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AUGUST 2035
In dem Chaos, das sie begleitete, als sie an Bord
der Arche Drei gingen, gab Piers Grace, Kristie und Manco in Lilys
Obhut. Sie hatten nummerierte Kabinen auf dem sogenannten Hauptdeck
zugewiesen bekommen, drei Etagen unter der Brücke. Nachdem sie in
aller Eile durch die Krawalle und Überschwemmungen in Chosica
gelotst und über eine Gangway aufs Schiff gebracht worden waren,
landeten sie schließlich in einer Art Foyer auf dem A-Deck, das,
wie Piers erklärte, eine Etage unter dem Hauptdeck lag. Nachdem er
sie dort abgeliefert hatte, händigte Piers Lily Zimmerschlüssel in
Form von Magnetkarten aus und eilte davon, um bei der Einschiffung
zu helfen.
Lily blieb zurück und rang um Fassung. Nach all dem
Blutvergießen, dem Verlust von Project City, ihrem
Lebensmittelpunkt, und dem damit einhergehenden abrupten Ende der
Arbeit vieler Jahre irrte sie nun plötzlich auf der Suche nach
einer Treppe in einem überfüllten, halb fertigen Kreuzfahrtschiff
umher. Aber sie hielt Grace und Kristie fest an der Hand, während
Kristie ihrerseits Manco festhielt, und schleifte sie durch das
Gewirr der Schiffsgänge.
Die Arche war voller Lärm, überfüllt und
verwirrend. Die Besatzungsmitglieder in ihren wie angegossen
sitzenden AxysCorp-Uniformen - meistens junge Quechuas - verluden
Proviant, Getreidesäcke, Keulen geschlachteter Tiere sowie
unbekannte, in Schaumstoff eingepackte Ausrüstungsgegenstände.
Einige waren so schwer, dass sie Menschenketten bis tief ins Innere
des Schiffes bildeten und die Lasten von einem zum nächsten
weiterreichten. Und dann waren da die Passagiere, die letzten
Evakuierten aus Project City und Lammocksons übrigen
zusammenbrechenden Anden-Gemeinschaften, die sich mit Kindern und
Bündeln ihrer Habseligkeiten durch die Gänge schoben. Alle waren
schmutzig und verschwitzt, einige blutbesudelt von den Kämpfen in
Cusco und den Raufereien in Chosica. Um das Durcheinander noch zu
vergrößern, wurden Katzen und lauthals bellende Hunde an Bord
gebracht. Und das Schiff bockte und rollte ächzend - eine Reaktion
auf das Meer, das Chosica bereits verschlang und die Arche an ihrem
Liegeplatz emporhob.
Grace und Kristie machten Lily keine
Schwierigkeiten; sie folgten ihr einfach widerstandslos. Beide
hatten die letzten Jahre in Zelten und Baracken verbracht; auch sie
waren in den Eingeweiden dieses unruhigen stählernen Wals verloren,
und das kam Lily durchaus zupass.
Endlich fand sie eine Treppe, und sie stiegen zum
Hauptdeck hinauf. Dort war es ruhiger. Lammockson hatte diesen
Bereich für diejenigen reserviert, die ihm am nächsten standen; es
herrschte eine Atmosphäre wie in einem Hotel. Als Lily die
Beschriftungen an den Türen las, fiel es ihr nicht schwer, sich
zurechtzufinden.
Sie führte ihre Schützlinge eilig durch die Gänge.
Die Türen lagen weit auseinander; diese Räume oder Suiten mussten
groß sein. Die letzte Phase des Innenausbaus war hier
schon erheblich weiter vorangeschritten, fast überall gab es
Teppichboden, und verborgene elektrische Lampen spendeten ein
warmes Licht. Aber trotzdem schlingerte und knarrte das Schiff; man
konnte nicht vergessen, wo man war, nicht einmal für eine
Sekunde.
Lily fand ihre Zimmer und holte die Magnetkarten
hervor, die Piers ihr gegeben hatte. Sie zeigte sie Kristie und
Grace. »Die sind nur provisorisch. Später werden die Schlösser auf
eure DNA-Marker und andere persönliche Indikatoren konfiguriert.
Schaut, ich bin im Zimmer gleich nebenan.« Sie zeigte auf die Tür
zu einem Raum, den sie selbst noch nicht einmal gesehen hatte,
öffnete die Türen und schob als Erstes Grace in ihr Zimmer. »Ich
komme gleich zu dir.« Sie schloss die Tür von außen und zog die
Karte erneut durch, um sie zu verriegeln.
Dann legte sie die Arme um Kristie und ihren Sohn
und führte sie so sanft wie möglich in ihr Zimmer. Sie stieß die
Tür mit dem Fuß hinter ihnen zu und verriegelte sie unauffällig.
Der Lärm wurde ausgeschlossen. Auf einmal war alles ruhig und
still. Vielleicht waren die Wände schalldicht.
Sie befanden sich in einer Art Wohnzimmer -
Holzvertäfelungen an den Wänden, weiche Deckenstrahler, die einen
warmen Lichtschein an eine verputzte Decke warfen, ein dicker
Teppich unter den Füßen. Die Möblierung wirkte modern, ein Sofa und
Lehnstühle vor einem großen Fernsehschirm an der Wand.
Verbindungstüren gaben den Blick in ein Schlafzimmer mit großem
Doppelbett und einem kleineren Kinderbett und in ein Badezimmer
frei, in dem Halogenlicht auf polierten Fliesen glänzte. Alles
machte einen
richtig luxuriösen Eindruck, dachte Lily, wie in den Häusern der
Superreichen in Cusco. Im Schlafzimmer lag ein Netzbeutel mit
Plastikspielzeug, Soldaten und Tiere, Fußbälle und Puzzles,
farbenfrohes Zeug, das wahrscheinlich in Lima oder Arequipa
geborgen worden war.
Inmitten all dessen stand Manco an der Hand seiner
Mutter. Sie trugen immer noch ihre Inka-Kostüme, die bunte Wolle
mit den heraldischen Mustern, jetzt mit Blut bespritzt und schwach
nach Kordit riechend. Beide hinterließen staubige Fußabdrücke auf
dem neuen Teppich. Sie wirkten hier völlig fremdartig, auf surreale
Weise deplatziert.
Lily wandte sich an Kristie. »Piers hat gesagt, in
den Schränken sei Kleidung für euch. Sie haben an alles gedacht,
nehme ich an. Schaut, Spielsachen.« Sie versuchte, um des Jungen
willen zu lächeln. Manco blickte sie nur mit großen Augen an. Lily
rief sich ins Gedächtnis, dass der arme kleine Kerl gerade mit
angesehen hatte, wie sein Vater erschossen worden war.
Kristie hatte immer noch ihren kleinen pinkfarbenen
Rucksack dabei. Nun nahm sie ihn ab, stöberte darin herum und holte
ihren ramponierten alten Teddybären hervor. Sie hielt ihn Manco
hin, der ihn packte und den Daumen in den Mund steckte.
»Glaubst du, ihr werdet euch hier wohlfühlen?«
»Wohlfühlen?« Kristie sah Lily ausdruckslos an. »Alles ist
zerstört. Mein ganzes Leben. Alles, was ich mit Ollantay am
Titicaca-See aufgebaut habe. Alles, was wir geplant, wovon wir
geträumt haben. Alles einfach abgeschnitten. Mein Mann vor den
Augen seines Sohnes abgeknallt.« Geistesabwesend legte sie Manco
eine Hand auf die Stirn. »Meine Mutter,
ebenfalls erschossen. Ob wir uns wohlfühlen werden? Nein, Lily,
ich glaube nicht.«
»Sieh mal, Kris, jetzt gibt es nur noch uns. Wir
sind alles, was von der Familie übrig ist. Du und ich und Manco.
Wir hatten unsere Differenzen …«
Kristie lachte ihr ins Gesicht. »Differenzen! Wir
standen in einem Krieg auf entgegengesetzten Seiten!«
»Ich habe den Krieg nicht angefangen.«
»Nein. Hättest du auch nie, oder? Du warst schon
immer so, stimmt’s, Tante Lily? Hast dich immer aus allem
rausgehalten. Nie Position bezogen, nie Verantwortung übernommen.
Aber dich immer ins Leben anderer Leute eingemischt. Du hast mich
entführt …«
»Ich habe dich gerettet.«
»Das sehe ich anders. Falls es dir nicht
aufgefallen ist, meine Partei hat gesiegt. Selbst ohne
Ollantay hätte ich zu seiner Familie zurückkehren können. Sie sind
auch Mancos Verwandte. Ich hätte mein eigenes Leben weiterleben
können.«
Und ertrinken, dachte Lily. »Wir müssen miteinander
reden, Kris.«
»Geh einfach«, sagte Kristie abweisend. Sie war
ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, Amanda in einem ihrer
störrischen Momente, die geschürzten Lippen, der schräg gelegte
Kopf, der unnachgiebige Blick.
Lily brach das Herz. Sie wandte sich zur Tür.
»Lily. Eins noch.«
»Ja?«
»Halt ihn mir vom Hals.«
»Wen?«
»Piers. Ist mir egal, wie groß oder klein Nathans
verdammtes Schiff ist. Halt ihn mir einfach vom Hals.«
Lily ging wortlos hinaus.
Draußen im Gang blieb sie stehen und lehnte sich
an die Wand. Sie war unaufhörlich in Bewegung gewesen, seit sie in
Chosica aus dem Hubschrauber gesprungen war. Jetzt hatte sie das
Gefühl, dass ihr vor Erschöpfung die Luft wegblieb; die Muskeln in
ihren Beinen zitterten, ihr zum Bersten voller Schädel dröhnte, das
Blut sang in ihren Ohren. Nach den Anstrengungen des Tages, dem
Kampf, dem Schock der vielen Toten stand sie kurz vor einem
Zusammenbruch. Ich bin zu alt für solche Sachen, dachte sie.
Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, an Amanda zu
denken, an ihren zufälligen, unglückseligen Tod durch eine Kugel.
Ihre Schwester war tot, ein intensives, komplexes,
unvollendetes Leben, das von einem Augenblick auf den
anderen durch ein Stück Blei ausgelöscht worden war. Lily fühlte
sich, als wäre ein Teil von ihr abgeschitten worden, eine
Amputation. Sie würde später dafür bezahlen, wenn sie endlich zur
Ruhe kam. Aber vorher hatte sie noch etwas zu erledigen.
Sie klopfte an Graces Tür und verschaffte sich dann
mit der Magnetkarte Einlass.
Graces Suite glich der von Kristie. Helens Tochter
saß auf einem Stuhl, ganz vorn auf der Kante, als hätte sie Angst,
ihn schmutzig zu machen. Sie war ebenso staubig wie Kristie. Aber
sie hatte die Stiefel ausgezogen und an die Tür gestellt.
Lily nahm behutsam ihr gegenüber Platz. »Das hier
muss sehr seltsam für dich sein, nach Walker City.«
»Ich bin in keinem solchen Raum mehr gewesen, seit
ich fünf Jahre alt war. Und ich habe nicht viele Erinnerungen an
die Zeit davor.« Grace war in sich gekehrt, sie presste ihre zu
Fäusten geballten Hände in den Schoß. Ihr Akzent war merkwürdig,
ein Gemisch aus vielerlei Einflüssen.
»Du brauchst keine Angst zu haben.«
Grace sah sie nur an, und Lily fragte sich, wie oft
sie in ihrem Leben wohl schon solche beruhigenden Worte gehört
hatte. »Ich habe die Stiefel ausgezogen.«
»Hab ich gesehen.«
»Das musste ich damals immer tun. Bei der Familie
meines Vaters, in den Palästen. Wenn ich vom Spielen reinkam, aus
den Gärten … das weiß ich noch.«
»Also, hier drin kannst du deine Stiefel tragen, so
lange du willst.« Lily machte eine Handbewegung. »Das ist
dein Zimmer. In den Schränken sind Kleider zum Wechseln. Und
wenn sie dir nicht gefallen …«
»Gary hat mich dir übergeben, wie man jemandem ein
Paket aushändigt.«
»Das hat er bestimmt nicht so gemeint.«
»Ich war fünfzehn Jahre lang bei ihm. Er hat mich
einfach so weitergereicht. An dich, an das hier.« Sie sah Lily an,
nicht zornig, sondern verwundert. »Ich weiß über Barcelona
Bescheid. Wo du und Gary und meine Mutter Geiseln wart.«
»Ja. Und du auch. Du bist dort zur Welt
gekommen.«
»Ich weiß. Ihr seid von einer Gruppe zur
anderen weitergereicht worden, ein Symbol, eine Trophäe. Mit mir
habt ihr’s heute genauso gemacht.«
»Wir wollten nur das Beste für dich«, sagte Lily
verzweifelt. »Wir versuchen, dich zu retten. Das ist alles. Dir
wird
hier nichts geschehen. Du bist jetzt in Sicherheit, Grace.
Ich schwör’s.«
Aber Graces Blick wurde glasig, als blickte sie
nach innen.
Lily stand auf. An der Tür sah sie sich noch einmal
um. Grace hatte sich nicht von ihrem Stuhl gerührt. Sie saß allein
in dem stillen, sinnlos opulenten Zimmer.