72
AUGUST 2035
In dem Chaos, das sie begleitete, als sie an Bord der Arche Drei gingen, gab Piers Grace, Kristie und Manco in Lilys Obhut. Sie hatten nummerierte Kabinen auf dem sogenannten Hauptdeck zugewiesen bekommen, drei Etagen unter der Brücke. Nachdem sie in aller Eile durch die Krawalle und Überschwemmungen in Chosica gelotst und über eine Gangway aufs Schiff gebracht worden waren, landeten sie schließlich in einer Art Foyer auf dem A-Deck, das, wie Piers erklärte, eine Etage unter dem Hauptdeck lag. Nachdem er sie dort abgeliefert hatte, händigte Piers Lily Zimmerschlüssel in Form von Magnetkarten aus und eilte davon, um bei der Einschiffung zu helfen.
Lily blieb zurück und rang um Fassung. Nach all dem Blutvergießen, dem Verlust von Project City, ihrem Lebensmittelpunkt, und dem damit einhergehenden abrupten Ende der Arbeit vieler Jahre irrte sie nun plötzlich auf der Suche nach einer Treppe in einem überfüllten, halb fertigen Kreuzfahrtschiff umher. Aber sie hielt Grace und Kristie fest an der Hand, während Kristie ihrerseits Manco festhielt, und schleifte sie durch das Gewirr der Schiffsgänge.
Die Arche war voller Lärm, überfüllt und verwirrend. Die Besatzungsmitglieder in ihren wie angegossen sitzenden AxysCorp-Uniformen - meistens junge Quechuas - verluden Proviant, Getreidesäcke, Keulen geschlachteter Tiere sowie unbekannte, in Schaumstoff eingepackte Ausrüstungsgegenstände. Einige waren so schwer, dass sie Menschenketten bis tief ins Innere des Schiffes bildeten und die Lasten von einem zum nächsten weiterreichten. Und dann waren da die Passagiere, die letzten Evakuierten aus Project City und Lammocksons übrigen zusammenbrechenden Anden-Gemeinschaften, die sich mit Kindern und Bündeln ihrer Habseligkeiten durch die Gänge schoben. Alle waren schmutzig und verschwitzt, einige blutbesudelt von den Kämpfen in Cusco und den Raufereien in Chosica. Um das Durcheinander noch zu vergrößern, wurden Katzen und lauthals bellende Hunde an Bord gebracht. Und das Schiff bockte und rollte ächzend - eine Reaktion auf das Meer, das Chosica bereits verschlang und die Arche an ihrem Liegeplatz emporhob.
Grace und Kristie machten Lily keine Schwierigkeiten; sie folgten ihr einfach widerstandslos. Beide hatten die letzten Jahre in Zelten und Baracken verbracht; auch sie waren in den Eingeweiden dieses unruhigen stählernen Wals verloren, und das kam Lily durchaus zupass.
Endlich fand sie eine Treppe, und sie stiegen zum Hauptdeck hinauf. Dort war es ruhiger. Lammockson hatte diesen Bereich für diejenigen reserviert, die ihm am nächsten standen; es herrschte eine Atmosphäre wie in einem Hotel. Als Lily die Beschriftungen an den Türen las, fiel es ihr nicht schwer, sich zurechtzufinden.
Sie führte ihre Schützlinge eilig durch die Gänge. Die Türen lagen weit auseinander; diese Räume oder Suiten mussten groß sein. Die letzte Phase des Innenausbaus war hier schon erheblich weiter vorangeschritten, fast überall gab es Teppichboden, und verborgene elektrische Lampen spendeten ein warmes Licht. Aber trotzdem schlingerte und knarrte das Schiff; man konnte nicht vergessen, wo man war, nicht einmal für eine Sekunde.
Lily fand ihre Zimmer und holte die Magnetkarten hervor, die Piers ihr gegeben hatte. Sie zeigte sie Kristie und Grace. »Die sind nur provisorisch. Später werden die Schlösser auf eure DNA-Marker und andere persönliche Indikatoren konfiguriert. Schaut, ich bin im Zimmer gleich nebenan.« Sie zeigte auf die Tür zu einem Raum, den sie selbst noch nicht einmal gesehen hatte, öffnete die Türen und schob als Erstes Grace in ihr Zimmer. »Ich komme gleich zu dir.« Sie schloss die Tür von außen und zog die Karte erneut durch, um sie zu verriegeln.
Dann legte sie die Arme um Kristie und ihren Sohn und führte sie so sanft wie möglich in ihr Zimmer. Sie stieß die Tür mit dem Fuß hinter ihnen zu und verriegelte sie unauffällig. Der Lärm wurde ausgeschlossen. Auf einmal war alles ruhig und still. Vielleicht waren die Wände schalldicht.
Sie befanden sich in einer Art Wohnzimmer - Holzvertäfelungen an den Wänden, weiche Deckenstrahler, die einen warmen Lichtschein an eine verputzte Decke warfen, ein dicker Teppich unter den Füßen. Die Möblierung wirkte modern, ein Sofa und Lehnstühle vor einem großen Fernsehschirm an der Wand. Verbindungstüren gaben den Blick in ein Schlafzimmer mit großem Doppelbett und einem kleineren Kinderbett und in ein Badezimmer frei, in dem Halogenlicht auf polierten Fliesen glänzte. Alles machte einen richtig luxuriösen Eindruck, dachte Lily, wie in den Häusern der Superreichen in Cusco. Im Schlafzimmer lag ein Netzbeutel mit Plastikspielzeug, Soldaten und Tiere, Fußbälle und Puzzles, farbenfrohes Zeug, das wahrscheinlich in Lima oder Arequipa geborgen worden war.
Inmitten all dessen stand Manco an der Hand seiner Mutter. Sie trugen immer noch ihre Inka-Kostüme, die bunte Wolle mit den heraldischen Mustern, jetzt mit Blut bespritzt und schwach nach Kordit riechend. Beide hinterließen staubige Fußabdrücke auf dem neuen Teppich. Sie wirkten hier völlig fremdartig, auf surreale Weise deplatziert.
Lily wandte sich an Kristie. »Piers hat gesagt, in den Schränken sei Kleidung für euch. Sie haben an alles gedacht, nehme ich an. Schaut, Spielsachen.« Sie versuchte, um des Jungen willen zu lächeln. Manco blickte sie nur mit großen Augen an. Lily rief sich ins Gedächtnis, dass der arme kleine Kerl gerade mit angesehen hatte, wie sein Vater erschossen worden war.
Kristie hatte immer noch ihren kleinen pinkfarbenen Rucksack dabei. Nun nahm sie ihn ab, stöberte darin herum und holte ihren ramponierten alten Teddybären hervor. Sie hielt ihn Manco hin, der ihn packte und den Daumen in den Mund steckte.
»Glaubst du, ihr werdet euch hier wohlfühlen?« »Wohlfühlen?« Kristie sah Lily ausdruckslos an. »Alles ist zerstört. Mein ganzes Leben. Alles, was ich mit Ollantay am Titicaca-See aufgebaut habe. Alles, was wir geplant, wovon wir geträumt haben. Alles einfach abgeschnitten. Mein Mann vor den Augen seines Sohnes abgeknallt.« Geistesabwesend legte sie Manco eine Hand auf die Stirn. »Meine Mutter, ebenfalls erschossen. Ob wir uns wohlfühlen werden? Nein, Lily, ich glaube nicht.«
»Sieh mal, Kris, jetzt gibt es nur noch uns. Wir sind alles, was von der Familie übrig ist. Du und ich und Manco. Wir hatten unsere Differenzen …«
Kristie lachte ihr ins Gesicht. »Differenzen! Wir standen in einem Krieg auf entgegengesetzten Seiten!«
»Ich habe den Krieg nicht angefangen.«
»Nein. Hättest du auch nie, oder? Du warst schon immer so, stimmt’s, Tante Lily? Hast dich immer aus allem rausgehalten. Nie Position bezogen, nie Verantwortung übernommen. Aber dich immer ins Leben anderer Leute eingemischt. Du hast mich entführt …«
»Ich habe dich gerettet.«
»Das sehe ich anders. Falls es dir nicht aufgefallen ist, meine Partei hat gesiegt. Selbst ohne Ollantay hätte ich zu seiner Familie zurückkehren können. Sie sind auch Mancos Verwandte. Ich hätte mein eigenes Leben weiterleben können.«
Und ertrinken, dachte Lily. »Wir müssen miteinander reden, Kris.«
»Geh einfach«, sagte Kristie abweisend. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, Amanda in einem ihrer störrischen Momente, die geschürzten Lippen, der schräg gelegte Kopf, der unnachgiebige Blick.
Lily brach das Herz. Sie wandte sich zur Tür.
»Lily. Eins noch.«
»Ja?«
»Halt ihn mir vom Hals.«
»Wen?«
»Piers. Ist mir egal, wie groß oder klein Nathans verdammtes Schiff ist. Halt ihn mir einfach vom Hals.«
Lily ging wortlos hinaus.
 
Draußen im Gang blieb sie stehen und lehnte sich an die Wand. Sie war unaufhörlich in Bewegung gewesen, seit sie in Chosica aus dem Hubschrauber gesprungen war. Jetzt hatte sie das Gefühl, dass ihr vor Erschöpfung die Luft wegblieb; die Muskeln in ihren Beinen zitterten, ihr zum Bersten voller Schädel dröhnte, das Blut sang in ihren Ohren. Nach den Anstrengungen des Tages, dem Kampf, dem Schock der vielen Toten stand sie kurz vor einem Zusammenbruch. Ich bin zu alt für solche Sachen, dachte sie.
Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, an Amanda zu denken, an ihren zufälligen, unglückseligen Tod durch eine Kugel. Ihre Schwester war tot, ein intensives, komplexes, unvollendetes Leben, das von einem Augenblick auf den anderen durch ein Stück Blei ausgelöscht worden war. Lily fühlte sich, als wäre ein Teil von ihr abgeschitten worden, eine Amputation. Sie würde später dafür bezahlen, wenn sie endlich zur Ruhe kam. Aber vorher hatte sie noch etwas zu erledigen.
Sie klopfte an Graces Tür und verschaffte sich dann mit der Magnetkarte Einlass.
Graces Suite glich der von Kristie. Helens Tochter saß auf einem Stuhl, ganz vorn auf der Kante, als hätte sie Angst, ihn schmutzig zu machen. Sie war ebenso staubig wie Kristie. Aber sie hatte die Stiefel ausgezogen und an die Tür gestellt.
Lily nahm behutsam ihr gegenüber Platz. »Das hier muss sehr seltsam für dich sein, nach Walker City.«
»Ich bin in keinem solchen Raum mehr gewesen, seit ich fünf Jahre alt war. Und ich habe nicht viele Erinnerungen an die Zeit davor.« Grace war in sich gekehrt, sie presste ihre zu Fäusten geballten Hände in den Schoß. Ihr Akzent war merkwürdig, ein Gemisch aus vielerlei Einflüssen.
»Du brauchst keine Angst zu haben.«
Grace sah sie nur an, und Lily fragte sich, wie oft sie in ihrem Leben wohl schon solche beruhigenden Worte gehört hatte. »Ich habe die Stiefel ausgezogen.«
»Hab ich gesehen.«
»Das musste ich damals immer tun. Bei der Familie meines Vaters, in den Palästen. Wenn ich vom Spielen reinkam, aus den Gärten … das weiß ich noch.«
»Also, hier drin kannst du deine Stiefel tragen, so lange du willst.« Lily machte eine Handbewegung. »Das ist dein Zimmer. In den Schränken sind Kleider zum Wechseln. Und wenn sie dir nicht gefallen …«
»Gary hat mich dir übergeben, wie man jemandem ein Paket aushändigt.«
»Das hat er bestimmt nicht so gemeint.«
»Ich war fünfzehn Jahre lang bei ihm. Er hat mich einfach so weitergereicht. An dich, an das hier.« Sie sah Lily an, nicht zornig, sondern verwundert. »Ich weiß über Barcelona Bescheid. Wo du und Gary und meine Mutter Geiseln wart.«
»Ja. Und du auch. Du bist dort zur Welt gekommen.«
»Ich weiß. Ihr seid von einer Gruppe zur anderen weitergereicht worden, ein Symbol, eine Trophäe. Mit mir habt ihr’s heute genauso gemacht.«
»Wir wollten nur das Beste für dich«, sagte Lily verzweifelt. »Wir versuchen, dich zu retten. Das ist alles. Dir wird hier nichts geschehen. Du bist jetzt in Sicherheit, Grace. Ich schwör’s.«
Aber Graces Blick wurde glasig, als blickte sie nach innen.
Lily stand auf. An der Tür sah sie sich noch einmal um. Grace hatte sich nicht von ihrem Stuhl gerührt. Sie saß allein in dem stillen, sinnlos opulenten Zimmer.
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
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