63
Sie wurden vom Boot aus angerufen. »Wie viele seid ihr?«
Gary warf Domingo einen Blick zu. »Amerikanischer Akzent. Florida vielleicht?«
»Könnte sein.«
Gary formte die Hände zu einem Trichter und rief zurück: »Wir sind zu dritt hier. Andere im Wald.«
Eine Pause. Dann: »Ich habe von hier aus meine Waffe auf euch gerichtet. Und ein paar meiner Jungs sind über euch, die haben euch von hinten im Visier. Kapiert?«
»Kapiert.«
So war es immer - bestenfalls -, wenn man auf Fremde traf. Eine Demonstration der Stärke, Imponiergehabe mit Waffen und Kriegern, die existieren mochten oder auch nicht. An einem schlechten Tag flogen einem Kugeln um die Ohren, bevor man überhaupt merkte, dass jemand da war.
»Und was wollt ihr?«
Jetzt antwortete Domingo. »Eine Überfahrt. Über die Kanalzone, nach Darién.«
»Wir sind bloß auf der Durchreise«, rief Gary. »Wir wollen nach Peru.«
»Peru, hm.«
»Ja. Wir haben nicht vor, hier zu bleiben.«
Diesmal folgte eine längere Pause. Dann sah Gary, wie ein Ruderboot an Seilen mit einer Winde zu Wasser gelassen wurde. »Ich komme rüber, um die Sache mit euch zu besprechen. Vergesst nicht, ich habe euch im Visier. Das hier ist mein Land, und ich kenne es verdammt noch mal viel besser als ihr.«
Gary breitete die Hände aus. »Wir sind ungefährlich.«
Zwei Männer kletterten über eine Strickleiter ins Boot hinunter. Einer bewegte sich ein wenig steifer als der andere. Sie legten die wenigen Hundert Meter bis zum Ufer mit energischen Ruderzügen zurück. Gary, Grace und Domingo gingen den Hang hinab und am Ufersaum entlang zu der Stelle, wo das Boot anlegen würde. Sie war von Baumstümpfen und verrottendem Holz befreit worden, damit man dort anlanden konnte.
Die beiden Männer im Boot sahen sich ähnlich. Beide waren schwarz, korpulent, mit kantigem Gesicht; sie trugen robust aussehende Jeans, Jacken und abgewetzte, vom Salz ausgebleichte Mützen. Der Ältere hatte eine runzlig-finstere Miene aufgesetzt. Der andere, jünger und nervöser, hatte ein offenes Gesicht und große Augen. Vater und Sohn, vermutete Gary. Der Vater schien unbewaffnet zu sein, aber der Sohn hatte irgendeine Schnellfeuerwaffe, und er blieb ein Stück zurück, außer Reichweite der Neuankömmlinge. Er hielt die Mündung zu Boden gerichtet.
Gary trat mit ausgestreckter Hand vor. »Gary Boyle ist mein Name.«
Der ältere Mann ergriff seine Hand und schüttelte sie. »Sam Moore. Mein Junge, Tom.«
Der Junge nickte.
Domingo fingerte vorsichtig an den Riemen seines Rucksacks herum. »Darf ich? Ich habe Geschenke.«
Moores Blick verfinsterte sich noch mehr, und der Junge schwenkte die automatische Waffe herum. Aber sie erlaubten Domingo, den Rucksack abzunehmen. Er holte zwei Dosen Cola light heraus, das Standardgeschenk der Wanderer für Amerikaner. »Ein Zeichen der Freundschaft«, sagte er.
Moore war immer noch wachsam, doch er nahm eine Dose und gab die andere seinem Sohn. »Verdammt, dieses Zeug hab ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie alt ist das?«
»In Denver stellen sie’s immer noch her«, sagte Gary.
»Ehrlich.« Moore riss die Dose auf und horchte auf das Zischen der Kohlensäure. »Muss richtig kalt sein.« Er trank einen großen Schluck.
Der Junge fummelte an der Lasche herum, schüttete sich etwas von der Cola ins Gesicht, als er aus der Dose zu trinken versuchte, und blickte missmutig drein.
Moore hatte seine Dose geleert. »Scheiße, tut das gut.« Er zerknüllte die Dose mit einer Hand und warf sie ins Wasser. »So viel zum Thema ›Rettet den Planeten‹! Erinnert ihr euch noch daran? Geschenke, hm. Also, Gary Boyle, wer seid ihr und was wollt ihr?«
Gary erklärte, sie seien Kundschafter einer Nomadengruppe. »Die anderen sind noch im Wald.«
»Ihr seid zu Fuß unterwegs.«
»Ja, abgesehen von Schubkarren, Handwagen und dergleichen.«
»Kommt ihr von weither?«
Gary warf Grace einen Blick zu. »Kommt darauf an, was man als Startpunkt nimmt. Ich würde sagen, von Lincoln, Nebraska. Seither sind wir nach Süden gegangen.«
Moore stieß einen Pfiff aus. »Bis nach Peru, stimmt’s? Auf dem Rückgrat Amerikas entlang.«
»So ist es gedacht.«
»In meiner Jugend bin ich mal von Laredo, Texas, aus die Panamericana entlanggefahren, durch Mittel- und Südamerika bis nach Paraguay. Höllischer Trip. Und die einzige Strecke, wo wir laufen mussten, war da hinten.« Moore deutete mit dem Daumen über die Meerenge. »Der Darién-Gap, achtzig Kilometer Dschungel. So war’s damals, und so ist es jetzt auch noch. Aber ich kannte das Land, bin hier aufgewachsen. Auf der anderen Seite haben wir einen Wagen gemietet und sind nach Kolumbien reingefahren.«
»Die Panamericana steht jetzt zum größten Teil unter Wasser«, sagte Domingo. »Wir mussten ihr auf höher gelegenem Gelände folgen. War gar nicht so einfach.«
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Gary. »Sie sagen, Sie sind hier aufgewachsen?«
»Ja. Mein Großvater war Schiffsmakler in der Kanalzone. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe selbst auf dem Kanal gearbeitet. Aber zwanzig-null-null sind wir nach Florida gezogen, als die Souveränität über den Kanal an Panama zurückgefallen ist. Dann bin ich mit einem Arbeitsvertrag wiedergekommen, und es war nicht so schlecht, wie jeder geglaubt hatte, wenn die Einheimischen das Sagen haben würden, und schließlich habe ich mich wieder hier niedergelassen.« Moore drehte sich um. »Tom, hol diesen Leuten ein bisschen Wasser.«
Tom sah die Neuankömmlinge skeptisch an. Aber er ging zum Boot, die Automatik locker in einer Hand, und kam mit einem Bündel Feldflaschen an Umhängebändern zurück, die er Gary gab. Gary teilte sie aus und trank dankbar einen Schluck sauber schmeckendes Wasser.
»Und als die Flut kam, seid ihr hiergeblieben«, sagte Grace.
»Konnten ja nirgends anders hin. Meine Familie und ich, wir sind hier zu Hause. Als das Meer über die unteren Schleusen gestiegen ist und der Kanal im Eimer war, sind die Panamesen einfach abgehauen. Er hätte noch lange danach funktionsfähig erhalten werden können, aber nachdem er einmal aufgegeben worden war und nicht mehr gewartet wurde, hat’s nicht lange gedauert, bis er endgültig draufgegangen ist.« Moore zeigte über die Schulter auf das Gebiet von Darién. »Großer Staudamm da oben namens Madden, hat den Fluss Chagres gestaut und den alten Alajuela-See geschaffen. Als der Madden-Damm brach, ist ein richtiger Sturzbach durchs Tal geschossen und in den Gatún geströmt.« Er deutete auf eine Landschaft, die jetzt überflutet war. »Der Gatún hat seine Schleusen überflutet, sie unterminiert und schließlich seinen eigenen Damm auf der atlantischen Seite durchbrochen. Dann ist der Chagres durch die Trümmer gestrudelt und hat sich seinen alten Weg zurück ins Meer gesucht, auf der pazifischen Seite. Aber das Meer ist noch weiter gestiegen und hat alles bedeckt. Jetzt erkennt man gar nicht mehr, dass der Kanal jemals dort war. Eine verdammte Schande! Wir mussten immer hart arbeiten, damit der Dschungel ihn nicht zurückerobert. Der Kanal war eine Wunde in der Erde, die sich immer zu schließen versuchte, hat mein Daddy gesagt.«
»Und jetzt lebt ihr von eurem Boot?«
»Wir fischen. Ich und meine Familie, meine Jungs.« Moores Augen wurden schmal; er war immer noch misstrauisch. »Es gibt eine ganze Menge von uns, überall an dieser Küstenlinie. Boote, Flöße, Häuser an der Küste. Wir passen aufeinander auf.«
»Das glaube ich gern.«
»Also, was wollt ihr? Eine Überfahrt zur anderen Seite der Meerenge?«
»Ja, wenn sich das machen lässt. Aber wir sind auch eine ganze Menge.«
Wieder dieses misstrauische Stirnrunzeln. »Wie viele?«
»Tausend.«
Moore blieb der Mund offen stehen. »Tausend. Soll das ein Witz sein?«
»Es waren schon mal erheblich mehr.«
 
Als sie von Lincoln aus ihren langen Marsch nach Süden angetreten hatten, war Walker City immer noch mehrere Zehntausend Menschen stark gewesen, obwohl viele Thandie Jones nach Denver gefolgt waren und andere versucht hatten, in Utah Zuflucht zu finden. Auf dem Weg nach Süden hatten sich weitere abgespalten, die meist kleineren Abzweigungen von der Panamericana gefolgt waren und irgendwo eine feste Bleibe gefunden hatten. Doch es hatte auch andere gegeben, die sich der marschierenden Gemeinschaft anschlossen, vertriebene oder einfach nur unglückliche Menschen, die inmitten dieses Wanderarbeiter-Exodus eine Art Ordnung suchten.
Viele waren geboren worden, viele waren gestorben. Im Lauf der Jahre war die Gesamtzahl allmählich geschrumpft. Aber sie waren noch immer rund tausend Mann stark, eine mobile Stadt, die vom Bürgermeisteramt aus geleitet wurde, mit Wachleuten, Ärzten und täglichen Dienstplänen, und sie folgten Garys Vision von Project City, einer Enklave auf dem Dach der Welt, wo Platz für sie alle sein würde.
»Ist bestimmt nicht einfach, so viele Leute in dem verdammten Regenwald unterzubringen«, sagte Moore. »Tja, tausend sind mehr, als in mein kleines Boot passen.«
»Das schaffen Sie schon«, erwiderte Domingo. »Immer fünfzig oder hundert auf einmal. So weit ist es ja nicht. Sie können einen Fährdienst einrichten.«
Moores Misstrauen wich der Berechnung. »Ach, zum Teufel, ich würd’s wohl hinkriegen. Aber warum sollte ich’s tun?«
Garys Ton blieb freundlich, seine Miene entspannt. »Wir erwarten keine Wohltätigkeit. Wir bezahlen dafür.«
»Womit denn? Mit Cola light?« Moore lachte.
»Ja«, sagte Gary unbefangen. »Wir haben auch noch andere Sachen. Sonst arbeiten wir eben. Wir sind tausend Leute, wir haben Fähigkeiten und Werkzeug.« Er sah sich um. »Wir könnten euch diesen Platz umbauen. Ihn zukunftsfest machen. Ihr müsst daran denken, was kommen wird. Ich war früher Klimatologe, ich weiß, wovon ich rede. Mit unserer Hilfe hättet ihr eine bessere Chance, den Anstieg des Meeresspiegels zu überleben. Zum Beispiel könnten wir weiter oben - ein-, zweihundert Meter - Kais errichten. So dass ihr für den Moment gerüstet seid, wenn das Meer diese Höhe erreicht.«
Moore wirkte unsicher, ein Ausdruck, der Gary vertraut war; selbst jetzt wollten die Leute nicht an die große Flut glauben. »Meinen Sie wirklich, dass es so weit kommen wird?«
»O ja. Und dafür müssen Sie planen, stimmt’s? Erlauben Sie uns, Ihnen zu helfen.«
Moores Miene wurde wieder berechnend. Er musterte Gary und trat näher an ihn heran, so dass sein Sohn ihn nicht hören konnte. »Ich sage Ihnen, was ich brauche. Frauen. Gattinnen für meine Jungs. Verstehen Sie?« Er warf einen Seitenblick auf Grace. »Ein paar von meinen Jungs sind noch nicht alt genug, aber vielleicht habt ihr ein paar kleine Mädchen übrig, die ihr hier lassen könnt, damit sie sozusagen heranreifen. Überlasst sie uns. Oder wenn das nicht geht« - er drehte die Hand hin und her - »ein bisschen Action. Wir sind hier oben ziemlich isoliert. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Wir betreiben keine Bordelle«, sagte Gary ruhig. »Und wir verkaufen keine Menschen.«
»Mir scheint, ich habe das Boot, das ihr braucht.«
»Und mir scheint«, sagte Domingo mit breitem Lächeln, »wir sind tausend Mann stark, und ihr seid bloß eine Handvoll. Ihr könntet uns drei töten, ihr könntet zehnmal so viele töten, und ihr würdet trotzdem das Leben verlieren. Und euer Boot.«
Moore trat zurück. »So läuft der Hase also? Ihr habt gesagt, ihr wärt ungefährlich.«
»Dann haben wir eben gelogen.«
»Wir sind keine Banditen«, sagte Gary mit fester Stimme. »Wir wollen handeln oder arbeiten, Sam. Wir betrachten uns als Wanderarbeiter.«
»Hatte mal einen Urgroßonkel, der war Wanderarbeiter. Zur Zeit der Depression.«
»Ja. Das ist nichts Unehrenhaftes. Aber der zentrale Punkt ist …«
»Wir haben keine andere Wahl, als weiterzuziehen«, sagte Grace unerwartet. »Wir müssen diese Meerenge überqueren.«
Moore sah sie an. »Und das heißt, ich muss mit euch Geschäfte machen.«
»Sie werden dabei nicht zu kurz kommen«, versprach Gary. »Aber ja, Sie müssen mit uns Geschäfte machen.«
»Tut mir leid, Mann«, sagte Domingo. »Hey, es könnte schlimmer sein.«
Langsam schien Moore die Situation zu akzeptieren. »Na schön. Kommt morgen wieder her, dann reden wir über die Bedingungen und arbeiten einen Plan aus. Und da wäre noch so einiges, was ihr wissen müsst.«
»Zum Beispiel?«
Moore deutete in Richtung Darién. »Hartes Land da drüben. War schon immer so. Jetzt gibt’s da Eingeborene, Paramilitärs und eine Horde Marxisten aus dieser Kommunistengruppe, die den Staatsstreich in Kolumbien inszeniert hat. Ihr wollt doch sicher nicht ins Kreuzfeuer geraten.«
»Ich verstehe. Wir werden für jede Hilfe bezahlen, die Sie uns leisten können.«
»In Ordnung. Morgen.« Moore und sein Sohn drehten sich um und gingen zum Ruderboot zurück.
 
Gary blies die Wangen auf. »Ich hasse diesen ewigen Kuhhandel, Domingo.«
»Du bist gut darin, Mann. Hey, niemand ist heute erschossen worden. Das ist doch schon mal was!«
Gary sah auf die Meerenge hinaus, auf das einzelne Boot, das an dem im Wasser stehenden Baum vertäut war. »Panama gibt’s nicht mehr. Wisst ihr, manche Geologen haben gesagt, die Bildung des Isthmus sei das wichtigste geologische Ereignis seit dem Ende der Dinosaurier gewesen. Dadurch hat sich das Muster der Meeresströmungen weltweit verändert. Statt der alten äquatorialen Strömungen, durch die das Wasser zwischen Atlantik und Pazifik ausgetauscht wurde, gab es fortan gewaltige Ströme zwischen den Polen. Es bildeten sich Eiskappen, und die Eiszeit begann. Ohne dieses kältere Klima, das uns aus den Wäldern auf die Savanne getrieben hat, gäbe es die Menschheit wahrscheinlich gar nicht. Alles wegen eines winzigen Stückchens Land. Jetzt ist es wieder versunken - und alles wird sich verändern.«
Grace sah ihn nur verständnislos an.
Und Domingo interessierte sich nicht die Bohne für globale Meeresströmungen. »Ich hoffe, sie nehmen die Mädchen und lassen uns die Cola«, knurrte er. »Ich mag das Zeug und will nicht, dass alles weggegeben wird. Ist es eine Sünde, sich so was zu wünschen?«
Sie stiegen wieder zur Baumreihe hinauf, in die relative Kühle des Waldes.
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
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