10. KAPITEL

„Das hättest du mir sagen können!“ Pen stürmte in den Blauen Salon und ließ sich neben ihre Schwester auf das Sofa fallen. „Ich habe das Gefühl, zum Narren gehalten zu werden. Dass du geheiratet hast, habe ich nur deswegen erfahren, weil Freddie es in der Times gesehen hat!“

Isabella schaute von ihrem Buch auf. „Freddie liest die Times? Das ist ja etwas ganz Neues.“

Pen sah sie finster an. „Mach keine Witze darüber, Bella! Ich fühle mich wirklich verletzt!“ In ihrer Verärgerung gestikulierte sie mit den Armen. „Was spielt sich hier eigentlich ab? Wann ist das geschehen? Und wo ist Marcus? All das ist äußerst seltsam!“

„Es tut mir leid“, antwortete Isabella. Sie sah die Verzweiflung der Schwester, die sich hinter der Entrüstung verbarg. „Es ist nur eine Zweckehe. Wir sind seit einer Woche verheiratet, und ich habe keine Ahnung, wo Marcus ist. Man kann nicht gerade sagen, dass wir unzertrennlich sind.“

„Du hättest mich zur Hochzeit einladen können!“, sagte Pen in beleidigtem Ton. „Wusste irgendjemand anders davon?“

„Nein, natürlich nicht. Niemand außer Mr. Churchward und die Geldverleiher“, antwortete Isabella.

„Aha! Das ist ja großartig!“ Pens Gesicht war rot vor Erregung. „Wie schäbig kannst du eigentlich noch sein, Bella? Freddie und ich sind entsetzt!“

Isabella streckte ihre Hand aus. „Es tut mir leid“, sagte sie nochmals. „Ich habe Marcus wegen seines Geldes geheiratet und geplant, dass die Verbindung nur von kurzer Dauer ist. Leider erweist sich diese Zweckehe als recht zwecklos.“

Pen starrte ihre Schwester an. „Zwecklos? Am besten erzählst du mir jetzt alles, Bella.“

Isabella rieb sich die Stirn. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte, Pen“, sagte sie. „Die Geldverleiher wollten mir keine weiteren Darlehen geben, obwohl ich die Erbschaft von Tante Jane erwarten konnte. Wie du weißt, teilte Mr. Churchward mir mit, dass ich entweder ins Gefängnis kommen oder gezwungen sein würde, ins Ausland zu fliehen.“ Sie schloss die Augen. „Da habe ich das Einzige getan, was ich zu der Zeit tun konnte.“

„Du gingst zu Cousin Marcus, und er bot an, dich zu heiraten.“ Die Ungereimtheiten in Isabellas vager Geschichte waren ihrer Schwester sehr bewusst. Sie runzelte die Stirn. „Die meisten Leute beantragen ein Darlehen, keine Eheschließung, Bella. Es war bestimmt nicht nötig, so weit zu gehen.“

„Wahrscheinlich nicht.“ Isabella zögerte, weil sie ihrer Schwester nicht die ganze Geschichte der Eheschließung im Fleet erzählen wollte. „Ich hatte vor, eine gerichtliche Auflösung der Ehe zu beantragen, sobald ich Marcus das Geld zurückgezahlt hätte.“ Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und zog alle Nadeln heraus. Kopfschmerzen kündigten sich an. „Ich habe gar nicht nachgedacht, Pen. Ich suchte verzweifelt nach Möglichkeiten, um Ernests Schulden zu begleichen.“

„Das verstehe ich ja“, sagte Pen und tätschelte ihre Hand. „Aber trotzdem scheint es ein törichter Plan gewesen zu sein.“

„Das war er auch. Ich gebe es ja zu.“ Isabella seufzte. „Und nun scheint es, dass Annullierungen äußerst schwer zu erreichen sind. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich mich in eine solche Spirale von Schwierigkeiten begeben würde.“

„Auflösungen von Ehen sind verteufelt schwer durchzusetzen“, stimmte Pen zu. „Da siehst du es!“ Sie hob in ratloser Verzweiflung die Hände hoch. „Selbst du weißt das! Warum wusste ich es nicht?“

„Ich habe keine Ahnung. Wenn ich gewusst hätte, dass du an der Frage interessiert warst, hätte ich es dir gesagt.“ Pen seufzte. „Was ist mit Marcus? Wünscht er eine Annullierung?“

„Nein“, antwortete Isabella, errötend. „Und ohne seine Zustimmung ist sie unmöglich.“

„Ja“, antwortete Pen. „Ich habe mir auch schon gedacht, dass er nicht die Auflösung, sondern im Gegenteil den Vollzug der Ehe anstrebte, als ihr euch auf dem Ball der Duchess traft.“

„Pen!“

„Nun?“ Man sah Pen die Ungeduld an. „Ein Blinder kann sehen, dass er dich in sein Bett bekommen will. Habt ihr das nicht vor der Eheschließung besprochen?“

„Wir haben nicht viel gesprochen“, gab Isabella zu.

„Du solltest es aber versuchen. Gespräche klären vieles ganz wunderbar.“

„Danke für den Rat. Ich werde daran denken.“

Pen lächelte. „Wo ist Marcus also? Ich muss ihm gratulieren.“

„Wie gesagt, ich habe keine Ahnung.“ Isabellas Achselzucken täuschte über den Aufruhr in ihrem Inneren hinweg. Marcus hatte nun zweifellos den Zusatz in der Zeitungsanzeige gelesen, und er würde Isabella sicher recht bald aufsuchen. Wie übrigens alle im Ton. Sie würden erpicht darauf sein, den Skandal aus erster Hand bestätigt zu bekommen.

„Ich glaube nicht, dass Marcus begeistert sein wird, wenn er liest, dass du ihn seines Geldes wegen geheiratet hast“, sagte Pen.

Isabella seufzte. „Pen, du hast ein Talent dafür, das Offenkundige festzustellen.“

„Du brauchst gar nicht so zu spotten“, antwortete Pen mit unschuldiger Miene. „Hast du es mit Absicht getan, um Marcus zu ärgern?“

„Ich fürchte, ja. Er bestand auf der Bekanntmachung der Eheschließung, daher entschloss ich mich, etwas mehr bekannt zu machen, als er erwartet hatte.“

„Was, denkst du, wird er sagen?“

„Du kannst ihn selbst fragen“, antwortete Isabella mit nur äußerlicher Gelassenheit. „Ich glaube, dass ich seine Stimme gehört habe.“

Von der Eingangshalle her vernahm man schnelle Schritte, und dann segelte Belton mit wehenden Rockschößen herein.

„Der Earl of Stockhaven, durchlauchtigste Hoheit.“ Sein Grabeston ließ Missfallen über die Mitglieder der Gesellschaft erkennen, die aufgrund ihres unmoralischen Lebensstils getrennt lebten und es daher nötig hatten, dass ihr Besuch ihrem Ehegatten angekündigt wurde.

„Guten Morgen, Mylord“, sagte Isabella. „Wir haben gerade von Ihnen gesprochen.“

Marcus sah Isabella durch schmale Augenschlitze an. Er hielt ein Exemplar der Times in der Hand, die Anzeige deutlich sichtbar. Ungeduldig schlug er mit der Zeitung gegen seine Handfläche. Isabella wusste, dass er darauf wartete, dass sie Pen bitten würde, hinauszugehen. Stattdessen aber nahm sie ganz bewusst ihre halb fertige Handarbeit vom Sofa wieder auf und brachte sorgfältig ihre Stiche an. Sie war keine Stickerin, fand es jedoch nützlich, hin und wieder eine Stickerei zur Hand zu haben. Eine Handarbeit zeugte älteren Damen gegenüber von einem geordneten Haushalt und gab ihr selbst etwas, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten konnte, wenn sie schwierige Situationen vermeiden wollte. Die Situation jetzt war ein hervorragendes Beispiel dafür.

Pen sprang auf und begrüßte Marcus mit einem Kuss auf die Wange.

„Zuerst Cousin und jetzt Schwager!“, rief sie erfreut aus. „Wie wunderbar! Jetzt kann ich mir von Ihnen Geld leihen, Marcus!“

Der grimmige Gesichtsausdruck wurde etwas milder, als er sie lächelnd ansah, verhärtete sich aber wieder, als er sich erneut Isabella zuwandte.

„Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen, Mylady?“

„Natürlich“, antwortete sie, ohne den Blick von der Stickerei zu heben. „Bitte sagen Sie, worum es geht.“

Marcus wartete erneut, dass Isabella Penelope bitten würde, hinauszugehen. Isabella schwieg. Nach einigen Augenblicken sagte sie: „Sie scheinen seltsamerweise zu zögern, Mylord.“

Marcus sah auf Pen, und sie blickte ihn mit ihren klaren blauen Augen an. Er seufzte, ging hinüber zur Tür und hielt sie mit übertriebener Höflichkeit offen.

„Wenn Sie uns bitte entschuldigen, Cousine Penelope …“

„Oh, natürlich!“ Pen wandte sich an Isabella. „Ich bin in der Bibliothek und studiere Plato – für den Fall, dass du mich brauchst, Bella.“

„Danke, Pen“, antwortete Isabella, wobei sie einige konzentrierte Stiche machte. Sie musste Marcus die Sache ja nicht gerade erleichtern. Eher im Gegenteil.

Nachdem Pen gegangen war, herrschte für eine Weile Schweigen. Isabella stickte nun schnell und ungleichmäßig. Sie hoffte, dass Marcus nicht sah, wie sehr ihre Hände zitterten.

Isabella zuckte zusammen, als Marcus die Zeitung auf die Armlehne neben ihr schlug.

„Was soll das bedeuten, Madam?“

Isabella schob wütend ihr Kinn vor. „Ich verstehe nicht, Mylord.“

„Natürlich verstehen Sie!“ Er stützte sich mit der Hand auf die Sofalehne und beugte sich mit einschüchternder Miene über sie. „Ja, genau, Sie haben mich wegen meines Geldes geheiratet! Mussten Sie das dem gesamten Ton mitteilen?“

Isabella stickte noch etwas schneller. Wenn er sich noch weiter vorlehnte, dann würde sie ihn mit ihrer Nadel stechen.

„Es vermeidet Missverständnisse, Mylord“, antwortete sie gleichmütig. „Ich versuche immer, die Wahrheit zu sagen.“

Marcus sah sie wütend an. „Ich wünsche, dass Sie das unverzüglich zurücknehmen, und zwar schon in der morgigen Ausgabe.“

„Wenn Sie es wünschen, Mylord.“

Dabei wagte sie einen raschen Blick auf sein Gesicht. Er sah wütend aus, verwirrt und ratlos. Wie befriedigend das war!

„Sie werden es tun?“, fragte er ungläubig.

„Ja, das sagte ich eben“, erwiderte sie ruhig.

Es trat ein Augenblick der Stille ein, und dann richtete Marcus sich auf. „Gut. Ich wünsche auch zu wissen, wann Sie nach Stockhaven House umziehen werden.“

Isabella schnitt den Faden sorgfältig mit einer kleinen silbernen Stickschere ab. „Ich werde nach Stockhaven House ziehen, wenn es für mich bereit ist, Mylord.“

Marcus sah sie verdutzt an. „Bereit? Inwiefern bereit?“

Isabella hob die Augenbrauen. „Nun, das Haus sollte von oben bis unten sauber sein. Alle Schornsteine müssen gefegt sein. Und Sie brauchen neue Bedienstete.“

Marcus machte eine wegwerfende Geste. „Sie haben schon genug Dienstboten, Madam.“

„Möglicherweise möchten die aber nicht für Sie arbeiten“, antwortete Isabella mit ihrem süßesten Lächeln. „Und natürlich müssen alle notwendigen Vorräte da sein.“

„Unsinn!“

„Und schließlich auch eine Kutsche für mich.“

„Eine Kutsche!“

Sie blickte ihn an. „Natürlich, Mylord. Was werden die Leute sagen, wenn sie sehen, dass Ihre Gattin mit der Mietdroschke reist?“

Marcus öffnete den Mund kurz.

„Sie haben eine Liste über alle meine gesellschaftlichen Verpflichtungen gewünscht, Mylord“, fuhr sie fort. Sie läutete nach dem Butler. „Belton, geben Sie Lord Stockhaven bitte die Liste auf dem Schreibtisch.“

Marcus blickte auf das Blatt Papier, das Belton ihm überreicht hatte. Dann drehte er es um. Er runzelte die Stirn.

„Das Blatt ist leer.“

Isabella lächelte. „Leider habe ich keine Termine, aber wenn ich das Glück habe, von jemandem eingeladen zu werden, Mylord, dann werde ich Sie gewiss konsultieren.“

Er sah sie nun mit offenkundig ungläubigem Blick an. „Das ist lächerlich.“

„Ich kann Ihnen nur zustimmen, Mylord“, erwiderte sie. „Es war jedoch Ihr Wunsch, dass wir so verfahren sollten.“

„Was ich meinte, ist, dass es lächerlich ist, mir mitzuteilen, wenn Sie keine gesellschaftlichen Verpflichtungen haben, Madam. Erwarten Sie, dass ich das glaube? Sie müssen mich für einfältig halten.“

Eine vielsagende Stille trat ein, während Isabella ihn leicht erstaunt ansah. „Einfältig ist nicht gerade der Ausdruck, den ich gebrauchen würde“, sagte sie dann.

Eine tiefe Falte erschien auf Marcus’ Stirn. „Dann sagen Sie mir …“

„Was?“

Er ließ sich zermürbt in einen Sessel fallen. „Dann sagen Sie mir, was Sie heute zu tun gedenken.“

Isabella seufzte. „Nun, wenn Sie gegangen sind, gehe ich vielleicht mit Penelope zur Bond Street.“ Da sie das Missfallen in seinem Blick bemerkte, fügte sie mit einschmeichelnder Stimme hinzu: „Natürlich werde ich nichts kaufen, denn dann müsste ich Sie um Geld bitten. Aber wir können uns die Schaufenster ansehen. Das ist jedoch keine gesellschaftliche Verpflichtung, da Pen durchaus für den Rest des Tages in Plato vertieft sein kann. In der Hinsicht ist sie ganz unberechenbar.“

„Und heute Abend?“, bohrte er weiter. „Theater? Ein Dinner?“

Isabella schüttelte den Kopf. „Ein ruhiger Abend zu Hause.“

„Gäste? Besucher?“

„Lieber nicht“, erwiderte sie ruhig. „Ein gutes Buch ist alles, was ich brauche.“

„Meine Güte, Madam!“, rief er aus. „Sie führen das Leben einer Nonne!“

„Ich hatte ja versucht, Ihnen das zu sagen“, stimmte sie zu. „Leider haben Sie mir nicht geglaubt.“ Sie hielt inne. Dann fuhr sie fort: „Sie können mein Gast sein, wenn Sie es wünschen, aber ich kann nicht versprechen, dass es sehr aufregend sein wird.“

„Heute Abend habe ich eine Verabredung“, sagte er.

Isabella durchfuhr es kalt. Natürlich hatte er. Nur weil sie unschuldig zu Hause saß, gab es keinen Grund anzunehmen, dass er das auch tun würde.

Die Befriedigung über die Zeitungsanzeige verflüchtigte sich plötzlich. Sie standen beide so sehr im Bann ihrer gegenseitigen Feindseligkeiten und ihrer gleichfalls gegenseitigen Anziehung, dass Isabella überhaupt nicht darüber nachgedacht hatte, wo Marcus seine Abende verbrachte. Sie war viel zu erfahren, um anzunehmen, dass er, nur weil er sie wollte, sein Vergnügen nicht woanders suchen würde. Vielleicht hatte er schon eine Mätresse. Bei dem Gedanken durchfuhr ein Stich ihr Herz.

„Natürlich“, sagte sie und räusperte sich, um das unsichere Zittern in ihrer Stimme zu verdecken. „Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Tag.“

Marcus stand auf. „Wenn ich wünsche, dass Sie mich zu gesellschaftlichen Anlässen begleiten, gebe ich Ihnen einen Tag vorher Bescheid.“

„Ich verstehe.“ Sie verstand wirklich. Heute Abend, was auch immer der Anlass war, brauchte er sie nicht an seiner Seite.

„Sie werden den Widerruf für die Times schreiben?“ Er wiederholte die Frage, als ob er ihr immer noch nicht ganz glauben konnte.

„Selbstverständlich“, antwortete sie höflich.

Marcus zögerte einen Augenblick, bevor er sagte: „Also gut. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Mylady.“

Einen Augenblick lang rührte Isabella sich nicht von der Stelle. Sie hörte, wie er beim Hinausgehen Belton ein freundliches Wort des Dankes zurief. Trotz des warmen Wetters fühlte sie sich kalt und steif. Und sie hatte ein seltsames Gefühl der Leere. Was sie geplant hatte, war der baldige Umzug nach Salterton. Das gesellschaftliche Getriebe Londons besaß für sie keinerlei Anziehungskraft. Sie hatte zwölf Jahre damit verbracht, auf dem fürstlichen Präsentierteller zu leben. Nun aber wollte sie nichts als Ruhe und Frieden.

So hatten sich die Dinge aber nicht entwickelt. Sie war in London gleichsam gefangen, weil ihr Mann es so befahl, aber ihre Tage waren leer. Er erwartete von ihr, dass sie für jede Zerstreuung, die sie sich wünschte, seine Erlaubnis einholte. Und da er über das gesamte Vermögen verfügte, waren ihre Möglichkeiten recht beschränkt. Sie erkannte allmählich, dass Marcus sie auf diese Weise dafür bestrafen wollte, was sie ihm in seinen Augen an Bösem zugefügt hatte.

Plötzlich stand sie auf und ließ die Handarbeit auf den Boden fallen. Dann ging sie hinüber zu ihrem Schreibpult. Zuerst musste sie also ihren Widerruf schreiben. Dann brauchte sie etwas Zeit, um nachzudenken. Alles musste sorgfältig geplant werden, denn sie hatte nicht die Absicht, sich von Marcus ihr Leben diktieren zu lassen.

Sie setzte sich und wählte eine der Schreibfedern aus. Dann zog sie ein Blatt Papier heran und begann zu schreiben: Fürstin Isabella Di Cassilis möchte hiermit deutlich machen, dass sie den Earl of Stockhaven nicht seines Geldes wegen geheiratet hat. So. Das war ein Widerruf. Sie hielt inne und kaute an dem Federhalter. Die Fürstin möchte vielmehr darauf hinweisen, dass der Mitgiftjäger der Earl ist, da er durch die Verbindung in den Besitz von Salterton Hall in Dorset gekommen ist, wonach er seit Langem strebte …

Isabella schrieb den Absatz zu Ende, löschte die Tinte ab und las den Text nochmals durch. Sie war zufrieden. Wenn das Marcus nicht zur Weißglut brachte, dann wäre sie außerordentlich überrascht. Gut, er hatte einen Widerruf gewünscht … Er hatte aber nicht gesagt, dass sie keinen anderen Zusatz anbringen sollte.

„Schach!“, sagte sie laut. „Und Sie sehen sich besser vor, Mylord, denn das nächste Mal ist es Matt.“ Das Exemplar der Times lag immer noch auf dem Sofa, wo Marcus es abgelegt hatte. Isabella nahm die Zeitung ganz in Gedanken auf, und dann wurde ihr Blick von einem Artikel auf der Titelseite gefesselt.

Rückkehr des amerikanischen Botschafters und seiner Gattin nach London.

Isabella setzte sich langsam, wobei sie aber noch las. Als sie zum Schluss des Artikels gekommen war, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Mit so einer glücklichen Wendung hatte sie nicht gerechnet. Seit ihrer Rückkehr nach England und der bösen Überraschung von Ernests Schulden schien buchstäblich alles gegen sie zu sein. Doch anscheinend änderte sich das gerade. Isabella ging wieder zu ihrem Schreibpult, nahm ihr bestes Schreibpapier und tauchte die Feder in die Tinte.

An diesem Abend traf Marcus in der Schankwirtschaft Golden Key Inn einen seiner Informanten bei den Bow Street Runners. Wie nicht anders zu erwarten, bestätigte ihm der Ermittler wieder einmal, dass es keinen einzigen Kriminellen in London gab, der etwas über Warwick sagen würde.

Der Runner hatte allerdings noch eine weitere schlechte Nachricht für ihn. Seit Edward Channing aus Salterton verschwunden war, hatte Marcus die Runners nach dem Jungen Ausschau halten lassen. Mit Schaudern erinnerte er sich an Edwards Fieberdelirium und an diese Mischung aus Angst und Respekt in seiner Stimme, wenn er von Warwick sprach. Auch die kummervolle Schweigsamkeit der Eltern des Jungen verfolgte ihn noch. Bisher hatte Marcus die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er ihnen eines Tages eine gute Nachricht zukommen lassen könnte. Doch nun erfuhr er von seinem Informanten, dass der Bursche im Armenhaus in Shoreditch gestorben war. Marcus überkam tiefes Bedauern. Er dachte an Warwick, der ein Kind für seine Zwecke eingespannt und dann auf der Straße hatte liegen lassen, als es krank und für ihn nutzlos geworden war. Eine grimmige Wut durchfuhr ihn.

Marcus zahlte großzügig für die Getränke und ging mit den guten Wünschen des dankbaren Wirts in die Nacht hinaus. Die Luft war schwer und feucht. Er mochte diese heißen Nächte in der Stadt nicht. Die reine, frische Wärme des Sommers war sehr angenehm, aber in London konnte die schwüle Luft einem fast den Atem nehmen. Er dachte an die Elendsviertel, wo Krankheiten wüteten und Kinder wie Edward Channing allein und unbetrauert starben. Wut und Hass auf Warwick kochten in ihm hoch.

Der Gedanke an eine stickige Kutsche war ihm zuwider, und so entschloss er sich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Als er in Mayfair ankam, konnte er noch einen flüchtigen Blick von einer Frau erhaschen, die gerade um die Ecke eilte. Sie war in einen Umhang gekleidet und wenig mehr als ein fliegender Schatten im Dunkeln. Und doch war da etwas an der Art, wie sie sich bewegte, das ihm sogleich vertraut schien … Er schritt etwas schneller aus.

„Isabella!“

Die Frau drehte sich nicht um. Marcus stand im Licht einer Lampe, neugierig beobachtet von einem Wachmann. Er kam sich ziemlich albern vor. Isabella hatte ihm gesagt, dass sie an diesem Abend zu Hause sein würde; und selbst wenn nicht, dann würde sie wohl kaum allein in Mayfair herumlaufen. Vermutlich war es wohl ganz einfach so, dass sie immer mehr seine Gedanken beherrschte. Selbst wenn er an etwas anderes dachte, war sie in seinem Sinn gegenwärtig.

Ohne dass ihm richtig deutlich wurde, was er tat, bog er in die Brunswick Avenue ein und ging zum Brunswick Gardens. Die Lichter am Haus brannten noch, da es nicht sehr spät war. Marcus sagte sich, dass es eine durchaus annehmbare Zeit für einen Besuch war, besonders wenn man seine Frau besuchte.

Er läutete.

Belton war offenbar nicht gerade begeistert, ihn zu sehen. Das Gesicht mit der Leichenbittermiene wurde immer länger.

„Guten Abend, Mylord.“

„Guten Abend, Belton.“ Marcus trat ein und sah sich in der Eingangshalle um, um Isabella vielleicht zu entdecken. „Ist Lady Stockhaven zu Hause?“

„Ihre durchlauchtigste Hoheit“, sagte Belton mit Nachdruck, „hat sich für die Nacht zurückgezogen, Mylord.“

Marcus hatte immer mehr einen bestimmten Verdacht, nämlich dass Isabella sich keineswegs zurückgezogen hatte, sondern in der Stadt weilte, und dass ihre Diener das vertuschten. Er hatte es doch geahnt, dass sie sehr wohl gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkam. Zweifellos war sie jetzt bei irgendeinem freizügigen Dinner.

„Ich möchte sie gern sehen“, sagte er.

Belton ließ die Mundwinkel nach unten sinken. Er stand in seiner ganzen Größe vor der Treppe, so als ob er Marcus körperlich daran hindern wollte, weiterzugehen.

„Ich bedaure, dass Ihre durchlauchtigste Hoheit keinerlei Anweisungen gegeben hat, Ihnen Zutritt zu gewähren, Mylord“, sagte er in gemessenem Ton.

„Ich bin ihr Ehemann“, sagte Marcus mit besonderem Nachdruck.

„In der Tat“, stimmte Belton mit unerschütterlicher Ruhe zu. Aber er rührte sich nicht von der Stelle.

Marcus sah den Diener an, und Belton hielt seinem Blick stand.

„Belton? Wer kommt denn jetzt noch zu einer solch unpassenden Stunde? Ich versuche, einzuschlafen!“

Marcus wandte seinen Blick rasch zur Treppe hinauf.

Isabella stand oben auf der Treppe. Sie trug ein blassblaues Gewand. Ihr Haar war gelöst und fiel ihr über Gesicht und Nacken, ihre Füße waren bloß. Es war ganz offensichtlich, dass sie im Bett gewesen war. Marcus’ Herz pochte. Ihm wurde plötzlich klar, dass er sie, seit sie siebzehn gewesen war, so nicht mehr gesehen hatte.

Isabella kam nicht herunter. Sie stand auf der obersten Stufe, eine Hand auf dem Geländer, und sah zu ihm hinunter. Die Höhe der elegant ausladenden Treppe schien ihr eine gewisse unberührbare Würde zu verleihen.

Marcus sah ganz bewusst Belton an, der anscheinend ebenso bewusst seinem Blick auswich.

„Entschuldigen Sie, Belton. Ich möchte mit meiner Frau sprechen.“ Marcus konnte seine Ungeduld kaum verbergen.

Belton drehte sich um. „Der Earl of Stockhaven möchte mit Ihnen sprechen, durchlauchtigste Hoheit.“

Eine Pause trat ein. Dann sagte Isabella: „Lassen Sie ihn heraufkommen, Belton.“

Marcus nahm zwei Stufen auf einmal und erreichte Isabella in Sekundenschnelle.

„Sie waren schon im Bett“, sagte er zögernd. Er streckte seine Hand aus und berührte ihre Wange. Ihre Haut fühlte sich warm und zart an. Da er sie so selten berührte und es immer tun wollte, kam es ihm jetzt vor wie eine unwiderstehliche Versuchung. Er wünschte sich, mit den Händen durch ihr gelöstes Haar zu gleiten, dieses Haar in herbstlichen Farben, so lebendig mit Rot, Braun und Gold. Er sah, wie ihre Wimpern flatterten. Sie schluckte. Obwohl sie sich unter seiner Berührung nicht bewegte, spürte er in ihr die gleiche schmerzliche Sehnsucht, die auch ihn verzehrte. Ihre tiefblauen Augen blickten schläfrig, aber gleichwohl mit einem Verlangen, das sie nicht verbergen konnte.

„Es ist schon nach elf“, sagte sie. Ihre Stimme klang gleichmütig, obwohl er bemerkte, wie ihr Atem schneller ging. „Worüber wollten Sie mit mir sprechen, Mylord?“

Marcus konnte jetzt an nichts Bestimmtes denken. Reden war jedenfalls nicht das, was er wollte.

„Ich …“ Er konnte sich nicht erinnern, warum er überhaupt hierhergekommen war. Er ließ seine Hand über die zarte Haut ihres Halses gleiten bis hinunter zu der kleinen Mulde an der Kehle. Isabella krallte die Hände in ihr Gewand und presste es enger an sich.

„Ich wollte Sie sehen“, sagte er schlicht.

Isabella sah ihn kurz an und blickte dann wieder zur Seite. „Ich dachte, Sie hätten eine Verabredung heute Abend?“ Ihre Stimme war etwas belegt.

„Ja, aber was ich vorhatte, ist erledigt.“

Marcus strich jetzt über ihren Nacken. Unter seinen Fingern fühlte sie sich warm und gleichzeitig so verletzbar an. Ihr lose über die Schultern fallendes Haar strich über seinen Ärmel. Immer noch liebkoste er leicht ihre Haut, ohne sich dessen richtig bewusst zu sein. Seine zarte Berührung stand im starken Gegensatz zu dem Verlangen, das in ihm tobte. Ihr Mund war so nah an seinem, sodass er sie ganz leicht küssen könnte – so wie er es sich seit jener letzten brennenden Umarmung im Fleet gewünscht hatte.

„Ich glaubte, ich hätte Sie gesehen“, sagte er leise. „Eben, auf der Straße.“

Seine Worte waren kaum hörbar, aber Isabella verstand genug. Das Leuchten wich aus ihren Augen, und sie trat zwei Schritte zurück.

„Ich verstehe.“ Ihr Ton war ausdruckslos. „Sie glaubten, mich gesehen zu haben, obwohl ich Ihnen gesagt hatte, dass ich zu Hause sein würde. Also sind Sie gekommen, um zu kontrollieren, ob ich nicht vielleicht gelogen hatte.“

„Nein!“, rief er unwillkürlich, auch wenn er ihr im Grunde recht geben musste. Er fühlte plötzlich eine Kälte in sich, als ob etwas ihm entglitt, ehe er es wirklich erfasst hatte. Er schwieg. Sein Schweigen verurteilte ihn.

„Nun“, sagte sie nach einer Weile, „Sie sehen jetzt, dass ich zu Hause im Bett war. Allein. Und in mein Bett möchte ich wieder zurück, nun da Ihre Zweifel zerstreut sind. Belton wird Sie hinausbegleiten.“

Marcus zögerte. Er wollte erklären, dass er nicht einfach an ihren Worten gezweifelt hatte. Er hatte sie sehen wollen. Die ganze Zeit hatte er nur an sie gedacht. Allmählich erkannte er, dass er sie brauchte. Aber sie hatte sich bereits ohne ein weiteres Wort von ihm abgewandt. Belton hielt schon die Tür für ihn auf. Und nichts außer der schwülen Nachtluft erwartete ihn nun.