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Lily und Piers mussten auf einen Hubschrauber
warten, der sie von Shoeburyness nach Greenwich brachte. Die
begrenzten Landeplätze der Hydrometropole waren von Flugmaschinen
verstopft, die die Gäste gruppenweise in ihren »Katastrophenurlaub«
abtransportierten. Das Ganze basierte auf einer Art
Versicherungspolice, die von AxysCorp angeboten wurde; sie sah vor,
dass man im Falle einer Katastrophe - beispielsweise einer
Überschwemmung - einfach in ein Luxushotel an einem sicheren Ort
gebracht wurde, wo man abwarten konnte, bis die Gefahr vorüber war.
Sollten doch andere mit dem Schlamassel fertigwerden. Lily nahm
verwirrt zur Kenntnis, wie sehr sich die Welt an Katastrophen
gewöhnt hatte. Manche dieser flüchtenden Plutokraten hielten nicht
einmal mit dem Trinken inne, während sie zügig vom Schauplatz der
Party zu ihrer Urlaubsmaschine geführt wurden.
Schließlich bekamen Lily und Piers ihren
Hubschrauber und hoben ab. Der Wind wurde immer stärker, und der
Pilot konnte trotz seines enormen Geschicks nicht verhindern, dass
der Vogel beim Hochsteigen erbebte. Der Rumpf ächzte, und der Motor
brüllte, als die Rotoren in die turbulente Luft bissen.
Es war keine lange Verzögerung gewesen, doch als
sie in westlicher Richtung über Greater London hinwegflogen, waren
bereits weite Gebiete überschwemmt. Der Fluss hatte die Deiche an
beiden Ufern nahezu beiläufig überwunden; Gebäude, Laternenpfähle,
Bäume ragten aus dem Wasser wie Spielzeug aus Pfützen. Überall an
der Frontlinie des steigenden Wassers gingen die Evakuierungen in
hektischer Eile weiter. Schlangen langsam vorrückender Pkws,
Laster, Busse, Feuerwehrautos und Krankenwagen mit wie Juwelen
glänzenden Scheinwerfern verstopften die Straßen. Dazu kam eine
dichtere, Porridge-artige Masse, bei der es sich um zu Fuß
flüchtende Menschen handeln musste, zu viele und zu weit entfernt,
als dass man einzelne Personen hätte erkennen können: Menschen, die
auf Partikel reduziert waren.
Piers sah auf die Wasserfluten hinunter. Sein Blick
war offen und intelligent, er lauschte dem Polizeifunk. Eine solche
Situation müsste eigentlich seine besten Seiten zum Vorschein
bringen, dachte Lily, seine Ausbildung zum Kommandeur, seinen
Befehlsinstinkt. Aber er war bleich, und er hatte stark abgenommen,
wie die anderen Geiseln auch. Ihre Befreiung lag gerade einmal
sechs Tage zurück, und sie hatten alle nur begrenzte Reserven. Aber
offenkundig würde die Welt nicht warten, bis sie sich erholt
hatten.
Als sie über das Themse-Sperrwerk hinwegflogen,
ging der Pilot tiefer hinunter, damit sie sich die Szenerie genauer
ansehen konnten. Das Sperrwerk, eine quer über den Fluss
verlaufende Linie, wurde auf ganzer Länge überspült, und auf der
stromaufwärts gelegenen Seite donnerte eine Art Wasserfall in die
Tiefe, ließ Gischt aufspritzen und wühlte das Flusswasser
auf.
»Das ist ein Anblick«, sagte Piers leise, »von dem
du deinen Enkelkindern erzählen kannst. Angeblich ein
Jahrtausendereignis. Jetzt ist das Sperrwerk sogar selbst
Gegenstand einer Rettungsoperation. In den Kontrolltürmen und
irgend so einem Verbindungstunnel unter dem Fluss sind Leute
gefangen. Die Beschützer der Stadt müssen selbst beschützt werden.
Tja.« Er wandte sich schulterzuckend ab.
Der Helikopter senkte die Nase und setzte sich
wieder in Bewegung. Er flog stetig nach Westen.
Endlich segelten sie über Greenwich hinweg. Der
Pilot blieb hoch oben, um den bereits angelaufenen
Rettungsoperationen nicht in die Quere zu kommen.
Hier beschrieb der Fluss in einem riesigen,
doppelten Mäander ein bauchiges S und schuf dadurch zwei
Halbinseln, die eine am nördlichen, die andere am südlichen
Themse-Ufer. Aus Lilys Perspektive pressten sie sich wie
Yin-Yang-Zwillinge aneinander. Die dickere, herabhängende Halbinsel
zur Linken war die Isle of Dogs, eine flache, von mehrere Hundert
Jahre alten Hafenanlagen zerschnittene Landzunge; im Norden, an
ihrem Hals, breitete sich der riesige neue Bürogebäudekomplex um
Canary Wharf aus, hektarweise glänzendes Glas. Die schlankere
Halbinsel zur Rechten, die sich von Süden nach oben schob, war
Greenwich. An ihrer Spitze sah Lily deutlich die stachelige,
schmutzig graue Scheibe des Dome - früher einmal Millennium Dome,
jetzt »The O2« genannt. Irgendwo da unten waren ihre Schwester und
die Kinder.
Das ganze Gebiet lag nur ein paar Kilometer
westlich des überfluteten Sperrwerks. Das Wasser drang im Norden
und
Süden bereits auf das Land vor, verschlang Kais und Anleger,
überflutete verstopfte Straßen. Hubschrauber hingen über der
Landschaft wie Engel der Verzweiflung.
»Unglaublich«, sagte Piers Michaelmas. »Vor
dreißig, vierzig Jahren gab es hier nur die Hafenanlagen, im
Wesentlichen verlassen und verfallen. Und jetzt schau dir das an.
Die Polizei sagt, in den Büroblocks und Freizeiteinrichtungen da
unten befänden sich momentan mehr als eine halbe Million Menschen.
Es ist eine Blase, eine riesige Zusammenballung von
Menschen.«
»Und alles auf der Schwemmebene.«
»Im Nachhinein schlauer zu sein ist etwas
Wunderbares.« Er lauschte erneut. »Ich weiß, du willst zum Dome, um
deine Schwester zu suchen, nicht? Aber ich werde gerade zur Isle of
Dogs gerufen, nach Millwall. Dort läuft eine groß angelegte
Evakuierung.«
»Dann trennen wir uns.«
»Ja.« Er beugte sich vor und wandte sich an den
Piloten. »Haben Sie das mitgekriegt?«
Der Pilot nickte geistesabwesend. Er lauschte
seinem eigenen Funkverkehr. »Mein Computer verlangt eine
Landeerlaubnis. Ich muss mit zwei verschiedenen
Silver-Command-Stationen reden … Ich kann Sie zuerst nach Millwall
bringen, Sir, und Sie in Mudchute Park absetzen, dafür habe ich die
Landeerlaubnis bekommen. Dann hüpfe ich mit Captain Brooke rüber
nach Greenwich.«
»In Ordnung.«
Der Chopper glitt nordwärts über den Fluss und sank
zur Isle of Dogs hinab. Einzelheiten schälten sich heraus,
Wohngebäude, ein Park, Straßen, durch die bereits schmutziges
Wasser strömte, und Lily sah die Gleise der Docklands Light
Railway, die auf ihrer erhöhten Trasse nordwärts verliefen. Eine
Gruppe von Polizei- und Militärlastwagen war im Park aufgefahren,
offenbar eine Art Kommandozentrale vor Ort. Das Wasser plätscherte
um die Reifen der Fahrzeuge.
Der Pilot setzte sanft auf durchweichtem Rasen auf.
Die Tür glitt auf, ließ einen böigen Wind und einen Schwall kalten
Regens herein.
Piers setzte die Kapuze auf, schnappte sich einen
Verbandskasten, löste die Gurte und erhob sich aus dem Schalensitz.
Er drehte sich nach hinten und ergriff Lilys Hand. »Viel Glück!«,
brüllte er.
»Gleichfalls. Jetzt zisch ab und mach die
Scheiß-Tür zu.«
Er grinste und stieg aus. Die Tür schloss sich, und
der Hubschrauber hob sofort wieder ab. Piers beschirmte die Augen
mit der Hand vor dem Regen und sah zu, wie die Maschine in die Luft
stieg. Dann lief er schnurstracks zu der Kommandozentrale im
Park.
Sein Rang und die Tatsache, dass einige der
Offiziere ihn kannten, verschafften ihm Zugang zu einem
Konferenzraum voller Laptops, Fernsehschirme und Flipcharts, zum
Zentrum des Geschehens. Hier leitete der örtliche Chief Constable
eine kontinuierliche Einsatzbesprechung mit Vertretern des
Rettungsdienstes und der Feuerwehr, der Kommunalverwaltung, der
Versorgungsbetriebe, der Umwelt-, Verkehrs- und Gesundheitsbehörde
sowie der Medien in Gestalt einiger Lokalreporter. In
Großbritannien stand die Polizei im Zentrum des Managements ziviler
Notstände. Die meisten Anwesenden hielten sich Handys ans Ohr.
Piers wusste, dass die Mobilfunknetze derzeit den Notdiensten
vorbehalten waren,
eine Aussperrung, die den Bürgern mittlerweile Probleme bereiten
würde, selbst wenn die Stromversorgung der Antennenmasten noch
nicht ausgefallen war.
Piers hörte eine Weile zu. Zentraler Bestandteil
der Planung schien die Evakuierung der Gebiete zu sein, die am
meisten überschwemmungsgefährdet waren; dazu zählte der größte Teil
Millwalls. Da die Straßen verstopft waren, sollte die Bevölkerung
mit Hilfe der Docklands Light Railway nach Norden geschafft werden,
zum Festland. Es waren nur ein paar Kilometer; geografisch gesehen
war man in London nirgends weit von irgendetwas entfernt. Die DLR
verlief auf einer erhöhten Trasse oberhalb des erwarteten
Überschwemmungspegels, und selbst wenn der Strom ausfiel, konnte
diese möglicherweise als Gehweg benutzt werden.
Was danach aus den Flüchtlingen werden würde, stand
natürlich in den Sternen. Der City Airport war überflutet. In ganz
London waren die Straßen verstopft, und auf der M25 hatte sich ein
zäher Stau vor der Überschwemmung bei Dartford Crossing gebildet.
Und es gab auch noch andere Probleme. Docklands beherbergte einige
große Internetanbieter und weitere internationale
Telekommunikationseinrichtungen; überall brachen die Verbindungen
zusammen, als das Gebiet überflutet wurde, Gebäude für
Gebäude.
Piers kannte die umfassendere Strategie des
Katastrophenmanagements. Eine dem Krisenstab des Kabinetts
unterstellte und von einem hochrangigen Polizisten geleitete »Gold
Coordinating Group« würde über die Arbeit Dutzender Gruppen wie
dieser in ganz London unterrichtet werden. Darüber hinaus würde es
angesichts eines Notfalls solchen Ausmaßes bestimmt auch Kontakte
zur internationalen
Gemeinschaft geben. Er hatte bereits mehrere Chi nooks über dem
Fluss gesichtet - die Amerikaner brachten also Militärausrüstung
von ihren Basen im Vereinigten Königreich ins Spiel -, und die
Europäer planten zweifellos Wiederaufbauund
Unterstützungsprogramme.
In dem Raum herrschte eine große Anspannung, ein
hektisches Durcheinander von Stimmen, dazu permanentes
Telefongeklingel. Kräftige Linien wurden auf Karten gezogen und
dann wieder übermalt, während die Gruppe die vielen Einzelheiten
dieser ausufernden Katastrophe in den Griff zu bekommen
versuchte.
Piers stellte sich vor, wie er in diese
Diskussionen verwickelt wurde, wie man seinen Rat suchte, ihm eine
neue Rolle, neue Verantwortlichkeiten zuwies. Er war für Positionen
auf Kommandoebene ausgebildet worden; theoretisch gab es vieles,
was er hier beitragen konnte.
Aber er fühlte sich sonderbar unsicher, sein Kopf
war irgendwie voll. Er mied Blickkontakte, als könnte er es nicht
ertragen, in die Sache hineingezogen zu werden. Ein jäher Flashback
versetzte ihn zu jenen Momenten in den Kellern unter Barcelona
zurück, als die Bewacher ihm böswillig das Handtuch oder die
Augenbinde weggerissen und ihn mit offenen Augen zu erwischen
versucht hatten, um zu seiner Seele durchzubrechen.
Er musste weg von hier, erkannte er plötzlich. Wie
getrieben schlüpfte er wieder hinaus in den Sturm, zog sich die
Kapuze über den Kopf und ging davon, in die Straßen hinein.
Parkplatz Nummer vier befand sich auf der anderen
Seite des Areals. Als Amanda mit den Kindern hier eingetroffen
war, waren alle Parkplätze besetzt gewesen, aber jetzt waren die
meisten Wagen längst fort oder verstopften die Ausfahrten - ein
Meer roter Rücklichter. Zurück blieb eine nasse, rutschige
blassrosa Schotterfläche.
Benj zeigte nach links, zum Flussufer. »Ich glaube,
unsere Sammelstelle ist da drüben.«
Amanda sah eine Schar von rund fünfzig Erwachsenen
und Kindern. Viele solcher Gruppen hatten sich unter Schildern
überall auf dem Parkplatzareal versammelt. Benjs Augen waren
schärfer als ihre, und er konnte sich Anweisungen gut merken; sie
vertraute darauf, dass er recht hatte.
Durch Pfützen platschend, eilten sie zu den
anderen. Sie mussten sich ihren Weg durch Absperrungen aus blauen
Gittern bahnen; Amanda hörte den Regen aufs Doppeldach der
Beckham-Fußballakademie prasseln. Beinahe wären sie von einem
großen Geländewagen überfahren worden, der wie aus dem Nichts auf
sie zukam. Er raste mit quietschenden Reifen über die Parkflächen,
gelenkt von einer verängstigt wirkenden jungen Frau, hinter der ein
winziges Kleinkind in einen Kindersitz geschnallt war.
Benj war hellwach, er blickte sich neugierig um.
Ausnahmsweise war die Welt einmal interessanter als sein Angel.
»Schau mal das Boot da, Mum. Sieht unheimlich hoch aus.« An dem
zierlichen, modernistischen Queen-Elizabeth-Pier lag eines der
eleganten Themse-Schnellboote. Es wurde vom Wasser emporgehoben und
schaukelte in den Wellen. Der Fluss musste also Hochwasser
führen.
Sie erreichten die Gruppe. Eine Polizistin stand
bei den Leuten, lächelnd, die Hände auf dem Rücken, der Inbegriff
ruhiger, gelassener Kompetenz. Amanda sah weitere Polizisten in
der Menge, die Gruppen um sich scharten.
Aber von Kristie war keine Spur zu sehen. Benj
machte sich auf die Suche nach ihr, während Amanda ein paar
Schritte abseits der Gruppe wartete. Die Leute wirkten ruhig - alle
außer ihr. Es war ihr peinlich, dass sie in einer solchen Panik
hier aufgetaucht war, ohne eins ihrer Kinder, wie die
personifizierte mütterliche Unfähigkeit.
Benj kam wieder angelaufen. Seine Haare waren vom
Regen an den Kopf gekleistert. »Sie ist nicht da, Mum.«
Amanda konnte es nicht glauben. »Was meinst du
damit? Wo ist sie dann?«
»Keine Ahnung«, erwiderte er kleinlaut.
Sie stand da und starrte ihn an, beinahe wütend auf
ihn, weil er mit der falschen Antwort zurückgekommen war. Kristie
musste hier sein. Sie ließ den Blick in die Runde schweifen,
zu der ruhigen Polizistin, die in ihr Funkmikro sprach, den
Kindern, die still und gespannt, aber nicht verängstigt waren, dem
tristen, patschnassen Parkplatz, dem Dome mit seiner Krone spitzer
Pylonen, die sich in die Luft bohrten. Von Furcht und einem Gefühl
der Unzulänglichkeit gepeinigt, wünschte sie sich sehnlichst, nicht
hier zu sein, sondern in ihrem Büro in Hammersmith, wo sie in
Sicherheit war, umgeben von ihren Akten, ihrem Laptop, einem
Telefon, das funktionierte, in einer Welt, die sie kannte
und mit der sie zurecht kam. Ganz im Gegensatz zu dieser
verregneten Ödnis.
Die Polizistin stieg auf eine niedrige Mauer und
klatschte in die Hände. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«
Das Geplapper der Menge verstummte. »Ich habe neue Anweisungen
erhalten. Sie sehen ja, wie die Dinge stehen. Die
U-Bahn fährt nicht, weil die Tunnel überschwemmt sind. Die Busse
sind alle voll, und die meisten sind ohnehin schon weg. Ich
fürchte, wir werden laufen müssen.« Ein Stöhnen ging durch die
Menge, aber die Polizistin lächelte strahlend. »Keine Sorge, das
ist der normale Evakuierungsplan, und der ist erprobt. Es ist nicht
weit.« Sie zeigte nach Süden. »Wir gehen in diese Richtung, folgen
der East Parkside und marschieren dann die südliche Zufahrtsstraße
zum Blackwall Tunnel entlang. Es ist eine Hochstraße, Sie werden
also vor der Überschwemmung sicher sein.« Vor welcher
Überschwemmung? »Die Straßen sind von Autos verstopft, aber wir
haben die Standspur freigehalten und versuchen, noch eine weitere
Spur zu öffnen. Wir sollten also gut durchkommen. Viele andere
Leute gehen auch zu Fuß. Es ist nur« - sie warf einen Blick auf die
kleineren Kinder und zögerte ein wenig - »sagen wir, eine halbe
Stunde bis zu den Stationen Westcombe Park oder Charlton, und es
werden Sonderzüge eingesetzt, um Sie von dort wegzubringen.«
Aber wohin?, fragte sich Amanda. Wie kommen wir nach
Hause? »Das ist alles. Wenn Sie jetzt bitte eine Kolonne bilden
würden, ich komme dann hinterher …«
Während sich die Leute gehorsam in Zweierreihen
aufstellten, drängte sich Amanda zu der Polizistin durch. »Meine
Tochter. Kristie Caistor. Sie hat sich verlaufen.«
»Ich gebe eine Suchmeldung durch«, sagte die
Polizistin. »Wir haben ein Kontaktsystem eingerichtet, Mrs.
Caistor. Ich bin sicher …«
»Ich warte«, entgegnete Amanda verzweifelt. »Sie
ist vielleicht schon auf dem Weg hierher. Bestimmt hat sie
Angst.«
»Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Wir müssen
das ganze Gelände räumen.«
Amanda geriet außer sich. »Ich höre nichts
anderes«, fauchte sie, »seit mich so ein verdammtes Kind aus dieser
dämlichen Arena gescheucht hat!«
Die durchnässte Polizistin wurde bleich; jetzt kam
ihre Nervosität zum Vorschein. Sie fingerte an dem Funkclip an
ihrem Revers herum.
Benj zupfte an Amandas Ärmel. Ihm war ihr Ausbruch
schrecklich peinlich. »Bitte, Mum.«
Jemand - eines der Kinder - schrie auf. »Meine Füße
sind nass!«
Und plötzlich merkte Amanda, dass auch ihre Füße
kälter waren, ebenso wie ihre Knöchel. Sie senkte den Blick.
Kaltes, schmutziges Wasser lief über ihre Schuhe. Sie sah nach
links, zum Pier. Wasser floss in einem steten Strom über die
Ufermauer und ergoss sich über die ebene Fläche des Parkplatzes.
Ein, zwei Herzschläge lang schauten die Leute einfach nur zu, wie
das vom Regen gepeitschte Wasser an ihren Schienbeinen
emporstieg.
Dann brandete eine Welle heran, überspülte die
Mauer und schoss auf sie zu. Kinder schrien, Eltern begannen zu
laufen, zerrten ihre Kinder vom Wasser weg. Amanda griff nach
Benj.
Gleich darauf war das Wasser bei ihnen wie eine
auflaufende Flut, die Amanda bis zu den Knien reichte. Dann kam ein
weiterer Schwall, der sie bis zur Taille durchnässte und ins
Taumeln brachte.
»Dort entlang! Tun Sie, was ich gesagt habe!«,
schrie die Polizis tin. »Laufen Sie zur Hochstraße! Bleiben Sie
zusammen!«
Die Gruppe arbeitete sich in der angegebenen
Richtung voran. Aber das Wasser strömte weiter über die Ufermauer
und breitete sich in Windeseile auf dem Parkplatz aus. Trotz der
geringen Tiefe war die Strömung überraschend stark, und es kostete
Kraft, sie zu durchwaten. Ein kleines Mädchen ging unter. Die
Polizistin und ihre Mutter griffen nach ihr; hustend kam sie wieder
an die Oberfläche, bis auf die Haut durchnässt. Und das Wasser
strömte immer noch über die Mauer.
Amanda bemühte sich, auf den Beinen zu bleiben. Sie
blickte sich hektisch um. »Kristie. Kristie!«
»Ihr ist nichts passiert!« Es war Lily, die aus dem
Nichts heraus mit schnellen Schritten auf sie zugeplatscht kam. Sie
trug einen Neoprenanzug und einen schweren orangefarbenen Mantel.
Und Kristie war bei ihr, sie hielt Lilys Hand, ihr pinkfarbener
Rucksack leuchtete.
Erleichtert griff Amanda nach ihrer Tochter. Selbst
Benj erlaubte Kristie, das Gesicht in seinen Mantel zu
drücken.
»Lily«, rief Amanda. »Teufel noch mal, wo kommst du
denn her? - Ach, nicht so wichtig. Wo hast du sie gefunden?«
»Sie konnte nicht zu euch zurück und wusste auch
nicht, wie sie hierherkommen sollte, deshalb ist sie zu einer
Vermisstenstelle der Polizei gegangen. Die gibt’s überall auf der
Halbinsel. Kluges Kind. Sie haben sie registriert, ich habe sie
dort entdeckt und mich auf die Suche nach euch gemacht …«
Eine neue Welle spülte über die Mauer, sie fuhren
erschrocken zusammen.
Lily fasste Kristie an der Hand. »Kommt, wir müssen
weg von hier. Der Hubschrauber wartet.«
»Was für ein Hubschrauber?«
»Von AxysCorp.«
»Und die anderen?«, fragte Benj.
»Wir können nicht alle mitnehmen«, erwiderte Lily
grimmig. »Tut mir leid, Benj.«
»Lily, was ist eigentlich passiert? Warum steigt
das Wasser überall?«
»Ich weiß es nicht. Und im Augenblick will ich uns
nur von hier wegbringen. Kommt jetzt! Haltet euch an mir fest
…«
Einander an den Händen haltend, kämpften sie sich
durch die immer stärker werdende Strömung auf den Hubschrauber
zu.