17
Sie musste sich in den Wind lehnen. Regenböen schlugen ihr ins Gesicht, klebten ihr Haarsträhnen in die Stirn.
Helen entfernte sich vom Wagen, drängte sich durch nervöse Menschenmengen und arbeitete sich westwärts voran, in Richtung der Blackfriars-Brücken und des dahinter liegenden Westends. Zwischen Fahrbahn und Bürgersteig bestand kein großer Unterschied mehr, die Leute bahnten sich ihren Weg um die stehenden Fahrzeuge herum. Auch manche Fahrer verließen jetzt ihre Wagen; Autotüren öffneten sich wie aufbrechende Schalen, und die Insassen stiegen aus und zuckten unter dem Bombardement der Regentropfen zusammen. Über dem Gebrabbel lautstarker Gespräche hörte Helen das Jaulen von Autoalarmanlagen und das Heulen von Sirenen, das Knattern von Hubschrauberdrehflügeln irgendwo über ihr und das allgegenwärtige Rauschen des Regens, der auf die Dächer der Wagen, den Asphalt, die Kleidung und Schirme der Fußgänger prasselte. Die Welt war kalt, windig, nass und laut.
Und unter all dem glaubte sie noch ein tieferes Grollen zu hören, das von Osten her kam, aus Richtung der Themsemündung her. Es klang wie das gefährliche Knurren eines sich nähernden Raubtieres.
Sie kam nur langsam voran. Kaum hatte sie ein, zwei Meter zurückgelegt, wurde sie von der nervösen Ziellosigkeit der Menge auch schon wieder zum Anhalten gezwungen. Sie sah Eltern mit Kindern, sah Touristen, eine Schar Japaner oder Koreaner in durchsichtigen Plastik-Ponchos, die mit schreckgeweiteten Augen in Handys schrien. Die Männer trugen Shorts und Sandalen, und ihre Beine waren schwarz von dem schmutzig-trüben Wasser.
Nach einer Weile hielt Helen, die bereits die Nase voll hatte und allmählich müde wurde, bei einem Cola-Automaten an, förderte aus ihren Taschen ein paar Münzen zutage und zog sich eine Flasche. Ein Soldatentrick, den sie in ihrer Zeit in Barcelona gelernt hatte: Man trank das Zeug wegen des Zuckerschubs und des Koffeins. Sie leerte die Flasche rasch, warf sie einfach weg und ging weiter. Es war kein Tag, an dem man sich allzu viele Gedanken über korrekte Müllentsorgung machte.
Hinter Blackfriars ging sie die Krümmung des Victoria Embankment entlang. Hier war die Straße von Bäumen, Laternenpfählen und Denkmälern gesäumt, die für Großbritanniens ruhmreiche Vergangenheit standen. Am Fluss entlang verlief eine Schutzmauer, die Helen ungefähr bis zur Taille reichte. An manchen Stellen führten Stufen hinüber, die für gewöhnlich Zugang zu einem Anleger oder einem Vergnügungsboot gewährten; heute jedoch blieb das Wasser des schnell dahinströmenden Flusses nur knapp unter dem Rand der Mauer und schickte Gischtschauer auf die Straße. Sie eilte weiter, Richtung Waterloo Bridge. Am gegenüberliegenden Südufer drängten sich das IBM-Gebäude und das National Theatre, und hinter dem Theatre erstreckte sich ein riesiger Wohnblock, eine weitere Neuheit, die das Bild beherrschte.
Und dann stieg eine gewaltige Woge über die Embankment-Mauer empor, türmte sich hoch auf und klatschte auf die Dahineilenden herab. Das Wasser war schmutzig und schlammig. Menschen schrien auf und wichen geduckt zurück. Andere hoben ihre Kameras und Handys, um das Schauspiel einzufangen. Helen lief weiter. Ihre gestiefelten Füße patschten durch schlammiges Wasser, das über die Wölbung der Straße in die Gullys lief - aber die Gullys waren bereits voll, das Wasser staute sich darin, und sie spien mehr Wasser aus, als sie schluckten.
Als sie unter der Waterloo Bridge hindurchhastete - das Riesenrad namens »Eye« war ein hübscher Kreis am gegenüberliegenden Ufer -, sah sie weit vorn, jenseits der Biegung des Flusses, den hellen Sandstein des Palace of Westminster. Der Fluss toste immer noch, seine wogende Oberfläche war von Wellen mit weißen Schaumkronen gesprenkelt. Helen passierte den Cleopatra-Obelisken und lief unter der Hungerford-Eisenbahnbrücke hindurch. Es fuhren keine Züge, die Menschen flüchteten zu Fuß in beide Richtungen über die Brücke und ergossen sich auf die Straße. Überall starrten Leute auf die Bildschirme ihrer Handys, tippten auf der Tastatur herum, schrien panisch in die kleinen Geräte hinein. Andere, die unbedingt Nachrichten hören wollten, drängten sich um die stehenden Autos, deren von den Batterien mit Strom versorgte Radios häufig noch funktionierten. Autos, Handys, rennende Menschen, dazu der wogende Fluss und der unaufhörliche Regen.
Schließlich erreichte Helen das Battle-of-Britain-Denkmal. Dort hielt sie inne und blickte sich hilflos um. Das Denkmal war eine bronzene Gedenktafel, die die Tapferkeit der britischen Piloten und Bodenteams im Zweiten Weltkrieg illustrierte. Helen war vor sechs oder sieben Jahren hier gewesen, um es sich anzusehen; damals konnte sie nicht älter als achtzehn gewesen sein. Ihre Eltern hatten es spöttisch als arme Kunst abgetan, aber seine Direktheit und Emotionalität hatten Helen sehr berührt. Jetzt, vom Regen gepeitscht und mit schlammigen Pfützen zu seinen Füßen, wirkte es völlig belanglos.
Und da war auch Michael Thurley. Er trat hinter dem Denkmal hervor und kam auf sie zu.
 
Er war um die vierzig und im Vergleich zu den meisten anderen um ihn herum ziemlich vernünftig gekleidet: Er trug einen Serge-Anzug mit Gummistiefeln und einen robust wirkenden, knallroten Parka. Aber der Regen fiel ihm auf die Brille, so dass er nicht richtig sehen konnte; zwanghaft wischte er die Gläser wieder und wieder ab.
»Mr. Thurley.« Sie war so ungeheuer froh, ihn zu sehen, dass sie ihn am liebsten geküsst hätte, doch man küsste keine Beamten des Außenministeriums. »Sie haben meine Nachricht erhalten.«
»Ja«, erwiderte er trübselig, »aber ich wünschte, ich hätte sie nicht bekommen. Reichlich blödsinniger Treffpunkt unter diesen Umständen, Miss Gray, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.« Er sprach in knappen, energischen Worten und hatte den unverkennbaren Akzent eines Privatschulund Universitätsabsolventen.
»Mir ist nichts Besseres eingefallen - ich kenne mich in London nicht aus. Jedenfalls sind Sie gekommen!«
»Ich konnte Sie ja nicht einfach hier stehen lassen, nicht wahr?« Er zog die Kapuze seines Parkas nach vorn, um sein Gesicht besser zu schützen; er musste schreien, um das Rauschen des Regens und das Tosen des Flusses zu übertönen. »Wir im Außenministerium haben durchaus Verantwortungsgefühl. Und Ihr Freund Nathan Lammockson hat einige Hebel in Bewegung gesetzt, um sicherzustellen, dass wir etwas unternehmen. Aber ich muss Ihnen sagen, dass Whitehall schon weitgehend geräumt worden ist. In der gegenwärtigen Notlage bin ich New Scotland Yard - der Polizei, verstehen Sie - als Verbindungsmann zugeteilt worden. Ich arbeite an Protokollen zur Evakuierung diverser ausländischer Würdenträger aus London. Aber auch Scotland Yard ist inzwischen geräumt und in die Polizeihochschule von Hendon verlegt worden, und ich sollte eigentlich dort sein und dringend …«
»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie meinetwegen hiergeblieben sind.«
»Ja. Aber es ist ein schreckliches Chaos, nicht wahr? Sie sehen ja, wie die Dinge stehen - dies ist leider kein guter Tag, um Ihre Angelegenheit zu verfolgen. Die saudische Regierung und die spanische Polizei haben uns jedoch versichert, dass Ihrem Baby nichts geschehen ist …«
»Das haben Sie mir gestern schon erzählt.« Kraftlos ließ Helen den Kopf sinken. Auf einmal waren ihr der Regen, die vorbeieilenden Leute, das Wasser um ihre Füße völlig egal. Es war niederschmetternd, erkennen zu müssen, dass sie nach all den Anstrengungen, die es sie gekostet hatte, hierherzugelangen, keinen Schritt weitergekommen war.
Thurley trat etwas näher an sie heran. »Unter den gegebenen Umständen konnten wir leider nicht mehr tun. Ich verstehe Sie ja. Das heißt, eigentlich glaube ich nicht, dass ich Sie verstehe oder jemals verstehen kann. Ich habe keine Kinder. Was ich meine, ist, ich fühle mit Ihnen.«
»Sie versuchen zu helfen, das weiß ich. Ich hätte bloß nie erwartet, dass mein Leben einen solchen Verlauf nehmen würde.«
Er lächelte gezwungen. »Wie alt sind Sie, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig? Ihr ganzes Leben liegt noch vor Ihnen, glauben Sie mir.«
»Aber mein ganzes Leben wird von meiner Tochter bestimmt. Von einer Vergewaltigung. Als wären meine Füße an den Boden genagelt, und ich würde nie wieder irgendwohin gehen können.«
»Ich bin sicher, so ist es nicht …«
Helen hörte Schreie und blickte auf. Plötzlich stieg das Wasser auf der Straße, als wäre sie eine riesige, volllaufende Badewanne. Leute platschten in ihren Sommerschuhen und Sandalen umher und stiegen hastig Treppen empor, einige kletterten sogar auf die Flussmauer. Als das Wasser über die Radkästen der stehen gebliebenen Autos stieg, begannen die Alarmanlagen zu jaulen.
Thurley zeigte auf etwas. »Schauen Sie, es kommt aus den Gullys.« Kanaldeckel waren durch den schieren Druck des Wassers, das blubbernd aus dem Boden quoll, angehoben worden. »Guter Gott, ich glaube, das ist eine Ratte!«
Jetzt wurde das ferne Donnern lauter. Helen blickte stromabwärts. Und sie sah den Sturm kommen. Eine gewaltige, von weißem Schaum gekrönte Welle überspannte die Themse und raste auf die Hungerford Bridge zu. Wo sie vorbeikam, schossen Gischtfontänen über die Flussmauern. Leute standen wie erstarrt und fotografierten die Welle; Helen sah die Tupfen von Blitzlichtern. Doch nun strömte das Wasser auch das Embankment entlang, ein Fluss auf der Straße, der parallel zur Welle verlief. Sie war immer noch ein gutes Stück entfernt, aber Helen wurde Zeuge, wie Menschen von den Beinen gerissen und stehende Autos wie Spielzeug beiseitegeschoben wurden, als wären sie vom Strahl eines mächtigen Wasserschlauchs getroffen worden.
Auf einmal war dieser Tag der Überschwemmungen mehr als eine Unannehmlichkeit, mehr als eine bloße Störung des Alltagsgeschehens. Allem Anschein nach starben dort Menschen, direkt vor ihren Augen.
Sie versuchte sich zu konzentrieren und einen klaren Gedanken zu fassen. Dann packte sie Thurley am Arm. »Kommen Sie. Wir müssen von hier verschwinden.«
Er wirkte wie hypnotisiert. »Äh … richtig. Aber wohin?«
»Zum Strand«, sagte Helen, die sich an die Worte ihrer Fahrerin erinnerte. »Dort entlang.«
Sie eilten auf dem Embankment zurück und drängten sich durch die Menge. Kurz vor der Stelle, wo sie nach links in die Horseguards Avenue abbiegen mussten, erreichte sie das Wasser, eine knietiefe Woge. Es führte Abfall mit sich, Papierfetzen, Plastiktüten, Fastfood-Verpackungen, aber auch Ölschlieren und stinkendes Abwasser. Menschen klammerten sich an die Mauer, an Laternenpfähle, an gestrandete Wagen; andere wurden von den Beinen gerissen und kamen klatschnass und prustend wieder hoch. Selbst jetzt umfassten die Leute noch ihre Handys, anstatt sich mit beiden Händen festzuhalten; Helen sah überall die kleinen Bildschirme leuchten. Sie stemmte sich gegen die Strömung und arbeitete sich vorwärts, als ginge sie mitten in eine Flutwelle hinein, aber sie und Thurley blieben auf den Beinen.
Plötzlich stieg die Themse erneut stark an und ergoss sich in einem Sturzbach über die Flussmauer. Die Autos gerieten ins Rutschen, prallten gegeneinander, wie Felsbrocken in einem schnell fließenden Strom. Menschen schrien um Hilfe.
 
Helen und Thurley schafften es in die Horseguards Avenue. Doch auch dort war ihnen keine Atempause vergönnt; das schwarze, schlammige, ölschlierige Wasser brandete ihnen hinterher, während sie sich durch die Menge kämpften. Helen war völlig erschöpft, als sie Whitehall erreichten, Thurley keuchte vor Anstrengung.
Whitehall selbst war schon überschwemmt. Sie starrten auf einen weiteren Fluss, der von dem höher gelegenen Gelände im Norden kam, die Straße entlang auf sie zuschoss und die Menschen bis zu den Oberschenkeln erfasste. Er strömte an den hellen Sandsteinfassaden der imposanten Regierungsgebäude vorbei und ergoss sich in Baustellengruben.
Thurley sah nach Süden, wohin das Wasser strömte. »Schauen Sie.« Er zeigte auf ein Polizei-Gummiboot, das gegen die Strömung ankämpfte. »Das ist Downing Street. Sie räumen den Regierungssitz.«
»Ja.« Helen drehte sich um und blickte suchend nach Norden. Am Ende der Straße sah sie den Trafalgar Square; die National Gallery mit ihrer Treppe und ihren Säulen ragte wie eine Klippe empor. »Dort entlang, da kommen wir raus. Aber wir müssen gegen die Strömung ankämpfen …«
Sie stapften stromaufwärts. Und sie waren nicht allein, auch andere hatten dieselbe Idee, kämpften sich die Straße hinauf oder kletterten an Zaunreihen entlang. Aber die Strömung wurde immer stärker.
Thurley rutschte aus. Helen griff nach ihm und fiel selbst bäuchlings hin. Sie spürte, wie das trübe Zeug unter ihre Kapuze drang, ihre kurzen Haare durchnässte, in ihren Overall rann. Sie hielt den Mund fest geschlossen, weil sie sich an die Brühe erinnerte, die aus den Gullys emporgebrodelt war. Beinahe hätte sie es geschafft aufzustehen, aber dann fiel jemand gegen sie und drückte sie wieder unter Wasser, und sie konnte die Beine nicht unter den Leib bekommen. Sie merkte, wie sie über den Asphalt rückwärts glitt, und geriet in Panik. Sie würde nicht mehr aufstehen können, würde im meterhohen Schmutzwasser ertrinken.
Dann packte sie eine starke Hand am Genick und zerrte sie auf die Beine. Tropfend stand sie vor einem Berg von einem Mann, T-Shirt, Shorts, tätowierte Arme, wie ein heruntergekommener Rugbyspieler. Bis auf die Haut durchnässt, hielt er tatsächlich eine Dose Lager-Bier in der linken Hand. Er glotzte sie lüstern an, fasste ihr mit der Rechten an die Brust und drückte zu. Sie wich angewidert zurück, und er stampfte lachend davon.
Da war Thurley, triefnass. »Nicht gerade ein echter Held«, rief er.
»Wichser«, fauchte sie. »Ich hoffe, er ertrinkt an seiner eigenen Kotze. Kommen Sie, machen wir, dass wir von hier wegkommen.«
Helen war jetzt von Kopf bis Fuß klatschnass, das Flusswasser stand in ihrem Overall. Mühsam stapften sie weiter. Sie kamen immer schwerer voran.
Schließlich erreichten sie den Trafalgar Square. Die National Gallery und die alte Kirche von Saint Martin in the Fields auf der Nordseite des Platzes waren über dem Wasser, und Menschen standen oder kauerten auf den Stufen der Galerie. Auf dem Platz selbst bildete das dahinströmende Flusswasser einen See, der um die berühmten alten Brunnen plätscherte. Rundum strotzte es von Menschen, es mussten Tausende sein, die auf dem Platz umherwimmelten und die Vortreppe der Galerie emporstiegen. Helen sah keine Spur von der Polizei, keine Anzeichen ordnungsgemäßer Evakuierungsversuche. Sie blickte zu Nelson auf seiner Säule hinauf, der unerschütterlich die neuesten Schläge betrachtete, die seiner Stadt versetzt wurden.
Thurley berührte sie an der Schulter. »Schauen Sie, da oben.« Er deutete zum Dach der National Gallery, das von einem grauen Teppich bedeckt war. Tauben, Abertausende von Tauben. »Sie haben etwas vom Strand gesagt, Miss Gray.«
»Ja.«
Er zeigte nach rechts. »Dort entlang.«
Sie platschten durch das tiefer werdende Wasser, stolperten über eine Straße, vorbei an erloschenen Verkehrsampeln und liegen gebliebenen Wagen. Um sie herum waren Menschen, die sich verzweifelt in Sicherheit zu bringen versuchten.
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
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