9. KAPITEL

Marcus Stockhaven war eine halbe Stunde zuvor im Brunswick Gardens angekommen. Er hatte die Absicht gehabt, Isabella am frühen Morgen aufzusuchen. Aber nachdem er aus dem Osten Londons zurückgekehrt war, fand er eine dringende Nachricht von Lord Sidmouth vor, der ihn wegen seiner geheimen Nachforschungen im Fleet in das Innenministerium einbestellte. Genau wie Marcus war auch Sidmouth noch unerbittlich hinter Edward Warwick her. Mittlerweile gab es sogar neue, beunruhigende Gerüchte, denen zufolge Warwick in mehrere politische Unruhen und auch in einen Raubüberfall auf das Geschäft eines Waffenschmiedes verwickelt war. Der Innenminister wollte daher von Marcus wissen, ob seine Ermittlungen wichtige Ergebnisse gezeitigt hatten und ob Warwick sich wieder nach Salterton begeben würde, um das, was er dort begonnen hatte, zu Ende zu führen.

Zu seinem Leidwesen konnte Marcus erst nach einigen Stunden aus der Besprechung entkommen. Als er schließlich im Brunswick Gardens ankam, fand er die Menge von Journalisten und enttäuschten Galanen vor. Der Butler teilte ihnen gerade mit, dass Fürstin Isabella außer Haus war. Marcus glaubte das keinen Augenblick, aber er wollte in Gegenwart dieser Meute keine Szene machen, um dadurch in das Haus zu kommen. Einer der Diener Isabellas hatte sich unter die Massen gemischt und verkündete die Nachricht, dass die Fürstin an dem Abend eine Aufführung von Congreves Der Lauf der Welt besuchte wollte. Marcus spendete Isabella für diesen genialen Einfall innerlich Beifall. Es war natürlich möglich, dass ihre Diener dadurch einen Vorteil für sich zu erlangen hofften, was er aber bezweifelte. Er war im Gegenteil sicher, dass sie dieses Gerücht selbst in die Welt gesetzt hatte.

Marcus ballte die Fäuste in der Tasche und kümmerte sich nicht darum, dass so die elegante Linie seines Gehrocks ruiniert wurde. Der Anblick der vielen Verehrer seiner Gattin trieb ihn fast in den Wahnsinn. Es bestand die Gefahr, dass er seine Selbstbeherrschung verlor – und das wegen einer Frau, gegen die er nur Abneigung verspürte und die er gleichwohl besitzen musste. Marcus spürte, wie das Verlangen in seinem Inneren zu glühend heißer Heftigkeit anwuchs. Je länger er warten musste, desto entschlossener wurde er.

Schnell machte er seine Pläne. An der Straßenecke stand ein Blumenmädchen, von der Marcus einen unschuldig aussehenden Strauß von rosa Rosen kaufte. Da er gerade keinen Stift zur Hand hatte, lieh er sich einen von einem der Zeitungsleute, die sich um die Eingangstreppe drängten. Dann ging er an den Lieferanteneingang, klopfte und übergab den Strauß der Wirtschafterin.

Danach wartete er.

Nach genau dreiundvierzig Minuten öffnete sich der Dienstboteneingang, und der Butler kam heraus, um eine Droschke zu rufen. Marcus hatte den Eindruck, dass er das nicht gerade mit Begeisterung tat. Die Droschke hielt an der rückwärtigen Tür, und Fürstin Isabella schritt die Treppe herab und bestieg die Droschke. Sie war in Scharlachrot gekleidet und trug eine unerhört modische Haube.

Als das Gefährt um die Straßenecke bog, stieß Marcus einen tiefen Seufzer aus. Er war nicht sicher gewesen, dass seine Frau dem ziemlich gebieterischen Befehl Folge leisten würde. Eigentlich hatte er ihre Reaktion überhaupt nicht vorhersehen können. Die Tatsache, dass sie ausfuhr, musste natürlich noch nicht bedeuten, dass sie auf dem Weg zu Churchwards Kanzlei war. Sie konnte in irgendeinen anderen Teil Londons fahren. Dennoch ließ die Situation Marcus hoffen.

Er ging auf die Brunswick Avenue und nahm ebenfalls eine Droschke. Jetzt war er ganz zuversichtlich, dass er in dem Spiel einen Schritt voraus war. Trotzdem durfte er sich nicht selbstgefällig zurücklehnen. Isabella zu unterschätzen, wäre der größte Fehler.

Mr. Churchward war recht unglücklich.

Er hatte dem Ersuchen des Earl of Stockhaven, ein Treffen zwischen ihm und seiner Frau in seiner Kanzlei zu leiten, nur widerstrebend zugestimmt. Dies war wirklich die allerletzte Angelegenheit, in die er einbezogen werden wollte. Nun da die beiden Hauptpersonen anwesend waren, wünschte er sich in den Hades, so angespannt war die Atmosphäre.

Zuerst war die Countess of Stockhaven angekommen. Sie trug ein prächtiges Kleid in Scharlachrot und eine kleidsame kleine Haube, die ihr Gesicht teilweise verdeckte. Isabella begrüßte Mr. Churchward mit kühler Gelassenheit und setzte sich, um auf ihren Mann zu warten. Als Marcus Stockhaven hineingeleitet wurde, machte sie unerhörterweise keine Anstalten, sich zu erheben und ihn zu begrüßen.

Der Gesichtsausdruck des Earls war wie versteinert, und er trat recht gebieterisch auf. Mr. Churchward hatte den Eindruck, dass sein Auftreten manch einen geringeren Mann eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht hätte. Seine Gattin schien jedoch nicht im Geringsten beeindruckt.

„Vielleicht können wir sofort zur Sache kommen“, sagte sie kühl. „Ich habe wenig Zeit.“

Marcus sah mit einem Blick auf sie herab, der fast jeden hätte im Boden versinken lassen.

Isabella schnippte gelassen ein Fädchen von ihrem Kleid. Ihr eisiges Lächeln hätte Wasser gefrieren lassen können.

Der Anwalt räusperte sich.

„Madam, der Earl hat um dieses Treffen nachgesucht, damit gewisse Fragen, die Ihre Eheschließung betreffen, mit dem Ziel einer einvernehmlichen Lösung diskutiert werden können.“

„Lassen Sie diese Feinheiten, Churchward“, unterbrach Marcus ihn schroff. „Wir sind hier, um meiner Frau die Bedingungen dieser Ehe zu erläutern.“ Damit wandte er sich Isabella zu. „Ich habe Mr. Churchward gebeten, bei unserem Treffen zugegen zu sein, damit es über die Art unserer Vereinbarung keine Missverständnisse gibt, Madam.“

Sie blitzte ihn mit einem vernichtenden Blick ihrer blauen Augen an. Mr. Churchward bewegte sich unruhig hin und her, als ob er auf glühenden Kohlen säße. Marcus blieb völlig unbeeindruckt.

„Beginnen Sie“, beschied sie knapp.

Churchward betete, dass der Fußboden seiner Kanzlei sich auftun und ihn verschlingen möge. Als das zu seinem Bedauern nicht geschah, räusperte er sich nochmals und nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch auf. Seine Hand zitterte dabei sichtlich. Marcus ging hinüber zum Fenster und stellte sich hinter seine Frau. Seine düstere Gegenwart beherrschte den Raum.

„Der Earl of Stockhaven legt die folgenden Bedingungen für seine Ehe mit Fürstin Isabella Di Cassilis fest“, las der Anwalt eilig vor. „Erstens: Die Eheschließung soll unverzüglich offiziell bekannt gemacht werden. Zweitens: Es wird keine Auflösung der Ehe geben. Drittens: Aufgrund der Regelungen des Ehegesetzes beansprucht der Earl das Eigentumsrecht an dem Haus Brunswick Gardens Nr. 5 und weist den Anwalt an, den Verkauf einzuleiten.“

Churchwards Vortrag wurde immer schneller, bis er schließlich alles nur noch herunterrasselte. „Viertens: Aufgrund der genannten Regelungen beansprucht der Earl das Eigentumsrecht an der Besitzung Salterton Hall in der Grafschaft Dorset.“

Endlich rührte Isabella sich. Sie hatte die ganze Zeit reglos und mit gesenktem Kopf dagesessen. Jetzt blickte sie auf. Obwohl Churchward ihren Gesichtsausdruck nicht zweifelsfrei deuten konnte, ahnte er, dass Isabella sehr verletzt war. Sie hatte Salterton als ihr Eigentum betrachtet. Der Besitz bedeutete ihr viel. Aber Churchward konnte daran nichts ändern. Aufgrund der Rechtslage gehörte das Eigentum der Countess ihrem Mann.

„Madam“, sagte Churchward kläglich.

Isabella lächelte ihn an. Trotz der angespannten Situation war Wärme in ihren Augen. „Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Churchward. Ich weiß, dass Sie das nicht zu verantworten haben.“ Dann wandte sie sich mit klarem, kühlen Blick wieder ihrem Gatten zu.

„Ich nehme an, dass da noch mehr kommt?“

„Selbstverständlich“, antwortete Marcus. Sein Gesichtsausdruck war hart wie Granit. „Sie werden sich während der Zeit unseres Aufenthaltes in London nach Stockhaven House begeben. Des Weiteren werden Sie sich an mich wenden, um noch etwaige ausstehende Schulden zu regeln, und Sie werden meine Erlaubnis einholen, ehe Sie weitere Geschäfte tätigen. Sie werden mich über alle Ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen informieren.“

„Und ich werde Sie konsultieren, ehe ich mit irgendeinem meiner Bekannten spreche“, unterbrach sie ihn schnippisch. „Ihre Forderungen sind lächerlich, Sir.“

Marcus schob seine Hände in die Taschen. „Keineswegs, Madam. Meine Bedingungen sind für einen Mann mit einer treulosen Gemahlin durchaus annehmbar.“

Mr. Churchward machte sich in seinem Sessel ganz klein. Wenn er sich so unauffällig wie möglich verhielt, gab es die geringe Chance, sich aus dem Raum zu entfernen, ohne dass der Earl und die Countess es bemerkten. Wenn man den Earl ansah, wie er mit einem grimmigen Gesicht seine Frau wie ein Turm überragte, konnte man leicht glauben, dass er einen abgrundtiefen Hass auf sie verspürte. Aber so war es nicht. Mr. Churchward erkannte das. Hinter der eiskalten Fassade konnte er Marcus Stockhavens Gefühle für seine schöne Frau erahnen, die wesentlich komplizierter und vielschichtiger waren, als es bloßer Hass gewesen wäre. Seit dem Betreten des Raumes hatte der Earl seinen Blick nicht ein einziges Mal von der Countess abgewandt. Er beobachtete sie mit scharfem Auge wie ein Habicht. Und eben hatte Churchward ihn dabei ertappt, wie er sie mit einem solch ungestümen, aber auch zornigen Begehren angesehen hatte, dass er sich zutiefst unbehaglich fühlte.

Isabella sprach nun, und ihre Stimme war wieder kühl und ausdruckslos. „Sie nehmen mir also Salterton Hall weg, Sir. Das ist wirklich eine bemerkenswerte Rache.“

„Ich verlange den Besitz nicht“, antwortete Marcus kurz. „Er wird verkauft werden.“

Isabella neigte den Kopf zur anderen Seite, sodass die Haube nur noch die Rundung ihrer Wange sehen ließ. Mr. Churchward war eigentlich kein Mann mit ausgeprägtem Einfühlungsvermögen, in diesem Augenblick konnte er jedoch ihren ganzen Kummer nachempfinden.

„Was erhalte ich dafür?“, fragte sie nach einer Weile. „Ich würde gern wissen, Mylord, welche Regelung Sie für mich vorgesehen haben.“

Marcus stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und beugte sich zu ihr vor. „Ihre Schulden sind beglichen, Madam. Das ist die Regelung, die für Sie gilt. War es das nicht, was Sie wollten?“

Isabella strich mit auffällig vorsichtigen Bewegungen ihre Handschuhe glatt. „Aber was würde im Falle Ihres Todes geschehen, Mylord? Welche Vorkehrungen sollen für meine Zukunft getroffen werden? Unfälle können immer passieren.“

Mr. Churchward holte tief Atem. Mylady war dabei, ein sehr gefährliches Spiel zu spielen. Er beobachtete, wie der Earl die Hände auf den Schreibtisch presste.

„Im Falle meines Todes, Madam“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, „denke ich, dass Sie wieder versuchen werden, einen reichen Mann zu finden. Das ist ja Ihre übliche Vorgehensweise, oder?“

„Und Ihr Eigentum und Vermögen?“

„Gehen an meinen Cousin. Ich bedaure, dass Sie keinen Vorteil davon hätten, wenn Sie mich ermorden ließen.“

Mr. Churchward jammerte jetzt fast. „Mylord, das ist höchst unschicklich!“

Marcus beachtete ihn nicht. „Es sei denn“, vollendete er in barschem Ton, „Sie schenken mir einen Erben, Madam. In dem Fall wird er alles erhalten.“

Die Schildpattschnalle ihres Retiküls schnappte unter ihren Fingern zu, und alle fuhren hoch.

„Ich würde Ihnen eher die Pest an den Hals wünschen“, sagte sie mit süßer Stimme. „Mich bekommen Sie als Teil dieser ‚Regelung‘ nicht in Ihr Bett.“

Vor lauter Verlegenheit bekam Mr. Churchward ganz rote Ohren.

„Sie werden alle Pflichten einer Ehefrau erfüllen.“ Churchward sah, wie Marcus bei jedem Wort, das er herauspresste, immer bleicher wurde. „Wir werden das allein diskutieren, Madam.“

Isabella neigte den Kopf mit perfekter Eleganz. Sie stand auf. „Wenn es jetzt nichts mehr zu sagen gibt, werden Sie mich entschuldigen, Gentlemen.“

Marcus nahm das Papier aus Churchwards bebenden Fingern. „Nicht bevor Sie dies unterzeichnen, Mylady.“

Sie zögerte. Es schien Churchward, dass eine unangemessen lange Zeit verging, während sie von dem Papier zu dem versteinerten Gesicht ihres Mannes blickte. Sie wirkte jung, stolz und wirklich sehr anziehend. Churchward sah die unerträgliche Erwartung im Gesicht des Earls.

„Nein“, sagte sie mit klarer Stimme. „Ich werde nicht unterzeichnen. Sie können mich nicht dazu zwingen. Mr. Churchward, trotz der heutigen Diskussion wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die notwendigen Informationen über eine Auflösung der Ehe zukommen ließen.“

Marcus richtete sich zu voller Höhe auf. „Die Anzeige über unsere Eheschließung wird morgen in der Times erscheinen, obSie zustimmen oder nicht.“

Isabella erwiderte nichts und schloss die Tür ganz leise.

„Mylord“, sagte Churchward, sobald er sich wieder etwas gefasst hatte, „das war nicht klug.“

Marcus schien ihn gar nicht zu hören. Er schüttelte heftig den Kopf, als ob er aus einem Traum erwachte, und blickte auf das zurückgewiesene Blatt Papier auf dem Schreibtisch. „Sie wird zustimmen“, sagte er leise. „Sie hat keine andere Wahl.“

Churchward sah Marcus Stockhaven fest an. Er fragte sich, ob der Earl seine Frau überhaupt kannte. Churchwards Erfahrung war eher begrenzt, aber man benötigte nicht Lord Byrons umfassende Kenntnis der Frauen, um zu erkennen, dass Marcus einen taktischen Fehler gemacht hatte. Er hatte seine Forderungen gestellt. Seine Frau hatte sie abgelehnt. Das Spiel war noch nicht vorüber. Es hatte eigentlich gerade erst begonnen.

Isabella konnte nirgends hinrennen, sich nirgendwo verbergen, und sie hatte niemanden, der ihr helfen konnte. Aber sie würde auf keinen Fall kampflos aufgeben.

Sie saß allein in der Di Cassilis-Loge des Sadler’s Wells-Theaters. Von der Darbietung von Figaros Hochzeit hatte sie kaum einen Ton gehört. Die amüsante Erzählung von Liebe, Verrat und Vergebung schien heute Abend zu sehr zu passen. Außer dass es für Marcus und sie selbst die Liebe nicht mehr gab, der Verrat vollständig und die Vergebung ein bloßer Traum war.

Isabella konnte Marcus’ Gesichtsausdruck nicht vergessen, während Mr. Churchward die Bedingungen bezüglich Salterton Hall vorlas. Sie hatte sich vorher gefragt, ob Marcus aus Stolz und Rache handelte; aber der Ausdruck grimmiger Befriedigung in seinem Gesicht, als er ihr das Erbe wegnahm, ließ vermuten, dass seine Beweggründe über bloße persönliche Vergeltung hinausgingen. Er zahlte ihr damit etwas heim – und dabei ging es nicht nur um den Verrat an ihm, sondern auch um etwas, was mit ihrer Cousine India zu tun hatte. Dessen war sie sicher.

Die Aussicht auf Salterton war ihre Rettung gewesen. Sie hatte alles mit Gleichmut ertragen, solange sie sich nur an den Gedanken klammern konnte, an den Ort jener glücklichen Kindheitserinnerungen zurückzukehren und ein wenig von jenem Frieden wiederzuerlangen. Dass sie überhaupt nicht daran gedacht hatte, dass alles anders werden könnte, war außerordentlich naiv von ihr gewesen. Mit ihrer Heirat fiel ihr ganzes Vermögen einschließlich Salterton ihrem Mann zu. Für sie selbst war jetzt nichts mehr übrig. Alles war Marcus’ Eigentum – und sie selbst auch.

Isabella fühlte sich krank und kalt und hatte Angst vor der Frage, wie Marcus seine Überlegenheit wohl ausspielen würde. Es gab viele Möglichkeiten, sie zu demütigen. Er hatte sie mit seinen Forderungen schon ihres Eigentums und ihrer Würde beraubt. Allerdings war sie ziemlich sicher, dass er sie nicht in das Ehebett zwingen würde. Trotz ihrer gegenseitigen Feindseligkeiten würde er keine körperliche Gewalt anwenden, um zu bekommen, was er wollte. Das beruhigte sie jedoch keineswegs. Was ihr sehr zusetzte, war die Verwirrung darüber, wie sie einerseits eine solche Abneigung gegen einen Mann haben konnte, andererseits aber eine Anziehungskraft spürte, die ihr trotz allem sagte, dass sie immer schon füreinander bestimmt waren.

Die Vorhänge an der Rückseite der Loge bewegten sich, als jemand durch die Öffnung kam und sich neben sie setzte. Die Di Cassilis-Loge hatte nicht nur einen privaten Eingang, sondern auch einen geheimen Verbindungsgang zu den Garderoben. Fürst Ernest hatte immer das Vorrecht geschätzt, seine bevorzugten Darstellerinnen unmittelbar nach der Aufführung zu begrüßen und sie dann zu einer ganz anderen Aufführung, die eigens für ihn bestimmt war, zu überreden. Heute Abend hatte Isabella die Abgeschiedenheit aus einem anderen Grund begrüßt. Sie ermöglichte es ihr, allein und unbeobachtet in das Theater zu kommen. Jetzt allerdings brauchte sie nicht einmal den Kopf zu wenden, um zu wissen, wer neben ihr saß.

„Gratuliere, Mylord“, sagte sie im diskreten Flüsterton, um sich nicht von der Aufführung abzulenken. „Ich nehme an, Sie sind hier, um Anspruch auf den einzigen Teil des Di Cassilis-Besitzes zu erheben, der Ihnen entkommen ist?“

Marcus lachte. „Touché, Mylady. Ich war tief beeindruckt, nachdem ich entdeckt hatte, dass Ihr verstorbener Mann seine eigene Loge in jedem Theater Londons besaß.“

„Sehen und gesehen werden“, murmelte sie.

„Natürlich.“ Er streckte seine langen Beine aus und lehnte sich bequem in dem tiefen Samtsessel zurück. „Das ist genau das, warum ich heute Abend hier bin.“

„Das dachte ich mir. Ein Interesse an Mozart hätte ich jedenfalls nicht bei Ihnen vermutet.“

Marcus rückte etwas unruhig hin und her. Seine Stimme bekam einen harten Klang. „Sie wissen nichts über meine Interessen, Madam.“

Isabella spielte mit ihrem Fächer. „Das brauche ich auch nicht. Wir mögen zwar miteinander verheiratet sein, aber wir müssen einander ja nicht mit unseren Interessen langweilen – oder mit unserer Gesellschaft. Um es deutlich zu sagen“, sie stand auf, „ich glaube, die Aufführung hat ihren Zauber für mich verloren. Ich werde mich zurückziehen.“

Marcus umfasste rasch ihr behandschuhtes Handgelenk und zwang sie so, sich wieder zu setzen. „Das glaube ich nicht. Da unsere Eheschließung morgen in den Zeitungen stehen wird, möchte ich, dass man uns heute Abend zusammen sieht.“

„Das ist also, was Sie befehlen.“

„Das ist, worum ich bitte.“ Aus seinem Ton war recht wenig Höflichkeit herauszuhören, dachte Isabella. Was er gesagt hatte, war keineswegs eine Bitte.

„Und wenn ich es vorziehe, Ihrer Bitte nicht zu entsprechen?“ Dem Wort gab sie eine verächtliche Betonung. „Was dann?“

Marcus seufzte. „Meine liebe Isabella, Sie sind viel zu klug, um nicht zu sehen, dass es für uns beide viel bequemer ist, wenn Sie meinen Wünschen nachkommen. Warum wollen Sie mit mir kämpfen? Sie wissen, dass ich alle Trümpfe in der Hand halte.“

Eine Welle von heißem Zorn durchfuhr sie. „Was wollen Sie eigentlich?“, zischte sie.

„Das habe ich Ihnen gestern Abend auf dem Ball erklärt“, antwortete er ungerührt. „Ich will Sie als meine Frau, und zwar in jeder Hinsicht. Ich will eine öffentliche Anerkennung der Tatsache, dass wir verheiratet sind, und ich will eine private Abrechnung mit Ihnen. Danach könnten wir vielleicht eine gesetzliche Trennung erwägen.“

Seine kalte Gefühllosigkeit presste ihr gleichsam das Herz zusammen. Ihm ging es um nichts anderes als bloße Rache.

„Sie wollen öffentliche Genugtuung, weil ich Sie damals verlassen habe“, flüsterte sie.

„Ja.“

„Und eine private Abrechnung.“ Isabella hielt inne. „Nicht nur um Ihretwillen, sondern auch Indias wegen.“

Sie merkte, wie er zusammenzuckte. Er wandte sich ihr zum ersten Mal voll zu, und seine Augen waren erfüllt von einem Gefühl, das sie nicht einordnen konnte.

„Sie geben es also zu? Sie waren wirklich so berechnend und bestechlich?“

Die Worte stachen in ihr Herz wie ein Messer. Käuflich, berechnend, bestechlich … was er von ihr hielt, konnte nicht schlimmer sein.

„Ich habe keine Ahnung, worauf Sie sich beziehen“, sagte sie und bemühte sich um einen gleichmütigen Ton. „Ich kann nur vermuten, dass Sie mir etwas vorwerfen, bei dem es auch um India geht, und dass Sie entschlossen sind, dafür ebenfalls Vergeltung zu üben.“

Sie hörte, wie Marcus im Dunkeln seufzte. Auf der Bühne schwoll die Arie zum Crescendo an. Isabella hielt ihren Blick bewusst geradeaus auf die in leuchtenden Farben gekleideten Darsteller gerichtet, so als ob Marcus gar nicht existierte.

Sie war gespannt wie ein Bogen, aber als die Darstellung auf der Bühne ihren Höhepunkt erreichte, stellte sie überrascht fest, wie sie von der Macht der Musik gleichsam hinweggetragen wurde, weit weg von dem unglücklichen Gefühl in ihrem Inneren. Sie bemerkte, wie Marcus’ Griff um ihr Handgelenk zart, fast liebkosend wurde. Er verschränkte seine Finger mit den ihren. Seine Berührung war jetzt ganz leicht, verriet aber so etwas wie einen zarten Besitzanspruch, der ein seltsames Gefühl in ihr auslöste. Sie wusste, dass sie eigentlich wegrücken und deutlich machen müsste, dass er kein Recht auf diesen Anspruch hatte, aber sie konnte es nicht.

Marcus hielt während der restlichen Zeit der Aufführung Isabellas Hand, und das Prickeln an ihrem Handgelenk weitete sich zu einem tiefgreifenden, ihren ganzen Körper erfassenden Gefühlsstrom aus. Hitze, Unruhe und Erregung drohten sie zu überwältigen. Sie war ganz sicher, dass die Röte ihrer Wangen sie verraten würde, und war kaum in der Lage, still zu sitzen. Als die Musik abebbte und der Beifall aufbrauste, war der Lärm beinah zu viel für sie. Dann bemerkte sie, wie Marcus sie beobachtete. Sein vorher harter Blick war nun weicher geworden, und in seinen dunklen Augen blitzte etwas auf, das gefährlich zärtlich aussah. Ihr Herz flatterte. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen, doch in diesem Moment gingen die grellen Lichter an. Isabella blinzelte, wich zurück und entzog Marcus ihre Hand.

Das Publikum war bereits dabei, sich zu erheben. Die Logen waren so gestaltet, dass ihre Besitzer gesehen wurden, und viele Leute hatten inzwischen nach oben geblickt und Marcus neben Isabella bemerkt. Die Massen im Sperrsitz eilten in würdeloser Hast auf die Di Cassilis-Loge zu.

Marcus wandte sich an Isabella. Sein Ton war wieder kühl und ein wenig hart.

„Wir werden hierbleiben und sie empfangen.“

„Nein“, antwortete sie. Der kurze Augenblick der Nähe war vorbei, denn Isabella konnte sehen, wie sehr Marcus die Aussicht genoss, sich zusammen dem Ton zu stellen. „Sie können empfangen, wen Sie wünschen, Mylord. Dies ist schließlich nun Ihre Loge. Ich aber gehe.“

Und ehe er Einwände erheben konnte, war sie hinter die Vorhänge geschlüpft und hatte die geheime Treppe zur Garderobe genommen. Isabella hatte schon immer gewusst, dass Ernests Neigung, Schauspielerinnen zu verführen, ihr eines Tages zustatten kommen würde.

„Was zum Teufel?“

Marcus stand im Leseraum bei White’s und starrte mit unverhülltem Entsetzen auf die Anzeige in der Times. Er wartete auf Alistair, der indes eine Nachricht hinterlassen hatte, dass er einige Minuten später als vereinbart kommen würde. Inzwischen hatte ein Clubdiener die Morgenzeitungen verteilt, und Marcus hatte auf der Suche nach der Anzeige über seine Heirat mit Isabella gespannt die Seiten durchgeblättert. Bei einer öffentlichen Bekanntmachung hatte man irgendwie das Gefühl, dass man den ersten Schritt zur Legitimierung der Beziehung getan und damit der Welt etwas wirklich Greifbares gegeben hatte. Marcus war jetzt voller Erwartung.

Es stand gedruckt da und starrte ihn an. Zunächst war die Bekanntmachung der Eheschließung zu lesen: Der Earl of Stockhaven freut sich, seine Eheschließung mit Fürstin Isabella Di Cassilis bekannt zu machen …

So weit, so gut. Aber unmittelbar unter der Bekanntmachung hatte jemand die folgende Feststellung eingefügt: Die Fürstin Di Cassilis wünscht hiermit bekannt zu machen, dass sie künftig den Titel einer Fürstin den einer Countess vorziehen wird, da er im Rang höher ist. Sie wünscht auch deutlich zu machen, dass sie den Earl of Stockhaven seines Geldes wegen geheiratet hat.

In Marcus’ Ohren dröhnte ein seltsames Geräusch, und seine Umgebung schien ihm merkwürdig gedämpft, als befände er sich unter Wasser. Ein paar Bekannte gingen an ihm vorbei, machten ein paar scherzhafte Bemerkungen, begleitet von einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. Marcus bemerkte sie fast gar nicht, während er die Zeilen immer wieder durchlas. Das war natürlich Isabellas Werk! Er hatte den Fehler begangen, ihr von der Bekanntmachung vorher zu erzählen. Und sie hatte umgehend Gegenmaßnahmen ergriffen. Das Gefühl des Triumphes, das ihn noch vorhin beflügelt hatte, verdorrte und starb schließlich.

Freddie Standish kam durch die Tür. Marcus dachte einen Augenblick lang, dass sein Schwager ihn völlig ignorieren würde. Freddie war kein Held. Es war unwahrscheinlich, dass er eine Konfrontation heraufbeschwören würde.

Die Atmosphäre in dem Raum war unglaublich angespannt. Alle warteten ab, was geschehen würde. Und Freddie Standish ging nicht einfach vorbei, sondern schritt geradewegs auf Marcus zu.

„Gratuliere, Stockhaven“, sagte er kühl und bot ihm nicht die Hand. Es hörte sich an, als bereitete ihm das Sprechen Schmerzen. Mit seinen blauen Augen blickte er ihn unglaublich kalt an. „Zuerst heiraten Sie meine Cousine und nun meine Schwester. Sie haben mehr Glück, als Sie verdienen.“ Er hielt inne, und die Wucht seiner Worte wirkte wie Hammerschläge auf Metall. „Ich will niemals hören, dass Isabella unglücklich ist, sonst werde ich Sie zur Rechenschaft ziehen.“

Freddie machte auf dem Absatz kehrt und schritt geradewegs hinaus. Ein Geflüster aus Erschrecken und wilden Vermutungen wogte hinter ihm her.

Die zum Zerreißen angespannten Muskeln in Marcus’ Körper lösten sich erst ganz allmählich. Er hatte zwar schon bei früheren Gelegenheiten Freddies Feindseligkeit wahrgenommen, sich aber nie viel dabei gedacht.

Zuerst heiraten Sie meine Cousine … Marcus hatte nicht geglaubt, dass India und Freddie ein besonders enges Verhältnis gehabt hätten. India hatte ihn nie erwähnt. Jetzt aber wurde Marcus doch neugierig. Es musste einen Grund für Freddies Feindseligkeit geben. Irgendetwas musste seiner Heirat mit Isabella vorausgegangen sein. Daher konnte Freddies Verhalten nichts mit Isabella zu tun haben. Und es musste sich um etwas ganz Entscheidendes handeln, denn Marcus wusste jetzt ohne die Spur eines Zweifels, dass Freddie Standish ihn hasste.