50
In Lammocksons Flugzeug wurde Lily in den Himmel über Cusco emporgehoben.
Sie blickte hinab auf die alte Stadt mit ihren unterschiedlich großen Kuppeln und Glockentürmen, die aus einem Meer roter Ziegeldächer ragten. Außerhalb des befestigten Zauns, der die gesamte Stadt umgab, sah sie den braunen Klecks der Hüttensiedlung und dahinter den Gürtel landwirtschaftlichen Nutzlands mit seinen groben Mauern, den Pappelreihen und leuchtend gelben Feldern sowie die verstreuten dunklen Flecken geduldig fressender Kühe und Lamas. Noch weiter draußen leuchtete die Kuppel des funkelnagelneuen Atomreaktors hell in der Sonne.
Als die Maschine höher stieg, verschwand die Stadt, die sich in ihr Becken schmiegte, in der faltigen Landschaft aus Berggipfeln und Tafelbergen, drapiert mit tief hängenden Wolken, die Rauchfahnen glichen. Dies waren die Anden, eine Gebirgskette, die in Höhe und Ausdehnung nur vom Himalaja übertroffen wurde; die Flut hatte ihrer Erhabenheit keinen Abbruch getan. Als sie die Sierra überquerten, flogen sie über einen Flickenteppich kultivierten Landes, ordentliche Gersten- und Maisfelder mit Trennmauern aus hochgewachsenen Eukalyptusbäumen und Feigenkakteen. Diese Hochlagen waren vor sechshundert Jahren zuerst von den Inkas terrassiert und bebaut worden, wurden aber auch heute noch genutzt; man erntete hier Kartoffeln, und Herden von Lamas und Alpakas liefen frei herum.
Doch als Lily nach Osten blickte, glaubte sie, das Wolkenmeer sehen zu können, das über dem neuen Amazonas-Ozean lag, wo ein versunkener Regenwald nun in einem nur wenige Jahre alten Salzmeer verrottete.
Piers Michaelmas saß vor Lily. Er hockte kerzengerade auf seinem Sitz, und sie sah seinen Hinterkopf mit dem exakt geschorenen Haar. Er hatte beschlossen, sie zu begleiten, um »die Sache zu klären«, wie er sich ausdrückte, und sie hatte keinen Weg gefunden, es ihm auszureden.
»Erstaunlich, was die Inkas hier oben geleistet haben«, sagte Lammockson leise. Er saß neben Lily und sah ihr über die Schulter. »Ich meine, ihr Reich hat nur ein paar Jahrzehnte bestanden. Aber die Inkas haben schnell und groß gebaut und ihre Spuren hinterlassen. Genau wie die Römer.«
»Und wie Sie, Nathan?«
»Na, na, treiben Sie’s nicht zu weit, Brooke. Ja, wie ich. Manche von uns haben einen Blick, der Jahrhunderte durchdringt. Ich glaube, Churchill hat etwas dergleichen gesagt.« Lammockson blickte auf sein Reich hinaus, und das strahlende Sonnenlicht der luftigen Höhe betonte die Umrisse seines fleischigen Gesichts.
 
Das Flugzeug landete routiniert in Ufernähe des Titicaca-Sees, in den Außenbezirken einer hässlichen, funktionellen Stadt namens Puno, einst ein Stützpunkt des Silberbergbaus und jetzt Regierungshauptstadt des Altiplano. Lily und Piers stiegen unter einem noch blaueren Himmel aus der Maschine.
Das Wasser des Sees war heute ruhig; glatt und türkis erstreckte es sich in die Ferne. Das Licht der sinkenden Sonne hob das Gelb der Schilfbeete hervor. Am Horizont sah Lily eine gezackte Linie vergletscherter Gipfel, und Wolken quollen von tiefer gelegenem Land empor, Kumuluswolken, die sich unterhalb dieses Wasserkörpers bildeten. Es war ein Anblick, den sie immer wieder erstaunlich fand, ein kompletter siebenhundert Kilometer langer See mit Inseln und Fischerbooten, der drei Kilometer hoch im Himmel hing. Doch sogar hierher hatte es Flüchtlinge verschlagen, sogar hier gab es eine armselige Siedlung, die sich ums Ufer zog; Menschen hockten in primitiven Hütten aus Schilfgras oder umgedrehten Booten, lebten vom Fisch, den sie fingen, oder von den Kartoffeln, die sie auf kargen Flecken gerodeten Bodens anbauten - und vielleicht wurden auch hin und wieder ein paar Alpakas gestohlen.
Lammockson vertrat sich fünf Minuten lang die Beine, ging dann mit Villegas und seinen Leuten wieder an Bord der Maschine und startete zu seiner Konfrontation mit den aggressiven Briten in ihrem Flugzeugträger. Ein paar Minuten später erschien ein Firmenwagen, um Piers und Lily abzuholen, ein im Bummeltempo fahrender Buggy mit Brennstoffzellenantrieb.
Kristie Caistors letzter bekannter Aufenthaltsort waren die Islas de los Uros. Der Wagen brachte Piers und Lily zu einer Stelle am Ufer, von der aus sie mit dem Boot auf die Inseln übersetzen mussten, einem weiteren AxysCorp-Gefährt, auf dessen Rumpf das Geborgene-Erde-Logo prangte.
Die »Inseln« waren künstliche Gebilde, die lediglich aus Schilfgrasmatten bestanden. Auf der größten gab es eine Art Dorf aus hübschen Schilfhütten. Ruderboote waren auf den matschigen Uferstreifen der Insel gezogen worden. Ein leichter Fäulnisgeruch hing in der Luft, wurde jedoch vom stärkeren Gestank der Fische überlagert, die, an Leinen aufgereiht, in der Nachmittagssonne trockneten. Das moderne AxysCorp-Boot mit dem Kunststoffrumpf wirkte hier vollkommen fremdartig.
Kristie stand auf ihrer Inselheimat und wartete auf ihre Tante. Zwanzig Jahre alt und tief gebräunt, trug sie einen Kittel aus leuchtend bunt gefärbter Wolle und einen schwarzen Filzhut. Neben ihr stand ein junger Mann, kleiner als sie, mit dunkelbrauner Haut, schwarzen Augen und ähnlich farbenfroher Wollkleidung. Wie Benj hatte sich Kristie seit ihrer Zeit in Fulham sehr verändert. Aber Fulham war jetzt verschwunden, ein Name, den niemand je wieder auszusprechen brauchte; dies war die Wirklichkeit, dieser See, diese Insel, und dies war die Kristie von heute.
Als das Boot anlegte, kam Kristie herbeigelaufen. »Hi, Lily! Komm, ich helfe dir. Das Aussteigen ist ein bisschen knifflig, wenn man nicht dran gewöhnt ist.«
Sie hatte recht. Es war schwierig, aus dem auf und ab tanzenden Boot auf die Insel zu steigen, wo das Schilf unter Lilys Füßen nachgab, so dass sie keinen festen Halt fand. Lily fühlte sich daran erinnert, wie sie mit Thandie Jones vor nunmehr acht Jahren an Bord der Trieste geklettert war.
Piers folgte ihr. Ungeduldig lehnte er Hilfe ab. Obwohl er darauf bestanden hatte mitzukommen, sah er so aus, als wäre er alles andere als froh darüber, hier zu sein.
Kristies junger Mann streckte die Hand aus. »Sie sind also Tante Lily. Kommen Sie, ich zeige Ihnen unser Zuhause. Wir haben hier nicht oft Besuch!« Sein Englisch war gut, mit dem leichten Akzent, an den sie sich erinnerte.
»Ollantay, nicht wahr?«, sagte Lily. »Wir sind uns schon einmal begegnet, in Cusco.«
Er sah sie mit leeren Augen und leisem Lächeln an. »Qosqo. Wir nennen es Qosqo. Näher an der wahren Inka-Aussprache.«
»Der Name der Stadt«, sagte Piers steif, »ist weder Qosqo noch Cusco, sondern Project City.«
Ollantay drehte sich zu ihm um. Sein ausdrucksloses Lächeln änderte sich nicht. Sie gaben sich die Hand, aber Piers’ Miene war feindselig.
Sie gingen zu einer Hütte mit Wänden aus aufeinandergestapelten Schilfrohrbündeln; weiteres Schilfrohr bedeckte das Wellblechdach. Offenbar hatten Vögel im Stroh genistet, und eine kleine Satellitenschüssel thronte auf dem Dach.
Im Innern war die Hütte überraschend geräumig und sauber. An den Wänden hingen Decken, und auf dem Boden breitete sich eine Art Wollteppich aus. Es gab Kisten und Schrankkoffer, aber auch kleine Verbeugungen vor der Moderne, wie zusammengerollte Nylon-Schlafsäcke in einer Ecke. Lily sah Spuren von Kristies alter Identität: den Handheldcomputer, auf dem sie ihre Hausaufgaben gemacht und ihr Sammelalbum angelegt hatte, ihren alten pinkfarbenen Rucksack, der an einer Wand hing, sogar ihr ramponierter Teddybär saß in einer Ecke. Und Lily roch Küchendüfte, gebratenes Fleisch. Sie argwöhnte, dass es Meerschweinchen war.
Sie nahmen alle im Schneidersitz auf dem Boden Platz. Ollantay stellte einen Wasserkessel auf einen Campingkocher.
»Das ist also euer Zuhause«, sagte Lily.
»Eigentlich das meiner Eltern«, erwiderte Ollantay. »In meiner Kultur ist es Brauch, dass Partner vor der Ehe im Heim der Eltern des einen oder anderen wohnen.«
Kristie warf Lily ein unsicheres Lächeln zu. »Und es ist nicht sonderlich praktikabel, bei meiner Mutter zu wohnen, nicht?«
»Ihr solltet verdammt noch mal dafür sorgen, dass es praktikabel ist«, warf Piers ein. »Deshalb sind wir hier.«
»Piers«, mahnte Lily sanft. Sie wandte sich an Ollantay. »Danke für den freundlichen Empfang.«
»Er ist wirklich ein guter Gastgeber«, sagte Kristie milde. »Üblicherweise spricht man hier Quechua. Die Sprache der Inkas.«
»Die wahre Sprache Perus, bevor es Peru war.« Ollantay goss kochendes Wasser in eine Kanne, stellte ihnen Tassen hin und füllte sie mit einem grünen Tee.
»Aber du selbst bist kein reiner Quechua, nicht?«, blaffte Piers.
»Ach, heutzutage gibt’s hier nur noch Mischlinge«, sagte Kristie im Versuch, eine heitere Note ins Gespräch zu bringen. »Wie überall anders auch, nehme ich an. Da sind die Fischer, die seit Generationen hier leben. Aber jetzt gibt es einen Zustrom von Tieflandbewohnern, die von der Küste heraufkommen. Und es gibt auch barbaros
Das waren Indianer aus den Amazonaswäldern, denen es teilweise gelungen war, über die langen Jahrhunderte des Kolonialismus und der industriellen Ausbeutung hinweg Distanz zur westlichen Kultur zu bewahren. Ihre Stämme trugen Namen wie Mascho Piro, Awa und Korubo. Doch nun schwappte die Flut in die Ausläufer der Anden, trieb sie aus den Wäldern und zwang sie, durch den Nebelwald zu diesem unwirtlichen Plateau heraufzusteigen. Zusammen mit ihnen kamen andere Bewohner des Waldes, Vögel, Schlangen und Affen; die Menschen hier oben ließen allerdings nur wenige von ihnen am Leben, und die Berge wurden Zeugen der Endphase eines Artensterbens.
»Ein komischer Haufen sind die«, fuhr Kristie fort. »Die barbaros. Keine Vorstellung von Geld oder anderen Sprachen. Sie wissen nicht mal, in welchem Land sie sind.«
Lily nickte. »Nathan schickt Ethnografen und Anthropologen her. In manchen Fällen ist sogar ihre Sprache unbekannt. Und sie leiden unter der Ansteckungsgefahr, Erkältungen können für sie tödlich sein.«
»Das ist eine einzige riesengroße Vertreibung, oder?«, sagte Kristie. »Waldindianer vermischen sich mit Leuten aus den Großstädten, die vor ein, zwei Jahren vielleicht noch Anwälte, Buchhalter oder Computerprogrammierer waren …«
Solch plötzlicher Scharfblick ließ sie wie ihren Bruder klingen, dachte Lily - und erweckte den Eindruck, dass sie an diesem schönen, einsamen See hier oben ihre Zeit vergeudete.
Piers war immer noch zornig. »Nichts von alledem«, sagte er und stach mit dem Zeigefinger nach dem jungen Mann, »macht ihn zu dem, der er sein möchte. Ollantay. Dein Geburtsname war José Jesus de la Mar.«
Ollantay zuckte mit den Achseln. »Das ist nicht der Name, mit dem ich sterben möchte.«
»Aber was für ein Name ist Ollantay? Weißt du das, Kris?«
»Ja, ich …«
»Ollantay war der große General, der Pachacutecs Inka-Reich errichtet hat. Keine besonders feinsinnige Wahl, was, José? Und ist es dein Traum, das Land für die Inkas zurückzuerobern?«
Ollantay lächelte. Lily hatte den Eindruck, dass er Piers’ ungeschickte Angriffe sogar genoss. »Wären wir nicht besser dran, wenn die Europäer nie hergekommen wären? Oder wenn die Inkas Pizarro und seine gottgefälligen Schläger niedergemacht hätten? Würden wir jetzt in Hüttensiedlungen hocken, während ihr Ölpflanzen anbaut, um eure Wagen zu fahren, und die Welt wegen eurer jahrhundertelangen industriellen Exzesse ertrinkt?«
»Es reicht«, fauchte Lily. »Um Himmels willen, Piers, was ist denn in dich gefahren?«
Piers stand auf. »Ich bin nicht das Problem. Er ist es. Dieser wirrköpfige jugendliche Held, der Kris wie einen Fisch an der Angel hat.«
Jetzt verbarg auch Kristie ihren Ärger nicht länger. »Sprich nicht so über uns, du vertrockneter alter Narr. Für wen hältst du dich? Für meinen Vater?«
Piers sah erstaunlich verletzt aus. Doch bevor er etwas erwidern konnte, stand Lily auf, packte ihn an der Schulter und zog ihn weg. »Raus.«
»Ich bin noch nicht fertig …«
»O doch, das bist du. Warte draußen auf mich.«
Piers funkelte Ollantay immer noch wütend an. Dann schien plötzlich etwas zu zerbrechen. Er drehte sich um und stürmte hinaus.
Lily setzte sich wieder und blies die Wangen auf. »Tut mir leid.«
»Du hättest ihn nicht mitbringen sollen«, sagte Kristie leise.
»Ich konnte ihn kaum daran hindern.«
»Und du hättest auch nicht kommen sollen.« Kristie war zornig; das Blut war ihr in die Wangen gestiegen. »Meine Mutter hat mir wegen all dem schon genug in den Ohren gelegen. Könnt ihr nicht einfach akzeptieren, dass ich mich entschieden habe, mein Leben auf diese Weise zu leben?«
Nun, da hatte sie recht. Aber dann sah Lily wieder Ollantay an, der sie kalt betrachtete. Sie holte ein Handy aus ihrer Tasche und gab es Kristie. »Nimm das. Du bist nicht an dein altes Telefon gegangen.«
Kristie lächelte. »Es liegt auf dem Grund des Sees.«
»Bitte. Du brauchst es ja nicht zu benutzen. Behalt’s einfach. Lass dich von Amanda ansimsen … Es ist eine schrecklich harte Strafe, Kris, sie vollständig aus deinem Leben auszuschließen. Und außerdem - man weiß nie, Liebes. Es wird sicher Zeiten geben, in denen du mit uns sprechen willst, glaub mir.«
Kristie zögerte ein paar lange Sekunden. Dann nahm sie das Handy und steckte es in ihren pinkfarbenen Rucksack.
Lily sah, wie Ollantay sie beobachtete, und fragte sich, ob Kris das Telefon wohl behalten durfte; vielleicht war er es ja gewesen, der das alte in den See geworfen hatte.
»Tja, ich glaube, ich habe gar keine Wahl«, sagte Kristie. »Wenn ich das Handy nicht nehme, verhaftet Piers mich wahrscheinlich und schleppt mich in Plastikfesseln nach Hause. Dieser Mann ist ziemlich dominant.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Mischt sich in alles ein. Es kommt mir so vor, als wäre er mein ganzes Leben lang da gewesen. Ich wünschte, er würde mich einfach in Ruhe lassen.«
»Oh, das kann er nicht«, murmelte Ollantay. »Niemals. Er kann einfach nicht anders.«
Kristie sah ihn überrascht an. »Warum sagst du das?«
Ollantay lächelte. »Weil er dich liebt. Begreifst du das nicht?«
Kristie lachte. Aber das Lachen erstarb, und ihr Gesicht wurde weich vor Staunen.
Und Benj wusste es ebenfalls, erkannte Lily. Er hatte es angedeutet, in P-ville. Nur Lily hatte es nicht gemerkt. Sie verspürte eine tiefe, kalte, wilde Überraschung, und das Gefühl, betrogen worden zu sein, grub sich in ihren Bauch.
Piers stürmte wieder in die Hütte, das Telefon in der Hand.
»Mein Gott, Piers«, sagte Lily, »du suchst dir wirklich immer den schlechtesten Zeitpunkt aus.«
Piers sah sie verständnislos an, dann sah er zu Kristie, die seinen Blick nicht erwidern wollte, und auf sein Telefon. »Tut mir leid«, stammelte er. »Aber …«
»Was?«
»Nathan schickt das Flugzeug zurück. Es bringt dich nach Hause. Dich auch, Kris, wenn …«
»Lass mich in Ruhe«, brauste Kristie auf.
In Lily keimte Besorgnis auf. »Piers, sag mir, was passiert ist.«
»Es ist Benj«, sagte Piers widerstrebend. »Es hat einen Unfall gegeben. Ein weiterer Angriff auf Energiepflanzen. Die Polizei hat das Feuer eröffnet - er hat versucht, dazwischenzugehen …«
Und Lily verstand. Sie hatte es mindestens zweimal geschafft, Benj vor seinem Gewissen zu bewahren, in Greenwich und dann auf Dartmoor. Aber diesmal war sie nicht für ihn da gewesen.
»Ist er tot?« Kristie lief zu Piers. »Ist er tot?«
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
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