6. KAPITEL

Isabella war immer der Auffassung gewesen, dass fürstliche Persönlichkeiten bei Weitem überschätzt werden. Dieselben Leute, die sich heute Abend lächelnd verbeugten, als sie beim schottischen Ball der Duchess of Fordyce über den dichten Teppich im passenden Muster glitt, hätten sie nicht beachtet, als sie noch die kleine Isabella Standish ohne die angenehme Stütze eines Titels war. Isabella erkannte eine ganze Anzahl von Gesichtern wieder aus der Zeit, als sie in die Gesellschaft eingeführt wurde. Das war zwölf Jahre her.

Isabella wartete geduldig, um den Gruß der Duchess of Fordyce entgegenzunehmen. An der Seite der Duchess standen ihre drei unverheirateten Töchter und ihr gelangweilt dreinblickender Sohn und Erbe des Fordyce-Vermögens. Als er jedoch Penelope entdeckte, hellte sich sein Gesicht auf. Das war übrigens der Fall bei jedem Gentleman, der die engelhafte Penelope erblickte. Der gute Eindruck hielt meist an, bis sie den Mund aufmachte. Dann nämlich wurde allen klar, was Isabella und Freddie immer schon wussten: dass Pen ein Blaustrumpf mit einer ungeheuer scharfen Zunge war.

„Lord Augustus!“, begrüßte die Duchess den Bekannten der Standishs und lächelte so angestrengt, dass Isabella befürchtete, ihr Rouge könnte abplatzen. Sie hatte gehört, dass Ihre Gnaden selten lächelte, weil sie Angst vor altmachenden Falten hatte. Heute Abend jedoch verzichtete sie offenbar auf diese Vorsichtsmaßnahme.

„Durchlaucht …“ Ein übertrieben ausgeführter Knicks in Isabellas Richtung folgte. „Ich danke Ihnen, dass Sie die Güte haben, unserem Abend Glanz zu verleihen.“

Isabella hörte ein verächtliches Schnauben von Penelope, die nicht einmal den Versuch machte, es durch Husten zu kaschieren. Sie blickte ihre Schwester böse an.

„Es ist ein großes Vergnügen, hier zu sein, Duchess“, erwiderte Isabella und fügte mit Überzeugung hinzu: „Ihr schottischer Ball ist wirklich etwas ganz Besonderes.“

Und das war er auch. Anfang des Jahres hatte der Prinzregent plötzlich eine recht unbeholfene nostalgische Liebe zur Dynastie der Stuarts bekundet. Seitdem war alles Schottische ungeheuer in Mode, fast alle Gastgeberinnen schmückten ihre Häuser mit Schottenmusterdecken und Dudelsäcken. Und getanzt wurden nur noch Reel- und Strathspeytänze. Isabella hörte vom angrenzenden Ballsaal her einen Geiger sein Instrument stimmen.

„Wunderbar“, sagte Isabella, als die Duchess bei den hohen Klängen das Gesicht verzog. Isabella wandte sich an Augustus. „Später müssen wir auf jeden Fall den Reel tanzen, Mylord.“

Die Duchess strahlte vor Erleichterung, und Augustus lächelte auch, wobei er seine Zustimmung durch einen leichten Druck auf ihren Arm signalisierte. Ein wenig zu besitzergreifend, wie sie leicht verstimmt feststellte. Sie hatte Augustus kennengelernt, als er im diplomatischen Dienst am schwedischen Hof war, wo sie und Ernest im Exil weilten. Für sie war er allerdings nie mehr gewesen als ein nützlicher Begleiter bei gesellschaftlichen Anlässen.

Die Duchess begrüßte jetzt Penelope. Ihr überschwänglicher Ton hatte sich um mindestens zehn Grad abgekühlt, da sie mit einer Person sprach, die kaum einen Rang und sehr wenig Vermögen besaß. Deshalb hatte sie Penelope auch für ihren Sohn als ungeeignet eingestuft. Es schien jedoch, dass John Fordyce andere Vorstellungen hatte. Überaus beeindruckt von Pens betörend anziehendem Aussehen forderte er sie zum nächsten schottischen Tanz auf.

„Nein danke“, sagte Pen mit entwaffnendem Lächeln. „Der Reel passt nur zu mir, wenn ich etwas getrunken habe. Um mit Shakespeare zu sprechen: Der Trunk ist ein großer Beförderer von drei Dingen, einer davon ist Schlaf und ein anderer Urin. Verzeihung, aber ich zitiere nur, um meinen Punkt zu verdeutlichen.“

Eine der Fordyce-Schwestern kicherte hinter ihrem Fächer, das Gesicht der Duchess versteinerte sich, und Johns Lächeln schwand, während er einen Schritt zurücktrat. „Vielleicht ein andermal“, stotterte er.

„Oh, das hoffe ich“, sagte Penelope mit einem verheißungsvollen Lächeln. „Ich freue mich darauf.“

„Komm, wir gehen weiter, Penelope“, sagte Freddie hastig. „Wir halten den ganzen Empfang auf.“

Er zog sie von der Gruppe weg, und beide stiegen die breite Treppe zum Ballsaal hinauf.

„Und du denkst, dass ich skandalträchtig bin, Pen!“, schalt Isabella. Sie nahm ihren Bruder am Arm, und Augustus entfernte sich von ihnen mit einem hastigen Wort der Entschuldigung, um die Gesellschaft der respektableren Gäste der Duchess zu suchen. „Wir müssen ja eine Zumutung für dich sein, Freddie“, sagte Isabella spitzbübisch lächelnd.

„Das kommt daher, dass wir einen Fischhändler als Großvater haben“, erwiderte Freddie fröhlich. „Ihr habt beide keine Ahnung, wie man sich benehmen sollte. Ich denke, ich bin derjenige, der mit gutem Beispiel vorangehen muss.“

Sie kamen oben an der Treppe an, und Freddie löste plötzlich seinen Arm von Isabellas Hand, weil ihm etwas Hellblaues ins Auge fiel.

„Oh, da ist ja Lady Murray!“, rief er mit Begeisterung aus. „Entschuldigt – seine Schwester zu eskortieren ist das Langweiligste von der Welt.“ Und damit tauchte er in der Menge unter.

„Nun gut“, sagte Pen, hakte sich bei Isabella unter und zog sie mit in den Ballsaal. „So viel zu Freddies Umgangsformen! Lady Murray ist sein neuester Schwarm, fürchte ich. Die Sache wird traurig enden.“

„Traurig für sie?“

„Für ihn“, antwortete Pen. „Sie hat ihn am Gängelband, tändelt aber mit noch mindestens drei anderen.“

„Das ist aber wirklich empörend!“, sagte Isabella mit Nachdruck.„Wie kommt es eigentlich, dass man mir skandalöses Verhalten vorwirft, während andere sich schlecht benehmen?“

„Es sind Heuchler“, tröstete Pen sie.

„Ich weiß“, seufzte Isabella und fuhr in schelmischem Ton fort: „Hast du dich nicht schon ein wenig nach einem passenden Mann umgeschaut, Schwesterherz?“

„Ich werde wohl nie heiraten“, erwiderte Pen steif. „Es sei denn, ich lerne einen Mann kennen, der mich interessiert.“

„Du urteilst zu streng“, sagte Isabella. „Es muss doch einen Mann geben, der dir gefällt.“ Sie wies mit der Hand durch den Ballsaal. „Sir Edmund Garston zum Beispiel? Er sieht sehr gut aus.“

Pen ließ ihren Blick über den dandyhaften Baronet gleiten, der gerade ein kleines Fernglas an die Augen führte und die golddurchwirkte Spitze bei einer vorübergehenden Lady beäugte. „Nein“, antwortete sie. „Er ist zu verweichlicht. Er würde einem viel über Seidentaft, aber nichts über Leidenschaft beibringen.“

Isabella lachte. „Eine nette Zusammenfassung.“

Um sie herum wogte das Stimmengewirr auf und ab. Das Orchester spielte gerade einen Strathspeytanz mit viel Begeisterung und ebenso vielen falschen Tönen. Die Ladies beobachteten Isabella und stellten Vermutungen darüber an, warum Lord Augustus sie so schnell im Stich gelassen hatte. Daran war sie gewöhnt. Wenn man wie sie Gegenstand der Neugierde war, so sprachen die Leute selten unmittelbar mit einem. Stattdessen klatschten sie über sie, als ob sie gar nicht anwesend wäre.

Isabella stieß innerlich einen Seufzer aus. Ernests Schurkerei war das Einzige, womit er sie in großzügiger Weise bedacht hatte.

Das Flüstern einer der Klatschbasen drang dennoch an ihre Ohren.

„Offenbar hat man auch versucht, ihr das Kind wegzunehmen … Sie hat gesagt, dass sie keine Kinder mehr wollte. Als Mutter ist sie völlig ungeeignet … Kein Wunder, dass das arme kleine Mädchen gestorben ist.“

Das schnitt wie ein Glassplitter in ihr Herz. Isabella drehte sich etwas zu schnell um. War das wirklich ein Geflüster gewesen oder eher ihre bittere Erinnerung? Solche Worte verfolgten sie in Albträumen – selbst jetzt noch, sechs Jahre nach Emmas Tod …

Isabella ließ ihren Blick über die wippenden Hutfedern und die klatschsüchtigen Gesichter unter den Turbanen gleiten. Die Matronen lächelten und nickten ihr zu, aber ihre Augen waren eiskalt. Dann erhob die verwitwete Lady Burgoyne ihre Stimme etwas.

„Wir haben uns gefragt, Königliche Hoheit, ob Sie eine Zeit lang in London zu weilen gedenken oder ob Sie in Kürze einen anderen Aufenthaltsort wählen möchten?“

Die Frage wurde begleitet von Gekicher und aufgeregtem Fächerschlag. Unter dem Gewicht der sich hin und her bewegenden Matronen knarrten die zierlichen, goldweißen Ledersessel, denn die Damen konnten vor Schadenfreude kaum stillsitzen. Wie schön es doch war, eine der ihren zu quälen, weil sie es gewagt hatte, die Grenze der Schicklichkeit zu überschreiten! „Wenn Sie doch nur an Ihrem Platz geblieben wären“, schienen sie zu sagen. „Sie wollten zu hoch hinaus, und nun werden wir Sie bestrafen.“

„Durchlaucht“, sagte Pen laut. „Fürstin Isabella ist eine Durchlauchtigste Hoheit, keine Königliche Hoheit.“ Sie war vor schwesterlicher Entrüstung ganz rot geworden.

Isabella legte sanft ihre Hand auf Pens Arm. Die schmerzhafte Bemerkung über Emma tat ihr im Herzen weh, und sie atmete mehrmals tief ein und aus, um sich wieder zu beherrschen.

„Vielleicht geht die Fürstin auch an jeden Ort, an den Lord Augustus sie mitnimmt“, schaltete sich die üppig gepolsterte Duchess of Plockton ein. Mit ihrem Schildkrötengesicht sah sie über den Ballsaal hinweg und erblickte Augustus, der mit seiner Debütantin tanzte. „Oh, Lord Augustus hat eine neue Neigung entdeckt!“ Dann fiel ihr Blick wieder auf Isabella. „Vielleicht haben Sie auch schon einen neuen … Gefährten gefunden, Fürstin? Sie verlieren nie viel Zeit, oder?“

Die Musik verstummte; und im Ballsaal trat Stille ein. Dann sprach Isabella mit der Klarheit einer gut gestimmten Glocke.

„Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Angelegenheiten, Duchess, Lady Burgoyne. Sie werden sicher enttäuscht sein zu erfahren, dass ich gegenwärtig kaum Neigungen verspüre, irgendeinem Gentleman näherzukommen, und besonders nicht, während ich hier im Lande bin. Wie Sie vielleicht wissen, sind die Engländer die schlechtesten Liebhaber auf der ganzen Welt.“

Einen Augenblick lang geschah nichts; es war wie die Stille vor dem Sturm. Und dann hörte man, wie alle vor Empörung tief Atem holten, ehe sich die erboste Gefühlsaufwallung in immer größeren Kreisen im Saal zu verbreiten begann.

Isabella lächelte zufrieden. Das konnte sich die Duchess of Plockton hinter die Ohren schreiben. Manchmal war es sehr befriedigend, skandalträchtig zu sein.

Auf der anderen Seite des Ballsaales hatte jemand Isabellas Worte bereits in Augustus Ambridges Ohr geflüstert. Augustus richtete sich hoch auf und starrte sie mit ungläubiger Missbilligung an. Isabella lächelte immer noch, während sie mit diebischer Freude sah, wie die Wellen der Empörung auch die letzte Ecke erreichten.

„Bella“, sagte Pen fast mit Ehrfurcht in der Stimme, „darf ich mich wie du benehmen, wenn ich erwachsen bin?“

Isabella wollte gerade antworten, als sie in der Magengegend ein höchst seltsames Gefühl spürte, das ihr den Atem zu nehmen drohte.

Ein Mann stand in der Türöffnung. Sein Gesicht war etwas im Schatten, aber an seiner ruhigen Erscheinung war etwas, das Isabella unwillkürlich erkannte. Sie zitterte. Hier war ein mächtiger Mann, möglicherweise ein Todfeind, aber ein unvergleichlicher Liebhaber. Isabellas Herz begann zu rasen. Es schnürte ihr fast die Kehle zu.

Der Mann sah großartig aus. Er strahlte eine ausgeprägte Männlichkeit aus, die im kultivierten Ballsaal der Duchess zu kantig schien. Diese Ausstrahlung ließ vermuten, dass er niemals einer Gefahr aus dem Weg gegangen war, sondern das Risiko stattdessen sogar gesucht hatte. Alle Dandys und Beaus erschienen plötzlich schwach und lächerlich.

Isabellas Worte hatten die äußersten Ränder des Ballsaales erreicht und schienen wie ein Echo in Wellen zu ihr zurückzukehren.

Und Marcus Stockhaven trat aus dem Schatten und schritt geradewegs auf sie zu, als ob niemand anders im Saal wäre.