71
Die Rebellen waren zahlreich, aber sie waren auch ein schlecht ausgebildeter, zusammengerotteter Haufen, und den meisten von ihnen fehlte jeder Sinn für Formation und Disziplin. Jetzt, wo die Quechua-Anführer würgend zu Boden fielen, als das gelbe Gas ihre Lungen füllte, brach selbst unter denjenigen, die gegen das ethnospezifische Toxin immun waren, Panik aus.
Der AxysCorp-Trupp pflügte durch den Mob wie eine Pfeilspitze, die sich in Fleisch grub, und hinterließ eine Spur von Toten und Verwundeten. Lily, die hinter dem Trupp hereilte, sah, dass viele der Gefallenen Überreste westlicher Kleidung trugen, sogar abgenutzte Kleidungsstücke mit dem AxysCorp-Logo. Das mussten Bürger von Walker City sein, Amerikaner wie die Familie ihres Vaters, die ebenso weit von zu Hause entfernt gestrandet waren wie sie und heute hier starben.
Es war nicht schwer, Ollantay mit seinem goldenen Helm und seinem stolzen Inka-Federschmuck zu finden. Während um ihn herum alle würgend zu Boden sanken, wobei ihnen die geschwollene Zunge aus dem Mund quoll, stand er unberührt da, und seine erhobene Kalaschnikow spuckte Feuer, bis der AxysCorp-Trupp ihn überwältigte und ihm die Waffe aus den Händen wand. Ein paar AxysCorp-Wachen zerrten Hammond Lammockson auf die Beine. Er hatte versucht, sich unter den Quechua-Leichen zu verstecken.
Und da war Kristie, sie kniete auf dem Boden, ihren Sohn an die Brust gedrückt. Lily eilte mit der Maske zu ihr. »Setz ihm die hier auf, Kristie - schnell!«
Kristie starrte sie an, die Augen vom Schock geweitet. Aber sie nahm die Maske, zog sie dem Jungen mit zitternden Händen über den Kopf und straffte das Gummiband. »Was ist das, Lily? Die Leute haben einfach angefangen zu sterben
»Nathans Genom-Waffen. Ein ethnospezifisches Toxin, das nur bei Quechuas wirkt. Angeblich selbst dann tödlich, wenn man nur ein Viertel-Quechua ist. Dir und mir sollte nichts passieren, aber dein Junge …«
»Das ist abscheulich!«
»Abscheulicher als ein AK-47? Hör zu, du musst mitkommen. Deine Mutter …«
»Zur Hölle mit ihr!« Kristie blickte zu Ollantay auf, der zwischen zwei Wachen stand, die Hände mit Plastikfesseln auf den Rücken gebunden. »Warum wirkt das Gas bei ihm nicht?«
Piers, dessen Schusswaffe genau auf Ollantays Gesicht gerichtet war, grinste höhnisch. »Vielleicht, weil dieser Inka-Held nicht so reinblütig ist, wie er dich glauben machen wollte, Kristie. Ich habe schon vor langer Zeit versucht, dir das zu erklären.« Die Muskeln in Ollantays Armen wölbten sich gegen die Spannung der Fesseln. »Vielleicht, weil du dein Leben an eine Lüge weggeworfen hast …«
»Es reicht!« Lily legte Piers eine Hand auf den Arm.
»Ich komme nicht mit«, sagte Kristie.
»O doch«, fauchte Lily und zerrte ihre Nichte mit roher Gewalt auf die Beine.
»Lily …«
Sie drehte sich um. Es war Gary Boyle, mit Plastikfesseln an den Händen, wie Ollantay. Neben ihm stand eine kleine, knallhart wirkende ältere Frau. Sie war ebenfalls gefesselt.
Trotz des Tohuwabohus um sie herum lief Lily zu Gary und umarmte ihn. Er roch nach Schmutz, Kordit und Blut. »Mein Gott, es ist schön, dich zu sehen! Selbst unter solchen Umständen. Als die Kundschafter uns informiert haben, dass Walker-Wanderarbeiter kämen - ich wusste ja nicht, ob du noch bei ihnen warst. Sie wollten mir nicht erlauben, Kontakt mit dir aufzunehmen.«
»Lily, das ist Bürgermeisterin Thorson. Von Walker City.«
Lily musterte die Frau, die ihr stolz in die Augen sah. »Ich schäme mich, dass wir euch hier nicht willkommen geheißen haben.«
»Es war nicht Ihre Schuld«, erwiderte Thorson. »Sie haben hier nicht das Sagen, nicht wahr? Außerdem ist das Spiel für euch aus.«
»Das stimmt«, sagte Piers. Er befahl den AxysCorp-Soldaten, Thorson und Gary die Fesseln abzunehmen. »Lammockson gibt Project City auf. Ich glaube, das hatte er ohnehin vor, falls - wenn - das Meer seine Arche erreichen würde. Mit dem Bau der Arche hat die Stadt ihren Zweck erfüllt. Ich weiß nicht, was für eine Ordnung hier jetzt entstehen wird. Lammockson interessiert es wohl nicht länger. Aber wir wissen über euch Walker-City-Leute Bescheid. Ich glaube, ihr würdet einen verantwortungsvollen Beitrag …«
»Sie wissen gar nichts über uns«, entgegnete Thorson spöttisch. »Na los. Laufen Sie nur mit Ihrem Feudalherrn davon. Wir bringen diesen Schlamassel schon in Ordnung.«
In Piers’ Gesicht arbeitete es, aber er trat zurück. »Wie Sie meinen. Lily, wir müssen gehen. Wir haben Hammond. Der Chopper hebt in ein paar Minuten ab, ob wir an Bord sind oder nicht. Gary …«
Gary schüttelte den Kopf. »Das hier sind jetzt meine Leute. Die Wanderer. Ich bleibe hier. Aber nehmt Grace mit.« Er sah sich um.
»Wen?«, sagte Lily. »Grace
Eine junge Frau trat aus einer Schar gefangener Rebellen hervor, ebenso gefesselt wie die anderen. Sie war Helen Gray wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie starrte Lily mit großen Augen an. Lily schmolz das Herz - sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Grace hier war.
»Bei euch wird sie in Sicherheit sein - jedenfalls etwas sicherer. Lammockson ist ein Mistkerl, aber ein schlauer, überlebensfähiger Mistkerl.«
»Gary …«
»Geht schon.«
»Kommt«, sagte Piers. Er hob die Waffe und ging voran zum Helikopter.
Lily fasste Grace am Arm. Sie sträubte sich zunächst, folgte ihr dann jedoch wie betäubt. Kristie leistete heftigeren Widerstand, aber Lily ließ ihr keine Wahl; sie schleifte sie einfach mit.
Die AxysCorp-Soldaten folgten ihnen. Sie zogen sich kämpfend zurück, stießen Ollantay und Hammond vor sich her. Im Laufen schützte Kristie den Kopf ihres Sohnes mit dem Arm. Lily rief sich ins Gedächtnis, dass Kristie noch immer nicht über ihre Mutter Bescheid wusste.
Sie sah zurück. Gary war bereits in dem Durcheinander verschwunden. Das erste Wiedersehen nach so vielen Jahren - und sie hatte nur ein paar Minuten mit ihm verbringen können.
Sie waren fast schon beim Chopper, dessen ratternde Rotorblätter den Tumult im Stadion verstärkten, als Sanjay auf Lily zugestolpert kam.
»Lily! Ich muss es dir sagen … Nathan hat mir vorhin keine Chance gegeben …«
»Was ist, Sanj?«
»Als Thandie angerufen hat - sie hat über den Meeresspiegel gesprochen - und über die Arche.«
»Über welche Arche? Arche Drei, Nathans Schiff?«
»Nein - hör mir zu - über Arche Eins. Die Arche, die sie in Colorado bauen. Letztendlich, sagt Thandie, sei das die einzige Chance. Letztendlich … Sie meinte, du solltest es wissen. Sie hat versucht, es Gary zu erklären …«
Geschrei ertönte. Lily drehte sich um.
Ollantay schüttelte seine Bewacher ab und wirbelte herum. Lily sah, dass er eine Waffe hinter dem Rücken hielt, in seinen gefesselten Händen, einen Revolver, der unter seinem Kittel verborgen gewesen sein musste. Er zielte auf Piers und schoss blindlings …
… und Sanjay schrie auf und stürzte zu Boden. Er lag zuckend da, die Brust bis zum Knochen aufgerissen; blutige Klumpen blubberten im Innern.
Piers hob seinen Revolver und schoss Ollantay aus kürzester Entfernung in den Kopf. Der Quechua brach zusammen. Kristie schrie auf und hielt ihrem Sohn die Augen zu. Piers ließ die Waffe sinken. »Das hätte ich schon vor langer Zeit tun sollen.«
»Sanjay!«, schrie Lily. Sie versuchte, zu ihm zu gelangen; er lebte noch, wie es schien, versuchte immer noch mühsam zu atmen.
Aber Piers packte sie. »Keine Zeit mehr!« Er stieß sie in die offene Luke des Hubschraubers, wo AxysCorp-Gorillas sie packten und hineinzogen. Anschließend wurden Kristie und das Kind in den Hubschrauber verfrachtet, dann Grace, Hammond, Piers und ein paar andere.
Der Chopper hob so abrupt ab, dass Lily zu Boden stürzte. Sie war nicht angeschnallt, saß nicht einmal auf einem Sitz. Durch die offene Luke sah sie auf den zurückweichenden Erdboden hinunter. Da lag Sanjay in seinem Blut, wie ein aus dem Nest gefallener Jungvogel. Sie schwor sich, seine Familie in Schottland, seine Kinder davon zu unterrichten. Und weiter draußen verteidigte der Ring der AxysCorp-Soldaten noch immer das kleine Stück Land …
 
Als Lily immer weiter emporgehoben wurde, öffnete sich die Schüssel des Stadions unter ihr. Überall starben Menschen in einer Wolke aus toxischem Staub und Pulverdampf, Menschen, die um das Recht kämpften, auf diesem schrumpfenden Stück Erdboden zu leben. Der Chopper stieg immer noch höher, bis das Stadion zu einem winzigen Detail der Stadtlandschaft von Cusco geschrumpft war und unter ihnen nur noch ein Teppich roter Ziegeldächer lag, mit Plätzen und Straßen, in denen die Kämpfe weitergingen, eine ganze Stadt, die von Lammockson aufgegeben worden war, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte. Höher und immer höher, bis Cusco in seiner Senke in einem wasserumspülten Gebirgsgrat verschwand.
Grace saß verwirrt da; sie war noch immer gefesselt. Arche Eins, dachte Lily, während sie Grace ansah. Das ist es. Was immer es sein mag, Grace muss an Bord. Sanjay hat sein Leben gegeben, um mir davon zu erzählen. Und ich muss sie dorthin bringen.
Kristie erwachte allmählich aus ihrem Schock. Sie sah sich mit wildem Blick um. »Wo ist meine Mutter? Ist sie in diesem Hubschrauber? Wo ist meine Mutter?«
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
baxt_9783641036911_oeb_cover_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_toc_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_fm1_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_ded_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p01_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c01_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c02_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c03_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c04_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c05_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c06_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c07_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c08_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c09_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c10_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c11_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c12_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c13_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c14_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c15_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c16_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c17_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c18_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c19_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c20_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c21_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p02_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c22_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c23_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c24_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c25_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c26_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c27_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c28_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c29_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c30_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c31_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c32_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c33_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c34_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c35_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c36_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c37_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c38_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c39_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c40_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c41_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c42_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c43_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c44_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c45_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c46_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c47_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p03_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c48_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c49_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c50_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c51_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c52_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c53_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c54_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c55_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c56_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c57_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c58_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c59_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c60_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c61_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c62_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c63_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c64_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c65_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c66_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c67_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c68_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c69_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c70_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c71_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p04_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c72_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c73_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c74_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c75_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c76_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c77_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c78_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c79_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c80_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c81_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c82_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c83_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c84_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c85_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c86_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c87_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c88_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c89_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c90_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c91_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p05_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c92_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c93_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c94_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c95_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c96_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_bm1_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_cop_r1.html