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Sie musste sich in den Wind lehnen. Regenböen
schlugen ihr ins Gesicht, klebten ihr Haarsträhnen in die
Stirn.
Helen entfernte sich vom Wagen, drängte sich durch
nervöse Menschenmengen und arbeitete sich westwärts voran, in
Richtung der Blackfriars-Brücken und des dahinter liegenden
Westends. Zwischen Fahrbahn und Bürgersteig bestand kein großer
Unterschied mehr, die Leute bahnten sich ihren Weg um die stehenden
Fahrzeuge herum. Auch manche Fahrer verließen jetzt ihre Wagen;
Autotüren öffneten sich wie aufbrechende Schalen, und die Insassen
stiegen aus und zuckten unter dem Bombardement der Regentropfen
zusammen. Über dem Gebrabbel lautstarker Gespräche hörte Helen das
Jaulen von Autoalarmanlagen und das Heulen von Sirenen, das
Knattern von Hubschrauberdrehflügeln irgendwo über ihr und das
allgegenwärtige Rauschen des Regens, der auf die Dächer der Wagen,
den Asphalt, die Kleidung und Schirme der Fußgänger prasselte. Die
Welt war kalt, windig, nass und laut.
Und unter all dem glaubte sie noch ein tieferes
Grollen zu hören, das von Osten her kam, aus Richtung der
Themsemündung her. Es klang wie das gefährliche Knurren eines sich
nähernden Raubtieres.
Sie kam nur langsam voran. Kaum hatte sie ein, zwei
Meter zurückgelegt, wurde sie von der nervösen Ziellosigkeit
der Menge auch schon wieder zum Anhalten gezwungen. Sie sah Eltern
mit Kindern, sah Touristen, eine Schar Japaner oder Koreaner in
durchsichtigen Plastik-Ponchos, die mit schreckgeweiteten Augen in
Handys schrien. Die Männer trugen Shorts und Sandalen, und ihre
Beine waren schwarz von dem schmutzig-trüben Wasser.
Nach einer Weile hielt Helen, die bereits die Nase
voll hatte und allmählich müde wurde, bei einem Cola-Automaten an,
förderte aus ihren Taschen ein paar Münzen zutage und zog sich eine
Flasche. Ein Soldatentrick, den sie in ihrer Zeit in Barcelona
gelernt hatte: Man trank das Zeug wegen des Zuckerschubs und des
Koffeins. Sie leerte die Flasche rasch, warf sie einfach weg und
ging weiter. Es war kein Tag, an dem man sich allzu viele Gedanken
über korrekte Müllentsorgung machte.
Hinter Blackfriars ging sie die Krümmung des
Victoria Embankment entlang. Hier war die Straße von Bäumen,
Laternenpfählen und Denkmälern gesäumt, die für Großbritanniens
ruhmreiche Vergangenheit standen. Am Fluss entlang verlief eine
Schutzmauer, die Helen ungefähr bis zur Taille reichte. An manchen
Stellen führten Stufen hinüber, die für gewöhnlich Zugang zu einem
Anleger oder einem Vergnügungsboot gewährten; heute jedoch blieb
das Wasser des schnell dahinströmenden Flusses nur knapp unter dem
Rand der Mauer und schickte Gischtschauer auf die Straße. Sie eilte
weiter, Richtung Waterloo Bridge. Am gegenüberliegenden Südufer
drängten sich das IBM-Gebäude und das National Theatre, und hinter
dem Theatre erstreckte sich ein riesiger Wohnblock, eine weitere
Neuheit, die das Bild beherrschte.
Und dann stieg eine gewaltige Woge über die
Embankment-Mauer empor, türmte sich hoch auf und klatschte auf die
Dahineilenden herab. Das Wasser war schmutzig und schlammig.
Menschen schrien auf und wichen geduckt zurück. Andere hoben ihre
Kameras und Handys, um das Schauspiel einzufangen. Helen lief
weiter. Ihre gestiefelten Füße patschten durch schlammiges Wasser,
das über die Wölbung der Straße in die Gullys lief - aber die
Gullys waren bereits voll, das Wasser staute sich darin, und sie
spien mehr Wasser aus, als sie schluckten.
Als sie unter der Waterloo Bridge hindurchhastete -
das Riesenrad namens »Eye« war ein hübscher Kreis am
gegenüberliegenden Ufer -, sah sie weit vorn, jenseits der Biegung
des Flusses, den hellen Sandstein des Palace of Westminster. Der
Fluss toste immer noch, seine wogende Oberfläche war von Wellen mit
weißen Schaumkronen gesprenkelt. Helen passierte den
Cleopatra-Obelisken und lief unter der Hungerford-Eisenbahnbrücke
hindurch. Es fuhren keine Züge, die Menschen flüchteten zu Fuß in
beide Richtungen über die Brücke und ergossen sich auf die Straße.
Überall starrten Leute auf die Bildschirme ihrer Handys, tippten
auf der Tastatur herum, schrien panisch in die kleinen Geräte
hinein. Andere, die unbedingt Nachrichten hören wollten, drängten
sich um die stehenden Autos, deren von den Batterien mit Strom
versorgte Radios häufig noch funktionierten. Autos, Handys,
rennende Menschen, dazu der wogende Fluss und der unaufhörliche
Regen.
Schließlich erreichte Helen das
Battle-of-Britain-Denkmal. Dort hielt sie inne und blickte sich
hilflos um. Das Denkmal war eine bronzene Gedenktafel, die die
Tapferkeit
der britischen Piloten und Bodenteams im Zweiten Weltkrieg
illustrierte. Helen war vor sechs oder sieben Jahren hier gewesen,
um es sich anzusehen; damals konnte sie nicht älter als achtzehn
gewesen sein. Ihre Eltern hatten es spöttisch als arme Kunst
abgetan, aber seine Direktheit und Emotionalität hatten Helen sehr
berührt. Jetzt, vom Regen gepeitscht und mit schlammigen Pfützen zu
seinen Füßen, wirkte es völlig belanglos.
Und da war auch Michael Thurley. Er trat hinter dem
Denkmal hervor und kam auf sie zu.
Er war um die vierzig und im Vergleich zu den
meisten anderen um ihn herum ziemlich vernünftig gekleidet: Er trug
einen Serge-Anzug mit Gummistiefeln und einen robust wirkenden,
knallroten Parka. Aber der Regen fiel ihm auf die Brille, so dass
er nicht richtig sehen konnte; zwanghaft wischte er die Gläser
wieder und wieder ab.
»Mr. Thurley.« Sie war so ungeheuer froh, ihn zu
sehen, dass sie ihn am liebsten geküsst hätte, doch man küsste
keine Beamten des Außenministeriums. »Sie haben meine Nachricht
erhalten.«
»Ja«, erwiderte er trübselig, »aber ich wünschte,
ich hätte sie nicht bekommen. Reichlich blödsinniger Treffpunkt
unter diesen Umständen, Miss Gray, wenn Sie mir die Bemerkung
gestatten.« Er sprach in knappen, energischen Worten und hatte den
unverkennbaren Akzent eines Privatschulund
Universitätsabsolventen.
»Mir ist nichts Besseres eingefallen - ich kenne
mich in London nicht aus. Jedenfalls sind Sie gekommen!«
»Ich konnte Sie ja nicht einfach hier stehen
lassen, nicht
wahr?« Er zog die Kapuze seines Parkas nach vorn, um sein Gesicht
besser zu schützen; er musste schreien, um das Rauschen des Regens
und das Tosen des Flusses zu übertönen. »Wir im Außenministerium
haben durchaus Verantwortungsgefühl. Und Ihr Freund Nathan
Lammockson hat einige Hebel in Bewegung gesetzt, um
sicherzustellen, dass wir etwas unternehmen. Aber ich muss Ihnen
sagen, dass Whitehall schon weitgehend geräumt worden ist. In der
gegenwärtigen Notlage bin ich New Scotland Yard - der Polizei,
verstehen Sie - als Verbindungsmann zugeteilt worden. Ich arbeite
an Protokollen zur Evakuierung diverser ausländischer Würdenträger
aus London. Aber auch Scotland Yard ist inzwischen geräumt und in
die Polizeihochschule von Hendon verlegt worden, und ich sollte
eigentlich dort sein und dringend …«
»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie meinetwegen
hiergeblieben sind.«
»Ja. Aber es ist ein schreckliches Chaos, nicht
wahr? Sie sehen ja, wie die Dinge stehen - dies ist leider kein
guter Tag, um Ihre Angelegenheit zu verfolgen. Die saudische
Regierung und die spanische Polizei haben uns jedoch versichert,
dass Ihrem Baby nichts geschehen ist …«
»Das haben Sie mir gestern schon erzählt.« Kraftlos
ließ Helen den Kopf sinken. Auf einmal waren ihr der Regen, die
vorbeieilenden Leute, das Wasser um ihre Füße völlig egal. Es war
niederschmetternd, erkennen zu müssen, dass sie nach all den
Anstrengungen, die es sie gekostet hatte, hierherzugelangen, keinen
Schritt weitergekommen war.
Thurley trat etwas näher an sie heran. »Unter den
gegebenen Umständen konnten wir leider nicht mehr tun. Ich verstehe
Sie ja. Das heißt, eigentlich glaube ich nicht, dass ich Sie
verstehe oder jemals verstehen kann. Ich habe keine Kinder. Was ich
meine, ist, ich fühle mit Ihnen.«
»Sie versuchen zu helfen, das weiß ich. Ich hätte
bloß nie erwartet, dass mein Leben einen solchen Verlauf nehmen
würde.«
Er lächelte gezwungen. »Wie alt sind Sie,
fünfundzwanzig, sechsundzwanzig? Ihr ganzes Leben liegt noch vor
Ihnen, glauben Sie mir.«
»Aber mein ganzes Leben wird von meiner Tochter
bestimmt. Von einer Vergewaltigung. Als wären meine Füße an
den Boden genagelt, und ich würde nie wieder irgendwohin gehen
können.«
»Ich bin sicher, so ist es nicht …«
Helen hörte Schreie und blickte auf. Plötzlich
stieg das Wasser auf der Straße, als wäre sie eine riesige,
volllaufende Badewanne. Leute platschten in ihren Sommerschuhen und
Sandalen umher und stiegen hastig Treppen empor, einige kletterten
sogar auf die Flussmauer. Als das Wasser über die Radkästen der
stehen gebliebenen Autos stieg, begannen die Alarmanlagen zu
jaulen.
Thurley zeigte auf etwas. »Schauen Sie, es kommt
aus den Gullys.« Kanaldeckel waren durch den schieren Druck des
Wassers, das blubbernd aus dem Boden quoll, angehoben worden.
»Guter Gott, ich glaube, das ist eine Ratte!«
Jetzt wurde das ferne Donnern lauter. Helen blickte
stromabwärts. Und sie sah den Sturm kommen. Eine gewaltige, von
weißem Schaum gekrönte Welle überspannte die Themse und raste auf
die Hungerford Bridge zu. Wo sie vorbeikam, schossen Gischtfontänen
über die Flussmauern.
Leute standen wie erstarrt und fotografierten die Welle; Helen sah
die Tupfen von Blitzlichtern. Doch nun strömte das Wasser auch das
Embankment entlang, ein Fluss auf der Straße, der parallel zur
Welle verlief. Sie war immer noch ein gutes Stück entfernt, aber
Helen wurde Zeuge, wie Menschen von den Beinen gerissen und
stehende Autos wie Spielzeug beiseitegeschoben wurden, als wären
sie vom Strahl eines mächtigen Wasserschlauchs getroffen
worden.
Auf einmal war dieser Tag der Überschwemmungen mehr
als eine Unannehmlichkeit, mehr als eine bloße Störung des
Alltagsgeschehens. Allem Anschein nach starben dort Menschen,
direkt vor ihren Augen.
Sie versuchte sich zu konzentrieren und einen
klaren Gedanken zu fassen. Dann packte sie Thurley am Arm. »Kommen
Sie. Wir müssen von hier verschwinden.«
Er wirkte wie hypnotisiert. »Äh … richtig. Aber
wohin?«
»Zum Strand«, sagte Helen, die sich an die Worte
ihrer Fahrerin erinnerte. »Dort entlang.«
Sie eilten auf dem Embankment zurück und drängten
sich durch die Menge. Kurz vor der Stelle, wo sie nach links in die
Horseguards Avenue abbiegen mussten, erreichte sie das Wasser, eine
knietiefe Woge. Es führte Abfall mit sich, Papierfetzen,
Plastiktüten, Fastfood-Verpackungen, aber auch Ölschlieren und
stinkendes Abwasser. Menschen klammerten sich an die Mauer, an
Laternenpfähle, an gestrandete Wagen; andere wurden von den Beinen
gerissen und kamen klatschnass und prustend wieder hoch. Selbst
jetzt umfassten die Leute noch ihre Handys, anstatt sich mit beiden
Händen festzuhalten; Helen sah überall die kleinen Bildschirme
leuchten. Sie stemmte sich gegen die Strömung und arbeitete
sich vorwärts, als ginge sie mitten in eine Flutwelle hinein, aber
sie und Thurley blieben auf den Beinen.
Plötzlich stieg die Themse erneut stark an und
ergoss sich in einem Sturzbach über die Flussmauer. Die Autos
gerieten ins Rutschen, prallten gegeneinander, wie Felsbrocken in
einem schnell fließenden Strom. Menschen schrien um Hilfe.
Helen und Thurley schafften es in die Horseguards
Avenue. Doch auch dort war ihnen keine Atempause vergönnt; das
schwarze, schlammige, ölschlierige Wasser brandete ihnen hinterher,
während sie sich durch die Menge kämpften. Helen war völlig
erschöpft, als sie Whitehall erreichten, Thurley keuchte vor
Anstrengung.
Whitehall selbst war schon überschwemmt. Sie
starrten auf einen weiteren Fluss, der von dem höher gelegenen
Gelände im Norden kam, die Straße entlang auf sie zuschoss und die
Menschen bis zu den Oberschenkeln erfasste. Er strömte an den
hellen Sandsteinfassaden der imposanten Regierungsgebäude vorbei
und ergoss sich in Baustellengruben.
Thurley sah nach Süden, wohin das Wasser strömte.
»Schauen Sie.« Er zeigte auf ein Polizei-Gummiboot, das gegen die
Strömung ankämpfte. »Das ist Downing Street. Sie räumen den
Regierungssitz.«
»Ja.« Helen drehte sich um und blickte suchend nach
Norden. Am Ende der Straße sah sie den Trafalgar Square; die
National Gallery mit ihrer Treppe und ihren Säulen ragte wie eine
Klippe empor. »Dort entlang, da kommen wir raus. Aber wir müssen
gegen die Strömung ankämpfen …«
Sie stapften stromaufwärts. Und sie waren nicht
allein, auch andere hatten dieselbe Idee, kämpften sich die Straße
hinauf oder kletterten an Zaunreihen entlang. Aber die Strömung
wurde immer stärker.
Thurley rutschte aus. Helen griff nach ihm und fiel
selbst bäuchlings hin. Sie spürte, wie das trübe Zeug unter ihre
Kapuze drang, ihre kurzen Haare durchnässte, in ihren Overall rann.
Sie hielt den Mund fest geschlossen, weil sie sich an die Brühe
erinnerte, die aus den Gullys emporgebrodelt war. Beinahe hätte sie
es geschafft aufzustehen, aber dann fiel jemand gegen sie und
drückte sie wieder unter Wasser, und sie konnte die Beine nicht
unter den Leib bekommen. Sie merkte, wie sie über den Asphalt
rückwärts glitt, und geriet in Panik. Sie würde nicht mehr
aufstehen können, würde im meterhohen Schmutzwasser
ertrinken.
Dann packte sie eine starke Hand am Genick und
zerrte sie auf die Beine. Tropfend stand sie vor einem Berg von
einem Mann, T-Shirt, Shorts, tätowierte Arme, wie ein
heruntergekommener Rugbyspieler. Bis auf die Haut durchnässt, hielt
er tatsächlich eine Dose Lager-Bier in der linken Hand. Er glotzte
sie lüstern an, fasste ihr mit der Rechten an die Brust und drückte
zu. Sie wich angewidert zurück, und er stampfte lachend
davon.
Da war Thurley, triefnass. »Nicht gerade ein echter
Held«, rief er.
»Wichser«, fauchte sie. »Ich hoffe, er ertrinkt an
seiner eigenen Kotze. Kommen Sie, machen wir, dass wir von hier
wegkommen.«
Helen war jetzt von Kopf bis Fuß klatschnass, das
Flusswasser
stand in ihrem Overall. Mühsam stapften sie weiter. Sie kamen
immer schwerer voran.
Schließlich erreichten sie den Trafalgar Square.
Die National Gallery und die alte Kirche von Saint Martin in the
Fields auf der Nordseite des Platzes waren über dem Wasser, und
Menschen standen oder kauerten auf den Stufen der Galerie. Auf dem
Platz selbst bildete das dahinströmende Flusswasser einen See, der
um die berühmten alten Brunnen plätscherte. Rundum strotzte es von
Menschen, es mussten Tausende sein, die auf dem Platz
umherwimmelten und die Vortreppe der Galerie emporstiegen. Helen
sah keine Spur von der Polizei, keine Anzeichen ordnungsgemäßer
Evakuierungsversuche. Sie blickte zu Nelson auf seiner Säule
hinauf, der unerschütterlich die neuesten Schläge betrachtete, die
seiner Stadt versetzt wurden.
Thurley berührte sie an der Schulter. »Schauen Sie,
da oben.« Er deutete zum Dach der National Gallery, das von einem
grauen Teppich bedeckt war. Tauben, Abertausende von Tauben. »Sie
haben etwas vom Strand gesagt, Miss Gray.«
»Ja.«
Er zeigte nach rechts. »Dort entlang.«
Sie platschten durch das tiefer werdende Wasser,
stolperten über eine Straße, vorbei an erloschenen Verkehrsampeln
und liegen gebliebenen Wagen. Um sie herum waren Menschen, die sich
verzweifelt in Sicherheit zu bringen versuchten.