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Der Beobachtungsraum war überfüllt. Der Kapitän,
sein Erster Offizier und andere hochrangige Besatzungsmitglieder
waren gekommen, um diesen Roboterausflug live mitzuerleben. Als die
Tür geschlossen wurde und das trübe rote Leuchten das einzige Licht
war, fühlte sich Lily irgendwie bedrängt von den unsichtbaren
Körpern um sie herum. Mancos kleine Hand stahl sich in ihre.
»Oh, Scheiße«, sagte Bill. »Da ist es.« Er sang die
Big-Ben-Melodie. »Bim bam bim bam …«
Alle starrten auf die Bildschirme.
Es war, als flöge das ROV stromabwärts am Bett der
Themse entlang. Viele der Brücken standen noch, aber das Flussbett
selbst war leer, der Fluss verschwunden - oder vielmehr, er schien
gestiegen zu sein, um die ganze Welt zu ertränken. Boote lagen
überall im Flussbett verstreut, gesunken und verlassen. An den
Ufern glaubte Lily Reihen kleiner Hügel zu sehen, bei denen es sich
um Autos handeln musste, reglos und von Schlick überzogen. Alles
war von einem trüben Schlamm bedeckt, der Farben auslöschte,
sämtliche Konturen weichzeichnete und Einzelheiten verbarg.
Zur Linken rissen die starken Lampen des ROV spitz
gezackte Ruinen aus dem Dunkeln, einen zersplitterten Turm, der wie
ein riesiger Stalagmit aussah - der Palace of Westminster,
jahrhundertelang die Heimstatt des britischen Parlaments. Das ROV
schwenkte vom Fluss weg und schweifte übers Nordufer. Es folgte
Whitehall - die Regierungsgebäude waren nun verkrustete
Sandsteinauswürfe inmitten des allgegenwärtigen Schleims - und kam
zu der freien Fläche des Trafalgar Square. Nelson stand immer noch
stolz auf seiner mit Schwämmen und Seegras überzogenen Säule. Das
ROV sank zum Trottoir des Platzes hinab. Hier war der Schlamm sehr
dick, und es herrschte eine verblüffende Dichte an Lebewesen.
»Vergiss nicht, hier unten gibt’s kein pflanzliches
Leben, sondern nur Tiere und Kleinstlebewesen.« Thandies Stimme
klang begeistert. »Der ›Wald‹, den du siehst, besteht also in
Wirklichkeit aus Tieren, aus Seeanemonen, Korallen und
Röhrenwürmern. Und die ›Laubfresser‹ sind Seegurken und
Seeigel.«
Lily erinnerte sich daran, wie sie kurz nach dem
Sturm und der von ihm verursachten Überschwemmung Londons mit Piers
und den anderen auf diesem Platz gestanden hatte. Nun zappelten und
wanden sich dort ihr völlig fremde Lebewesen im Schleim.
Das ROV stieg wie ein Hubschrauber in die Höhe,
kehrte zum Fluss zurück und arbeitete sich langsam flussabwärts
voran. Bei der Tower Bridge bat Thandie die Crew, das ROV
anzuhalten und die Scheinwerfer zu löschen. Nach ein paar Minuten
schälte sich das vertraute Profil der Brücke aus dem Dunkeln,
erhellt von biolumineszenten Geschöpfen, die sich an ihr Mauerwerk
klammerten oder durch ihre zerbrochenen Fenster schwammen. Man
konnte sogar erkennen, dass die Fahrbahn der Brücke hochgeklappt
gewesen war, als man
sie aufgegeben hatte, wie zu einem militärischen Gruß. Es war eine
seltsame, magische Szene, dachte Lily, als wäre die Brücke mit
Christbaumkerzen geschmückt.
Das ROV schwamm weiter stromabwärts, über Wapping
und Bermondsey hinweg, Richtung Greenwich. Zur Linken wurde sein
Lichtschein vom zersplitterten Glas hoch aufragender Gebäude der
City reflektiert. Dann stieg es nach oben, vollführte einen Schwenk
und übertrug ein Panoramabild. So weit das Licht die Dunkelheit
durchdrang, erstreckte sich das riesige Riff von London. Die
niedrigen Erhebungen waren von lauter kleinen Hügeln übersät, bei
denen es sich um Häuser, Kirchen, Geschäfte und Schulen handelte,
das Werk von Jahrhunderten, das sich nun im Schlamm auflöste. Alle
paar Minuten trieb eins der anderen ROVs ins Blickfeld, forschend,
wissbegierig, wie ein außerirdischer Entdeckungsreisender.
»Hey, da ist der Dome«, sagte Thandie.
Lily spähte auf den Bildschirm. Der Dome selbst war
schon längst in sich zusammengefallen, seine fragile Struktur
zerquetscht und verrottet. Aber sein kreisrunder Umriss war immer
noch deutlich zu erkennen, wie ein Mondkrater, und man konnte die
Überreste der Anlagen im Innern sehen, die Konzertsäle und das
äußere Band der Geschäfte und Restaurants. Lily überlegte, ob sie
Manco erzählen sollte, dass sie seine Mutter, seinen Onkel und
seine Großmutter an diesem seltsamen Ort gerettet hatte, indem sie
mit einem Hubschrauber herbeigebraust war, der tief unter der
gegenwärtigen Höhe der New Jersey geflogen war. Aber sie
hatte nicht die richtigen Worte.
Auf dem Platz unmittelbar vor dem Dome, in der Nähe
des Eingangs zur U-Bahn-Station North Greenwich, tat sich etwas;
eine verschwommene Bewegung ließ eine Wolke farblosen Schlamms
aufsteigen. Bill tippte auf den Bildschirm. »Schaut euch an, wie
die fressen!«
»So was findet man bei Walkadavern«, erklärte
Thandie. »In den Tiefen herrscht eklatanter Nahrungsmangel - ein
schöner, fetter Leichnam kann ganze Floren und Faunen
jahrhundertelang ernähren.«
»Aber das ist kein Wal, oder?«, fragte Lily
unsicher.
»Wohl kaum«, sagte Bill. »Ich habe das schon in
anderen Städten gesehen. Wahrscheinlich eine aufgebrochene
U-Bahn-Station oder so. All die dicht gedrängten Leichen, auf Jahre
hinaus konserviert. Zuerst kommen die Haie und Schleimaale, wegen
des verwesenden Fleisches und der Knochen. Dann sind die Schnecken,
Würmer und Schalentiere dran, und zuletzt kommen die Venus- und
Miesmuscheln - sie mögen die Sulfide, die bei der Zersetzung frei
werden. So ein großes Grab kann monatelang vorhalten. Eine wahre
Fressorgie!«
Lily zog Manco eng an sich und hielt ihm die Ohren
zu.