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Die Rebellen waren zahlreich, aber sie waren auch
ein schlecht ausgebildeter, zusammengerotteter Haufen, und den
meisten von ihnen fehlte jeder Sinn für Formation und Disziplin.
Jetzt, wo die Quechua-Anführer würgend zu Boden fielen, als das
gelbe Gas ihre Lungen füllte, brach selbst unter denjenigen, die
gegen das ethnospezifische Toxin immun waren, Panik aus.
Der AxysCorp-Trupp pflügte durch den Mob wie eine
Pfeilspitze, die sich in Fleisch grub, und hinterließ eine Spur von
Toten und Verwundeten. Lily, die hinter dem Trupp hereilte, sah,
dass viele der Gefallenen Überreste westlicher Kleidung trugen,
sogar abgenutzte Kleidungsstücke mit dem AxysCorp-Logo. Das mussten
Bürger von Walker City sein, Amerikaner wie die Familie ihres
Vaters, die ebenso weit von zu Hause entfernt gestrandet waren wie
sie und heute hier starben.
Es war nicht schwer, Ollantay mit seinem goldenen
Helm und seinem stolzen Inka-Federschmuck zu finden. Während um ihn
herum alle würgend zu Boden sanken, wobei ihnen die geschwollene
Zunge aus dem Mund quoll, stand er unberührt da, und seine erhobene
Kalaschnikow spuckte Feuer, bis der AxysCorp-Trupp ihn überwältigte
und ihm die Waffe aus den Händen wand. Ein paar AxysCorp-Wachen
zerrten
Hammond Lammockson auf die Beine. Er hatte versucht, sich unter
den Quechua-Leichen zu verstecken.
Und da war Kristie, sie kniete auf dem Boden, ihren
Sohn an die Brust gedrückt. Lily eilte mit der Maske zu ihr. »Setz
ihm die hier auf, Kristie - schnell!«
Kristie starrte sie an, die Augen vom Schock
geweitet. Aber sie nahm die Maske, zog sie dem Jungen mit
zitternden Händen über den Kopf und straffte das Gummiband. »Was
ist das, Lily? Die Leute haben einfach angefangen zu
sterben.«
»Nathans Genom-Waffen. Ein ethnospezifisches Toxin,
das nur bei Quechuas wirkt. Angeblich selbst dann tödlich, wenn man
nur ein Viertel-Quechua ist. Dir und mir sollte nichts passieren,
aber dein Junge …«
»Das ist abscheulich!«
»Abscheulicher als ein AK-47? Hör zu, du musst
mitkommen. Deine Mutter …«
»Zur Hölle mit ihr!« Kristie blickte zu Ollantay
auf, der zwischen zwei Wachen stand, die Hände mit Plastikfesseln
auf den Rücken gebunden. »Warum wirkt das Gas bei ihm nicht?«
Piers, dessen Schusswaffe genau auf Ollantays
Gesicht gerichtet war, grinste höhnisch. »Vielleicht, weil dieser
Inka-Held nicht so reinblütig ist, wie er dich glauben machen
wollte, Kristie. Ich habe schon vor langer Zeit versucht, dir das
zu erklären.« Die Muskeln in Ollantays Armen wölbten sich gegen die
Spannung der Fesseln. »Vielleicht, weil du dein Leben an eine Lüge
weggeworfen hast …«
»Es reicht!« Lily legte Piers eine Hand auf den
Arm.
»Ich komme nicht mit«, sagte Kristie.
»O doch«, fauchte Lily und zerrte ihre Nichte mit
roher Gewalt auf die Beine.
»Lily …«
Sie drehte sich um. Es war Gary Boyle, mit
Plastikfesseln an den Händen, wie Ollantay. Neben ihm stand eine
kleine, knallhart wirkende ältere Frau. Sie war ebenfalls
gefesselt.
Trotz des Tohuwabohus um sie herum lief Lily zu
Gary und umarmte ihn. Er roch nach Schmutz, Kordit und Blut. »Mein
Gott, es ist schön, dich zu sehen! Selbst unter solchen Umständen.
Als die Kundschafter uns informiert haben, dass
Walker-Wanderarbeiter kämen - ich wusste ja nicht, ob du noch bei
ihnen warst. Sie wollten mir nicht erlauben, Kontakt mit dir
aufzunehmen.«
»Lily, das ist Bürgermeisterin Thorson. Von Walker
City.«
Lily musterte die Frau, die ihr stolz in die Augen
sah. »Ich schäme mich, dass wir euch hier nicht willkommen geheißen
haben.«
»Es war nicht Ihre Schuld«, erwiderte Thorson. »Sie
haben hier nicht das Sagen, nicht wahr? Außerdem ist das Spiel für
euch aus.«
»Das stimmt«, sagte Piers. Er befahl den
AxysCorp-Soldaten, Thorson und Gary die Fesseln abzunehmen.
»Lammockson gibt Project City auf. Ich glaube, das hatte er ohnehin
vor, falls - wenn - das Meer seine Arche erreichen würde. Mit dem
Bau der Arche hat die Stadt ihren Zweck erfüllt. Ich weiß nicht,
was für eine Ordnung hier jetzt entstehen wird. Lammockson
interessiert es wohl nicht länger. Aber wir wissen über euch
Walker-City-Leute Bescheid. Ich glaube, ihr würdet einen
verantwortungsvollen Beitrag …«
»Sie wissen gar nichts über uns«, entgegnete
Thorson spöttisch. »Na los. Laufen Sie nur mit Ihrem Feudalherrn
davon. Wir bringen diesen Schlamassel schon in Ordnung.«
In Piers’ Gesicht arbeitete es, aber er trat
zurück. »Wie Sie meinen. Lily, wir müssen gehen. Wir haben Hammond.
Der Chopper hebt in ein paar Minuten ab, ob wir an Bord sind oder
nicht. Gary …«
Gary schüttelte den Kopf. »Das hier sind jetzt
meine Leute. Die Wanderer. Ich bleibe hier. Aber nehmt Grace mit.«
Er sah sich um.
»Wen?«, sagte Lily. »Grace?«
Eine junge Frau trat aus einer Schar gefangener
Rebellen hervor, ebenso gefesselt wie die anderen. Sie war Helen
Gray wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie starrte Lily mit großen
Augen an. Lily schmolz das Herz - sie hatte keine Ahnung gehabt,
dass Grace hier war.
»Bei euch wird sie in Sicherheit sein - jedenfalls
etwas sicherer. Lammockson ist ein Mistkerl, aber ein schlauer,
überlebensfähiger Mistkerl.«
»Gary …«
»Geht schon.«
»Kommt«, sagte Piers. Er hob die Waffe und ging
voran zum Helikopter.
Lily fasste Grace am Arm. Sie sträubte sich
zunächst, folgte ihr dann jedoch wie betäubt. Kristie leistete
heftigeren Widerstand, aber Lily ließ ihr keine Wahl; sie schleifte
sie einfach mit.
Die AxysCorp-Soldaten folgten ihnen. Sie zogen sich
kämpfend zurück, stießen Ollantay und Hammond vor sich her. Im
Laufen schützte Kristie den Kopf ihres Sohnes mit
dem Arm. Lily rief sich ins Gedächtnis, dass Kristie noch immer
nicht über ihre Mutter Bescheid wusste.
Sie sah zurück. Gary war bereits in dem
Durcheinander verschwunden. Das erste Wiedersehen nach so vielen
Jahren - und sie hatte nur ein paar Minuten mit ihm verbringen
können.
Sie waren fast schon beim Chopper, dessen ratternde
Rotorblätter den Tumult im Stadion verstärkten, als Sanjay auf Lily
zugestolpert kam.
»Lily! Ich muss es dir sagen … Nathan hat mir
vorhin keine Chance gegeben …«
»Was ist, Sanj?«
»Als Thandie angerufen hat - sie hat über den
Meeresspiegel gesprochen - und über die Arche.«
Ȇber welche Arche? Arche Drei, Nathans
Schiff?«
»Nein - hör mir zu - über Arche Eins. Die
Arche, die sie in Colorado bauen. Letztendlich, sagt Thandie, sei
das die einzige Chance. Letztendlich … Sie meinte, du solltest es
wissen. Sie hat versucht, es Gary zu erklären …«
Geschrei ertönte. Lily drehte sich um.
Ollantay schüttelte seine Bewacher ab und wirbelte
herum. Lily sah, dass er eine Waffe hinter dem Rücken hielt, in
seinen gefesselten Händen, einen Revolver, der unter seinem Kittel
verborgen gewesen sein musste. Er zielte auf Piers und schoss
blindlings …
… und Sanjay schrie auf und stürzte zu Boden. Er
lag zuckend da, die Brust bis zum Knochen aufgerissen; blutige
Klumpen blubberten im Innern.
Piers hob seinen Revolver und schoss Ollantay aus
kürzester Entfernung in den Kopf. Der Quechua brach zusammen.
Kristie schrie auf und hielt ihrem Sohn die Augen zu. Piers ließ
die Waffe sinken. »Das hätte ich schon vor langer Zeit tun
sollen.«
»Sanjay!«, schrie Lily. Sie versuchte, zu ihm zu
gelangen; er lebte noch, wie es schien, versuchte immer noch mühsam
zu atmen.
Aber Piers packte sie. »Keine Zeit mehr!« Er stieß
sie in die offene Luke des Hubschraubers, wo AxysCorp-Gorillas sie
packten und hineinzogen. Anschließend wurden Kristie und das Kind
in den Hubschrauber verfrachtet, dann Grace, Hammond, Piers und ein
paar andere.
Der Chopper hob so abrupt ab, dass Lily zu Boden
stürzte. Sie war nicht angeschnallt, saß nicht einmal auf einem
Sitz. Durch die offene Luke sah sie auf den zurückweichenden
Erdboden hinunter. Da lag Sanjay in seinem Blut, wie ein aus dem
Nest gefallener Jungvogel. Sie schwor sich, seine Familie in
Schottland, seine Kinder davon zu unterrichten. Und weiter draußen
verteidigte der Ring der AxysCorp-Soldaten noch immer das kleine
Stück Land …
Als Lily immer weiter emporgehoben wurde, öffnete
sich die Schüssel des Stadions unter ihr. Überall starben Menschen
in einer Wolke aus toxischem Staub und Pulverdampf, Menschen, die
um das Recht kämpften, auf diesem schrumpfenden Stück Erdboden zu
leben. Der Chopper stieg immer noch höher, bis das Stadion zu einem
winzigen Detail der Stadtlandschaft von Cusco geschrumpft war und
unter ihnen nur noch ein Teppich roter Ziegeldächer lag, mit
Plätzen und Straßen, in denen die Kämpfe weitergingen, eine ganze
Stadt, die von Lammockson aufgegeben worden war, nachdem
sie ihren Zweck erfüllt hatte. Höher und immer höher, bis Cusco in
seiner Senke in einem wasserumspülten Gebirgsgrat verschwand.
Grace saß verwirrt da; sie war noch immer
gefesselt. Arche Eins, dachte Lily, während sie Grace ansah. Das
ist es. Was immer es sein mag, Grace muss an Bord. Sanjay hat sein
Leben gegeben, um mir davon zu erzählen. Und ich muss sie dorthin
bringen.
Kristie erwachte allmählich aus ihrem Schock. Sie
sah sich mit wildem Blick um. »Wo ist meine Mutter? Ist sie in
diesem Hubschrauber? Wo ist meine Mutter?«