungen manchen Anlass zum Zweifel gegeben hatte. Aber Vertrauen konnte wieder aufgebaut werden – vorausgesetzt man wollte es. Es war Marcus nie gelungen, Isabella in sein Wunschbild einer geldgierigen Abenteurerin zu pressen. Und nun wollte er das auch gar nicht mehr. Nicht nur, weil sie vielleicht ein Kind von ihm trug, sondern weil er die wirkliche Isabella wieder kennenlernen wollte, den übermütigen Unternehmungsgeist, den sie als Mädchen versprüht hatte, die Frau, die in ihrer Leidenschaft der seinen gleichkam.
Dennoch schien es, als ob es Isabella nicht so erging. Sie sträubte sich gegen die Nähe zwischen ihnen, und er musste herausfinden, warum das so war. Dass er sie verletzt hatte, war nicht der alleinige Grund. Er spürte, dass sie vor irgendetwas Angst hatte, und sagte sich immer wieder, dass er so sanft und so zart wie möglich um sie würde werben müssen.
„Eine Ehe zwischen uns wird nie gut gehen.“ Bei diesen Worten sah sie gerade in ihrer Sturheit so begehrenswert aus, dass er sie küssen wollte. Heiße Erregung durchflutete seinen Körper, und Marcus wusste, dass das für seine Werbung die größte Schwierigkeit darstellte. Er war kein geduldiger Mann, und da er sie schon körperlich geliebt hatte, müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn er sie nicht wieder berühren würde.
Er versuchte, sein Begehren nicht weiter zu beachten und sich auf ihre Worte zu konzentrieren.
„Unsere Ehe wird nicht gut gehen, weil du es nicht willst?“, fragte er leise.
„Sie wird nicht gut gehen, weil die Vergangenheit immer zwischen uns kommen wird.“ Sie unterstrich ihre Worte mit einer Handbewegung. „Da ist India, und da ist Ernest …“
Und da waren ihre namenlosen Liebhaber, die Marcus vergessen wollte, aber nicht konnte. Eifersucht nagte so sehr an ihm, dass ihm der Atem stockte. Die Hindernisse waren in der Tat groß, aber seine Entschlossenheit war es auch. Er würde Isabella nicht gehen lassen.
Sie sah auf ihre zusammengepressten behandschuhten Finger. Dann wandte sie ihm den Blick zu.
„Liebst du mich, Marcus?“
Ihre Worte trafen ihn unvorbereitet. Also hatte er in der Nacht, da sie sich liebten, nicht laut gesprochen, dachte er erleichtert. Weil er sich seiner innersten Empfindungen noch nicht ganz sicher war, wollte er seine Gefühle für sie nicht so schnell offenlegen. Er zweifelte nicht daran, dass er Isabella einmal geliebt hatte, wusste aber nicht, ob er sie jetzt noch so liebte. Er begehrte sie, ja, er brauchte sie. Das musste zunächst reichen.
In Isabellas Stimme schwang eine Spur von Kummer mit, so als ob sie die Antwort schon kannte. Und als Marcus nicht antwortete, schüttelte sie leicht den Kopf.
„Da ich einmal dein Herz besaß, Marcus, wie könnte ich da mit weniger zufrieden sein? Es wäre eine Ehe zweiter Wahl.“
Marcus atmete tief und versuchte, ruhig zu sprechen. Er hatte sich seit Langem nicht so verletzbar gefühlt. Isabellas schonungslose Offenheit gab ihm das Gefühl, dass das, was er ihr anbot, einfach nicht gut genug war.
Er räusperte sich. „Bella, wir sind verheiratet. Es kann keine Auflösung geben. Liebe ist für …“
„Narren?“ In ihren Worten schwang Bitterkeit mit.
„Ich wollte sagen, dass Liebe etwas für junge Leute ist“, antwortete er. „Wenn man älter wird, werden die Dinge komplizierter.“
„Wie geschwollen sich das anhört“, sagte sie. „Als ob wir so alt wie Methusalem wären.“ Sie drehte sich ein wenig und sah aus dem Fenster.
„Ich habe schon einmal eine Frau verloren“, sagte Marcus mit einem Anflug von Bitterkeit. „Ich will nicht noch eine verlieren.“
Der Blick ihrer intensiv blauen Augen wandte sich ihm wieder zu, und er dachte einen Moment lang, dass sie ihn über India befragen wollte. Er wünschte es sich so sehr, weil dieses Thema wie ein Hindernis zwischen ihnen stand. Während ihrer Ehe hatte er India vernachlässigt und deswegen schon damals ein schlechtes Gewissen gehabt. Und bestimmt hätte sie den Unfall mit dem Wagen nicht gehabt und wäre nicht gestorben, wenn er zu der Zeit bei ihr gewesen wäre. Diese Schuld belastete ihn immer noch schwer und ließ ihn auch jetzt schweigen.
Aber Isabella fragte nicht, und Marcus spürte, wie sie sich innerlich etwas zurückzog.
„Ich kann natürlich eine Annullierung oder eine gesetzliche Trennung nicht erzwingen“, sagte sie. „Das akzeptiere ich. Aber ich sehe keinen Sinn darin, eine Ehe zu führen, wenn du mich nicht liebst.“
Er beugte sich eindringlich vor. „Bella, gib mir eine Chance. Ich möchte, dass wir verheiratet bleiben.“
„Weil da vielleicht ein Kind ist?“ Es hörte sich an, als ob Isabella bei ihren eigenen Worten Schmerz empfand. „Das werden wir früh genug wissen.“
Marcus nahm ihre Hand. „Und wenn es so ist, werden wir es zusammen aufziehen.“
„Und wenn es nicht so ist …“, in ihren Augen war Trotz, aber auch Angst zu sehen, „… dann können wir getrennte Wege gehen.“
Er schüttelte den Kopf. „Wovor hast du Angst, Bella?“
Ihr Gesicht umwölkte sich. Einen Augenblick lang dachte Marcus, sie würde nicht antworten, aber dann sagte sie leise: „Ich habe Angst davor, wieder so verletzt zu werden.“
Er fasste ihre Hand fester und zog ihren widerstrebenden Körper über den samtenen Sitz des Wagens enger zu sich. „Ich schwöre, dass ich dich niemals absichtlich verletzen werde, Bella. Niemals wieder.“
Sie blickte in seine Augen, und ihre Gesichter waren sich nahe wie zum Kuss. In ihren Augen war Hoffnung, aber auch Kummer.
„Gib mir eine Chance“, sagte er noch einmal. „Eine Chance, dich zu umwerben.“
Er sah ihr Zögern und fasste ihre Hand noch fester. „Ich werde dich schützen und für dich sorgen, Bella. Wir können das Vertrauen zwischen uns wieder aufleben lassen. Lass es mich dir beweisen.“ Marcus verstand selbst nicht, warum das so ungeheuer wichtig für ihn war. Er wusste nur, dass es so war.
Isabella neigte leicht den Kopf. „Um des Kindes willen – sollte es ein Kind geben – werde ich noch etwas warten, ehe ich meine endgültige Entscheidung treffe. Das ist alles, was ich versprechen kann.“
Marcus’ Herz machte einen Sprung. Er würde sie nicht weiter bedrängen, denn es war nicht der Augenblick, darauf zu bestehen, dass er Isabella niemals gehen lassen würde. Er hatte etwas Zeit gewonnen und auch die Chance, nach der er sich gesehnt hatte. Jetzt musste er Isabella von seiner Zuverlässigkeit überzeugen.
„Da du nun bereit bist, mir zu vertrauen wie ich dir“, sagte er, „muss ich dir etwas sagen.“
„Du erinnerst dich vielleicht daran, wie du mich bei dem Ball der Duchess of Fordyce gefragt hast, warum ich im Fleet-Gefängnis war“, erklärte Marcus. „Ich habe dir niemals den Grund genannt.“
Isabella wartete. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie war gedanklich immer noch zu sehr mit alledem beschäftigt, worüber sie gesprochen hatten. Als Marcus ihr gesagt hatte, dass er ihrer Erklärung für die geplatzte Hochzeit glaubte, hatte das ihrem verwundeten Herzen gutgetan. Es war nur ein kleines Entgegenkommen, kleiner als sie es sich vielleicht gewünscht hatte, aber es war immerhin etwas. Und er hatte sich für sein Verhalten ihr gegenüber entschuldigt. Sie wusste, dass das nicht einfach für ihn gewesen war. Seine Fehler hatte er noch nie leicht zugeben können.
Wenn es dazu kommen sollte, dass sie sich trennten, dann wäre keine Feindseligkeit mehr zwischen ihnen. Falls sie sich überhaupt trennten! Isabella lief ein Schauer über den Rücken. Wie lange würde es dauern, bis sie wusste, ob sie schwanger war? Damals bei Emma hatte es recht lange gedauert, weil sie überhaupt nicht darauf gefasst gewesen war. Jetzt würde sie die Anzeichen zwar schneller erkennen, aber es würde nicht einfacher sein. Sollte sie bleiben oder gehen? Marcus hatte versprochen, für sie zu sorgen und sie zu beschützen, aber er hatte ihr nicht seine Liebe versprochen. Und ohne Liebe hätte sie immer das Gefühl, nur einen schwachen Abglanz dessen zu haben, was hätte sein können.
Isabella wollte aber jetzt nicht mehr an ein Kind denken. Es würde reichen, sich wieder damit zu befassen, wenn sie etwas mehr Zeit und Ruhe für sich hatte. Und da war immer noch der Schatten von India gegenwärtig.
Ich habe schon einmal eine Frau verloren.
Daran musste Isabella nicht erinnert werden.
„Ich habe Ermittlungen über ein Verbrechen angestellt“, sagte er.
Isabella fuhr hoch. „Dadurch, dass du dich selbst als Verbrecher ausgabst?“
„Genau.“ Er seufzte. „Manchmal ist das der leichteste Weg, um an die heranzukommen, die man jagt.“
Sie holte tief Atem. „Ich verstehe. Hattest du Erfolg?“
„Nein“, antwortete er. „Ich bin hinter einem Mann namens Warwick her. Edward Warwick.“ Er sah sie an. „Sagt dir der Name etwas?“
Isabella schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Sollte er?“
„Du hast einen großen Bekanntenkreis. Er könnte auch weitläufig zur Familie gehören.“ Sein Blick ruhte nachdenklich auf ihrem Gesicht. „Warwick ist der Mann, der meiner Überzeugung nach für einen Einbruch und einen Brand in meinem Haus in Salterton verantwortlich ist – und vor allem für den Tod deiner Tante. Er ist ein Verbrecher mit Verbindungen zum Fleet.“
Isabella blickte ihn tief bestürzt an. Sie hätte nie daran gedacht, dass Marcus’ Zeit im Fleet irgendeine Verbindung zu ihr oder zu Salterton hätte haben können.
„Mr. Churchward hat mir gegenüber das Feuer in deinem Haus erwähnt, aber er deutete an, dass es ein Unfall gewesen war“, sagte sie langsam. „Und ich war immer davon ausgegangen, dass Tante Jane eines natürlichen Todes gestorben ist.“ Sie suchte seinen Gesichtsausdruck zu ergründen. „Stimmt das nicht?“
„Nein, auch wenn wir das öffentlich behaupten“, antwortete Marcus, wobei er unruhig hin und her rückte. „Das Feuer war schon Brandstiftung, allerdings unbeabsichtigt. Ein junger Bursche aus dem Ort verursachte den Brand aus Versehen, als er für Warwick nach etwas suchte.“
Isabella runzelte die Stirn. „Wonach hatte er denn gesucht?“
Marcus schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht. Und deswegen versuche ich, es herauszufinden. Als ich an dem Abend in mein Haus kam, spürte ich, dass irgendetwas nicht richtig war. Ich fand den Eindringling oben in dem Zimmer, das India gehört hatte. Es war offenkundig, dass er nach etwas suchte.“ Isabella sah, wie er dabei zusammenzuckte, so als ob die Erinnerung für ihn schmerzlich war.
„Alles war in einem furchtbaren Durcheinander. Kleidungsstücke und Papiere waren überall im Raum verstreut“, fuhr er fort. „Der Bursche war so erschrocken, als er mich sah, dass er die Kerze umstieß und die Vorhänge in Brand gerieten. Dann sprang er aus dem Fenster und verletzte sich dabei. Aber ehe er das Bewusstsein verlor, sagte er mir, dass Warwick ihn geschickt hatte. Deshalb habe ich die ganze Zeit nach Warwick gesucht.“
Isabellas Gedanken waren mit ihrer Tante beschäftigt.
„Aber Tante Jane?“,fragte sie.„Ich bin nie davon ausgegangen, dass die Umstände ihres Todes in irgendeiner Weise verdächtig waren. Mr. Churchward sagte mir, dass sie an dem Abend einen Hirnschlag erlitten hatte. Die Diener fanden sie. Sie war ganz allein.“ Ihre Stimme wurde lauter. Ihr wurde mit einem Mal klar, dass sie sehr aufgewühlt war. Marcus bemerkte auch eine Spur von Misstrauen in ihrem Ton und nahm ihre Hände. Als er ihr antwortete, sprach er bewusst ruhig, und sie entspannte sich wieder etwas.
„Es tut mir leid, Bella“, sagte er. „An jenem Abend besuchte ein Mann Lady Jane. Wie die Diener aussagten, gab er seinen Namen als ‚Warwick‘ an. Er verbrachte einige Zeit mit deiner Tante in der Bibliothek. Niemand konnte jedoch genau angeben, wann er wieder gegangen war. Die Diener wurden durch mehrfaches eindringliches Klingeln alarmiert, und als sie zu Lady Jane kamen, war sie zusammengebrochen. Sie trugen sie in ihr Bett, und ich selbst rief den Arzt. Eine kurze Zeit später starb sie.“
Isabella wurde von einem Schauder erfasst, weil sie daran dachte, wie einsam ihre Tante bei ihrem Ende gewesen war. „Ich verstehe das nicht. Willst du andeuten, dass dieser Warwick sie ermordet hat?“
Marcus schüttelte leicht den Kopf. „Nein. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Mord. Ich glaube vielmehr, dass das, worüber sie gesprochen haben, deine Tante so verstört hat, dass sie einen Anfall bekam und starb“, antwortete er. „In diesem Sinne ist Warwick für ihren Tod verantwortlich.“
Isabellas Gesicht verdüsterte sich. „Gab es einen Streit? Haben die Diener laute Stimmen gehört?“
„Nein, haben sie nicht.“ Er stieß einen Seufzer aus, und seine Stimme klang traurig, als er fortfuhr: „Sie konnten den Mann nicht einmal genau beschreiben.“
„Aber du glaubst, dass dieser Warwick den Schlüssel zu dem Brand und zu Lady Janes Tod in der Hand hält?“
„Ja.“
Isabella ließ die Hände in den Schoß fallen, als Marcus sie losgelassen hatte. Sie blickte aus dem Wagenfenster, ohne etwas bewusst wahrzunehmen.
„Die arme Tante Jane“, sagte sie leise. „Sie tut mir so leid.“
„Es ist eine böse Sache. Und deshalb muss ich zurück nach Salterton.“
Isabella spürte plötzlich Kälte. Trotz aller Beteuerungen hatte Marcus doch einen ganz anderen Grund, um nach Salterton zu gehen. „Ich verstehe“, sagte sie mit trauriger Stimme.
In Marcus’ Augen blitzte es amüsiert auf.„Nein, ich glaube, du verstehst nicht, Bella. Ich wollte sagen, dass ich schon längere Zeit eine Rückkehr nach Salterton geplant hatte, um dort Warwicks Spur aufzunehmen. Die Tatsache, dass du so überstürzt nach Salterton abreistest, machte die Sache für mich nur noch dringender.“
Isabella sah ihn an. „Ich verstehe“, wiederholte sie.
Er nahm wieder ihre Hand und rieb mit dem Daumen zart über ihren Handschuh. Selbst durch das Material spürte sie die Wärme seiner Berührung.
„Bella“, sagte er. „Bitte glaube mir. Wir werden einander nie wieder vertrauen können, wenn wir jedes Wort und jede Handlung anzweifeln.“
Sie nickte. „Warum erzählst du mir das alles jetzt?“
Marcus lächelte. „Weil ich nicht wollte, dass es noch irgendwelche Geheimnisse zwischen uns gibt“, antwortete er, „und weil ich dachte, dass du mir vielleicht helfen könntest.“
„Falls dieser … Warwick mir bekannt wäre?“
„Ja.“
Isabella schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Marcus. Ich erinnere mich nicht, den Namen jemals in Verbindung mit Salterton oder meiner Familie gehört zu haben. Ich würde gern helfen, wenn ich könnte.“
„Das ist schon in Ordnung“, sagte er.
Plötzlich schoss Isabella ein Gedanke durch den Kopf. „Dieser Mann … ich nehme an, dass er gefährlich ist?“
Marcus sah sie an. „Sehr gefährlich. Ich möchte aber nicht, dass du Angst bekommst, Bella. Bestimmt hat er es nicht auf dich abgesehen.“
„Nein“, erwiderte sie, „nur …“ Sie hielt inne, aber Marcus reagierte schneller und beugte sich zu ihr hin.
„Bella, kann es sein, dass du Angst um mich hast?“
Sie vermied es, ihn anzusehen. „Nun, ich … Wenn er gefährlich ist …“
„Du hast Angst um mich!“, sagte er. Ein Lächeln kam auf seine Lippen.
„Du brauchst gar nicht so selbstgefällig zu sein“, murrte sie. „Ich hätte mit jedem an deiner Stelle Mitleid. Es hat nichts mit dir zu tun.“
Sein ganzes Gesicht war nun ein Lächeln. Er berührte Isabellas Wange. „Natürlich nicht, Liebling.“
Er zog Isabella an sich, und sie lehnte sich immer enger an ihn, bis ihr Kopf an seiner Schulter ruhte und die stetige Bewegung des Wagens sie einnicken ließ. Aber ihre Träume waren nicht angenehm. Sie träumte von Jane Southern, die um Hilfe rief und die niemand hörte. Und sie träumte davon, wie Marcus sagte: Weil ich nicht wollte, dass es noch irgendwelche Geheimnisse zwischen uns gibt. Sie erwachte mit dem Gedanken, dass sie immer noch das größte Geheimnis von allen in sich trug.
Als sie sich an diesem kühlen Sommerabend ihrem Bestimmungsort näherten, hatte Isabella während des größten Teils der Reise geschlafen, und Marcus hatte es großes Vergnügen bereitet, sie dabei zu beobachten. Kurz vor Salterton wachte sie auf, und Marcus bemerkte eine kleine Falte zwischen ihren Brauen und eine leichte Reserviertheit in ihrem Verhalten.
„Ich habe nachgedacht“, sagte sie und strich die Rockschöße ihres eleganten Reisekleides zurecht, wobei sie es vermied, Marcus anzusehen. „Ich denke, es ist besser, wenn wir eine gewisse Distanz zwischen uns wahren, bis wir genau wissen, woran wir sind.“ Sie sah ihn kurz an und blickte dann wieder weg. „Ich meine, bis wir wissen …“ Sie hielt inne. Marcus verstand allzu gut, was sie meinte.
Bis ich weiß, ob ich schwanger bin … Bis ich darüber entscheide, ob ich dich verlasse …
Alles in Marcus sträubte sich dagegen. Letzte Nacht war recht wenig Distanz zwischen uns, dachte er. Und auch in der Nacht zuvor, als ich dich nackt in meinen Armen hielt.
Er wusste, dass es ihm wenig nützen würde, darauf hinzuweisen. Wieder einmal war Isabella dabei, ihm zu entgleiten. Das spürte er, darauf war er vorbereitet. Im Allgemeinen war Geduld nicht seine Stärke, aber dieses Mal musste er sich in Geduld üben, um zu bekommen, was er ersehnte: Er wollte Isabella auf Dauer in seinem Leben und in seinem Bett haben.
„Bis wir darüber entscheiden, was wir tun wollen … in Bezug worauf?“, fragte er also gespielt gleichmütig.
Isabella blitzte ihn mit ihren wunderschönen Augen an. „In Bezug auf unsere Ehe natürlich, Marcus. Es trifft sich sehr gut, dass du ein Haus auf dem Anwesen hast. Dort kannst du wohnen, während ich Salterton Hall als meinen Wohnsitz habe.“
Er seufzte vernehmlich. „Isabella, ich möchte ehrlich zu dir sein. Ich werde nicht im Cottage bleiben, während du woanders wohnst. Abgesehen von allem anderen ist mein Haus zurzeit gar nicht bewohnbar, da die Reparaturarbeiten nach dem Brand noch nicht abgeschlossen sind. Ich kann daher deiner Bitte gar nicht nachkommen, selbst wenn ich es wollte.“
„Nun“, antwortete sie und wandte sich von ihm ab, „wie ich höre, haben die Hotels jetzt einen deutlich höheren Standard als zu der Zeit, als ich zuletzt dort war. Zweifellos wirst du etwas finden, was deinem Geschmack entspricht.“
„Salterton Hall entspricht meinem Geschmack.“ Er streckte eine Hand aus und zog Isabella näher an sich heran. Sie ließ sich widerstrebend in die Arme nehmen.
Marcus erinnerte sich an sein Gelübde, Isabella sanft zu umwerben – und unterdrückte sein drängendes Verlangen, Isabellas Zweifel dadurch auszuräumen, dass er sie hier und jetzt im Wagen nahm.
„Wenn es dich beruhigt“, sagte er, „dann kannst du dein eigenes Schlafgemach bekommen … zunächst.“
„Danke“, antwortete sie trocken. „Und du wirst ins Cottage umziehen, sobald es bewohnbar ist.“ Sie sagte das im Ton der Entschiedenheit, der keinen Widerspruch duldete.
Marcus zuckte die Achseln, und um seine Lippen spielte ein verwegenes Lächeln. Er fasste in seine Innentasche und zog ein Papier hervor.
„Wenn du meine Verpächterin sein sollst, dann solltest du dieses lesen“, sagte er.
Isabella zog ihre Handschuhe aus, nahm das Papier und blickte flüchtig darauf. Dann wurde sie ganz starr.
„Was ist das?“
„Dies sind die Pachtbedingungen für Salterton Cottage“, antwortete er.
Isabella sah ihn ungläubig an. „Pacht? Ich dachte, das sei nur eine Formalität.“
Marcus schüttelte den Kopf. „Darin hast du dich geirrt. Lord John Southern hatte seiner Tochter nur das Nutzungsrecht an dem Haus gewährt. Die vorherige Pachtvereinbarung trat dadurch nicht außer Kraft. Nach Indias Tod bat er mich zwar höflich, aber nachdrücklich darum, die Vereinbarung zu unterzeichnen. Ich habe das gern getan, um so meine Verbindung zu Salterton aufrechtzuerhalten.“
Beim Lesen der Zeilen runzelte sie die Stirn. Marcus beobachtete sie belustigt und auch recht befriedigt, weil er die Unsicherheit in ihren Augen sah.
„Aber … du besitzt Salterton Hall doch jetzt. Du kannst nicht dein eigener Pächter sein!“
Er lachte. „Nein, nein, Bella! Du kannst nicht alles haben! Ich habe dir Salterton angeboten – es war schließlich dein Erbe. Und so bist du die Verpächterin. Die Verpächterin, die mir einige … Dienste schuldet.“ Er nahm ihr das Papier aus der Hand. „Gestattest du, dass ich dir die Bedingungen im Einzelnen darlege.“
Isabella wurde unruhig. „Bitte nicht“, sagte sie, „ich möchte sie gar nicht wissen.“
„Aber du musst sie wissen.“ Marcus’ Lächeln zeigte jetzt eine Spur von Spott. „Wie gesagt, es ist dein Eigentum.“
„Ich gedenke aber nicht, mich mit Grundstücksangelegenheiten zu befassen“, antwortete sie mit hochmütiger Miene und vorgestrecktem Kinn. „Mr. Churchward kann die Einzelheiten regeln.“
„Ich fürchte, ich muss darauf bestehen.“
Marcus begann vorzulesen, sodass seine Gattin keine weiteren Einwendungen erheben konnte: „Die Verpächterin erklärt sich bereit, den Pächter lebenslang mit freiem Weinbrand zu versorgen.“ Marcus sah von dem Blatt auf. „Da ich in der Marine war, ist für mich der Beste gerade gut genug. Darf ich vorschlagen, dass du mit dem örtlichen Weinhändler eine Vereinbarung triffst, damit ich immer mit Weinbrand versorgt bin?“
„Du beliebst zu scherzen“, erwiderte sie. „Du weißt, dass ich mir das nicht leisten kann. Und da du mir versprochen hast, mir die Mittel zum Unterhalt von Salterton zur Verfügung zu stellen, würdest du dich ja nur selbst bezuschussen.“
„Das gefällt dir nicht? Vielleicht werde ich dich bitten, deiner Verpflichtung in anderer Weise nachzukommen.“
Ihm entging nicht, wie erbost Isabella die Lippen zusammenpresste.
„Die Verpächterin erklärt sich bereit, die Kosten des Pächters für medizinische Behandlung zu tragen“, fuhr er fort. „Wie gut, dass ich so stark und gesund bin.“
„Wie ist es überhaupt zu dieser lächerlichen Vereinbarung gekommen?“, fragte sie wütend. Dabei wollte sie Marcus das Papier entreißen. Aber er hielt es von ihr fern. „Sie ist sehr ungewöhnlich“, fügte sie hinzu.
Marcus lächelte.„Warte, bis du den Rest der Vereinbarung gehört hast, Isabella, und dann kannst du mir sagen, was du davon hältst“, sagte er mit ruhiger Stimme.
„Die Verpächterin erklärt sich bereit, den Pächter mit warmen Decken, Feuerholz und Nahrung im Winter zu versorgen“, fuhr er fort.„Sie wird den Pächter auch einmal die Woche zum Baden an die See bringen.“
„Zum Baden an die See!“, rief Isabella aus und glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „Eine derartige Verhätschelung forderst du doch wohl nicht?“
„Ich fordere jedoch immer noch, dass du mich zum Seebad begleitest“, antwortete er, „und zu anderen Orten und Betätigungen meiner Wahl, die mein körperliches und seelisches Wohlbefinden fördern.“
Isabella schnaubte auf ganz undamenhafte Weise. „Was für ein Unsinn!“
Er kam näher. „Im Gegenteil, mein Schatz. Das sehen die Regeln dieser Vereinbarung vor.“
Jetzt gelang es ihr doch, ihm das Papier zu entreißen. „Orte und Betätigungen, die sein körperliches und seelisches Wohlbefinden fördern“, wiederholte sie. „Es scheint mir, dass du dich mehr auf dein seelisches Wohlbefinden konzentrieren solltest, Marcus. Ich glaube, da ist noch einiges zu verbessern.“
Marcus zog Isabella weiter zu sich, bis sein Mund nur noch einen Zoll von dem ihren entfernt war. Er sah, wie ihre Augen einen dunklen, warmen Schimmer bekamen, als ihr Blick unwiderstehlich von seinen Lippen angezogen wurde. Erregt benetzte sie mit der Zunge ihre Unterlippe. Marcus unterdrückte den Drang, sie lange und leidenschaftlich zu küssen. Nicht jetzt, noch nicht. Er wollte, dass sie sich danach genauso sehnte wie er.
„Konzentriere du dich auf mein seelisches Wohlbefinden, Liebling“, sagte er leise, „und ich werde über die geschlossene Schlafzimmertür nachdenken, die zwischen uns liegt.“ Er fuhr mit belegter Stimme fort: „Sorge dafür, dass sie verschlossen ist, denn ich werde kommen und klopfen, bis sie sich für mich öffnet.“