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Sie wurden vom Boot aus angerufen. »Wie viele seid
ihr?«
Gary warf Domingo einen Blick zu. »Amerikanischer
Akzent. Florida vielleicht?«
»Könnte sein.«
Gary formte die Hände zu einem Trichter und rief
zurück: »Wir sind zu dritt hier. Andere im Wald.«
Eine Pause. Dann: »Ich habe von hier aus meine
Waffe auf euch gerichtet. Und ein paar meiner Jungs sind über euch,
die haben euch von hinten im Visier. Kapiert?«
»Kapiert.«
So war es immer - bestenfalls -, wenn man auf
Fremde traf. Eine Demonstration der Stärke, Imponiergehabe mit
Waffen und Kriegern, die existieren mochten oder auch nicht. An
einem schlechten Tag flogen einem Kugeln um die Ohren, bevor man
überhaupt merkte, dass jemand da war.
»Und was wollt ihr?«
Jetzt antwortete Domingo. »Eine Überfahrt. Über die
Kanalzone, nach Darién.«
»Wir sind bloß auf der Durchreise«, rief Gary. »Wir
wollen nach Peru.«
»Peru, hm.«
»Ja. Wir haben nicht vor, hier zu bleiben.«
Diesmal folgte eine längere Pause. Dann sah Gary,
wie ein
Ruderboot an Seilen mit einer Winde zu Wasser gelassen wurde. »Ich
komme rüber, um die Sache mit euch zu besprechen. Vergesst nicht,
ich habe euch im Visier. Das hier ist mein Land, und ich kenne es
verdammt noch mal viel besser als ihr.«
Gary breitete die Hände aus. »Wir sind
ungefährlich.«
Zwei Männer kletterten über eine Strickleiter ins
Boot hinunter. Einer bewegte sich ein wenig steifer als der andere.
Sie legten die wenigen Hundert Meter bis zum Ufer mit energischen
Ruderzügen zurück. Gary, Grace und Domingo gingen den Hang hinab
und am Ufersaum entlang zu der Stelle, wo das Boot anlegen würde.
Sie war von Baumstümpfen und verrottendem Holz befreit worden,
damit man dort anlanden konnte.
Die beiden Männer im Boot sahen sich ähnlich. Beide
waren schwarz, korpulent, mit kantigem Gesicht; sie trugen robust
aussehende Jeans, Jacken und abgewetzte, vom Salz ausgebleichte
Mützen. Der Ältere hatte eine runzlig-finstere Miene aufgesetzt.
Der andere, jünger und nervöser, hatte ein offenes Gesicht und
große Augen. Vater und Sohn, vermutete Gary. Der Vater schien
unbewaffnet zu sein, aber der Sohn hatte irgendeine
Schnellfeuerwaffe, und er blieb ein Stück zurück, außer Reichweite
der Neuankömmlinge. Er hielt die Mündung zu Boden gerichtet.
Gary trat mit ausgestreckter Hand vor. »Gary Boyle
ist mein Name.«
Der ältere Mann ergriff seine Hand und schüttelte
sie. »Sam Moore. Mein Junge, Tom.«
Der Junge nickte.
Domingo fingerte vorsichtig an den Riemen seines
Rucksacks herum. »Darf ich? Ich habe Geschenke.«
Moores Blick verfinsterte sich noch mehr, und der
Junge schwenkte die automatische Waffe herum. Aber sie erlaubten
Domingo, den Rucksack abzunehmen. Er holte zwei Dosen Cola light
heraus, das Standardgeschenk der Wanderer für Amerikaner. »Ein
Zeichen der Freundschaft«, sagte er.
Moore war immer noch wachsam, doch er nahm eine
Dose und gab die andere seinem Sohn. »Verdammt, dieses Zeug hab ich
schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie alt ist das?«
»In Denver stellen sie’s immer noch her«, sagte
Gary.
»Ehrlich.« Moore riss die Dose auf und horchte auf
das Zischen der Kohlensäure. »Muss richtig kalt sein.« Er trank
einen großen Schluck.
Der Junge fummelte an der Lasche herum, schüttete
sich etwas von der Cola ins Gesicht, als er aus der Dose zu trinken
versuchte, und blickte missmutig drein.
Moore hatte seine Dose geleert. »Scheiße, tut das
gut.« Er zerknüllte die Dose mit einer Hand und warf sie ins
Wasser. »So viel zum Thema ›Rettet den Planeten‹! Erinnert ihr euch
noch daran? Geschenke, hm. Also, Gary Boyle, wer seid ihr und was
wollt ihr?«
Gary erklärte, sie seien Kundschafter einer
Nomadengruppe. »Die anderen sind noch im Wald.«
»Ihr seid zu Fuß unterwegs.«
»Ja, abgesehen von Schubkarren, Handwagen und
dergleichen.«
»Kommt ihr von weither?«
Gary warf Grace einen Blick zu. »Kommt darauf an,
was man als Startpunkt nimmt. Ich würde sagen, von Lincoln,
Nebraska. Seither sind wir nach Süden gegangen.«
Moore stieß einen Pfiff aus. »Bis nach Peru,
stimmt’s? Auf dem Rückgrat Amerikas entlang.«
»So ist es gedacht.«
»In meiner Jugend bin ich mal von Laredo, Texas,
aus die Panamericana entlanggefahren, durch Mittel- und Südamerika
bis nach Paraguay. Höllischer Trip. Und die einzige Strecke, wo wir
laufen mussten, war da hinten.« Moore deutete mit dem Daumen über
die Meerenge. »Der Darién-Gap, achtzig Kilometer Dschungel. So
war’s damals, und so ist es jetzt auch noch. Aber ich kannte das
Land, bin hier aufgewachsen. Auf der anderen Seite haben wir einen
Wagen gemietet und sind nach Kolumbien reingefahren.«
»Die Panamericana steht jetzt zum größten Teil
unter Wasser«, sagte Domingo. »Wir mussten ihr auf höher gelegenem
Gelände folgen. War gar nicht so einfach.«
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Gary. »Sie sagen, Sie
sind hier aufgewachsen?«
»Ja. Mein Großvater war Schiffsmakler in der
Kanalzone. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe selbst
auf dem Kanal gearbeitet. Aber zwanzig-null-null sind wir nach
Florida gezogen, als die Souveränität über den Kanal an Panama
zurückgefallen ist. Dann bin ich mit einem Arbeitsvertrag
wiedergekommen, und es war nicht so schlecht, wie jeder geglaubt
hatte, wenn die Einheimischen das Sagen haben würden, und
schließlich habe ich mich wieder hier niedergelassen.« Moore drehte
sich um. »Tom, hol diesen Leuten ein bisschen Wasser.«
Tom sah die Neuankömmlinge skeptisch an. Aber er
ging zum Boot, die Automatik locker in einer Hand, und kam mit
einem Bündel Feldflaschen an Umhängebändern zurück,
die er Gary gab. Gary teilte sie aus und trank dankbar einen
Schluck sauber schmeckendes Wasser.
»Und als die Flut kam, seid ihr hiergeblieben«,
sagte Grace.
»Konnten ja nirgends anders hin. Meine Familie und
ich, wir sind hier zu Hause. Als das Meer über die unteren
Schleusen gestiegen ist und der Kanal im Eimer war, sind die
Panamesen einfach abgehauen. Er hätte noch lange danach
funktionsfähig erhalten werden können, aber nachdem er einmal
aufgegeben worden war und nicht mehr gewartet wurde, hat’s nicht
lange gedauert, bis er endgültig draufgegangen ist.« Moore zeigte
über die Schulter auf das Gebiet von Darién. »Großer Staudamm da
oben namens Madden, hat den Fluss Chagres gestaut und den alten
Alajuela-See geschaffen. Als der Madden-Damm brach, ist ein
richtiger Sturzbach durchs Tal geschossen und in den Gatún
geströmt.« Er deutete auf eine Landschaft, die jetzt überflutet
war. »Der Gatún hat seine Schleusen überflutet, sie unterminiert
und schließlich seinen eigenen Damm auf der atlantischen Seite
durchbrochen. Dann ist der Chagres durch die Trümmer gestrudelt und
hat sich seinen alten Weg zurück ins Meer gesucht, auf der
pazifischen Seite. Aber das Meer ist noch weiter gestiegen und hat
alles bedeckt. Jetzt erkennt man gar nicht mehr, dass der Kanal
jemals dort war. Eine verdammte Schande! Wir mussten immer hart
arbeiten, damit der Dschungel ihn nicht zurückerobert. Der Kanal
war eine Wunde in der Erde, die sich immer zu schließen versuchte,
hat mein Daddy gesagt.«
»Und jetzt lebt ihr von eurem Boot?«
»Wir fischen. Ich und meine Familie, meine Jungs.«
Moores Augen wurden schmal; er war immer noch misstrauisch. »Es
gibt eine ganze Menge von uns, überall an dieser Küstenlinie.
Boote, Flöße, Häuser an der Küste. Wir passen aufeinander
auf.«
»Das glaube ich gern.«
»Also, was wollt ihr? Eine Überfahrt zur anderen
Seite der Meerenge?«
»Ja, wenn sich das machen lässt. Aber wir sind auch
eine ganze Menge.«
Wieder dieses misstrauische Stirnrunzeln. »Wie
viele?«
»Tausend.«
Moore blieb der Mund offen stehen. »Tausend.
Soll das ein Witz sein?«
»Es waren schon mal erheblich mehr.«
Als sie von Lincoln aus ihren langen Marsch nach
Süden angetreten hatten, war Walker City immer noch mehrere
Zehntausend Menschen stark gewesen, obwohl viele Thandie Jones nach
Denver gefolgt waren und andere versucht hatten, in Utah Zuflucht
zu finden. Auf dem Weg nach Süden hatten sich weitere abgespalten,
die meist kleineren Abzweigungen von der Panamericana gefolgt waren
und irgendwo eine feste Bleibe gefunden hatten. Doch es hatte auch
andere gegeben, die sich der marschierenden Gemeinschaft
anschlossen, vertriebene oder einfach nur unglückliche Menschen,
die inmitten dieses Wanderarbeiter-Exodus eine Art Ordnung
suchten.
Viele waren geboren worden, viele waren gestorben.
Im Lauf der Jahre war die Gesamtzahl allmählich geschrumpft. Aber
sie waren noch immer rund tausend Mann stark, eine
mobile Stadt, die vom Bürgermeisteramt aus geleitet wurde, mit
Wachleuten, Ärzten und täglichen Dienstplänen, und sie folgten
Garys Vision von Project City, einer Enklave auf dem Dach der Welt,
wo Platz für sie alle sein würde.
»Ist bestimmt nicht einfach, so viele Leute in dem
verdammten Regenwald unterzubringen«, sagte Moore. »Tja, tausend
sind mehr, als in mein kleines Boot passen.«
»Das schaffen Sie schon«, erwiderte Domingo. »Immer
fünfzig oder hundert auf einmal. So weit ist es ja nicht. Sie
können einen Fährdienst einrichten.«
Moores Misstrauen wich der Berechnung. »Ach, zum
Teufel, ich würd’s wohl hinkriegen. Aber warum sollte ich’s
tun?«
Garys Ton blieb freundlich, seine Miene entspannt.
»Wir erwarten keine Wohltätigkeit. Wir bezahlen dafür.«
»Womit denn? Mit Cola light?« Moore lachte.
»Ja«, sagte Gary unbefangen. »Wir haben auch noch
andere Sachen. Sonst arbeiten wir eben. Wir sind tausend Leute, wir
haben Fähigkeiten und Werkzeug.« Er sah sich um. »Wir könnten euch
diesen Platz umbauen. Ihn zukunftsfest machen. Ihr müsst daran
denken, was kommen wird. Ich war früher Klimatologe, ich weiß,
wovon ich rede. Mit unserer Hilfe hättet ihr eine bessere Chance,
den Anstieg des Meeresspiegels zu überleben. Zum Beispiel könnten
wir weiter oben - ein-, zweihundert Meter - Kais errichten. So dass
ihr für den Moment gerüstet seid, wenn das Meer diese Höhe
erreicht.«
Moore wirkte unsicher, ein Ausdruck, der Gary
vertraut war; selbst jetzt wollten die Leute nicht an die große
Flut glauben. »Meinen Sie wirklich, dass es so weit kommen
wird?«
»O ja. Und dafür müssen Sie planen, stimmt’s?
Erlauben Sie uns, Ihnen zu helfen.«
Moores Miene wurde wieder berechnend. Er musterte
Gary und trat näher an ihn heran, so dass sein Sohn ihn nicht hören
konnte. »Ich sage Ihnen, was ich brauche. Frauen. Gattinnen für
meine Jungs. Verstehen Sie?« Er warf einen Seitenblick auf Grace.
»Ein paar von meinen Jungs sind noch nicht alt genug, aber
vielleicht habt ihr ein paar kleine Mädchen übrig, die ihr hier
lassen könnt, damit sie sozusagen heranreifen. Überlasst sie uns.
Oder wenn das nicht geht« - er drehte die Hand hin und her - »ein
bisschen Action. Wir sind hier oben ziemlich isoliert. Verstehen
Sie, was ich meine?«
»Wir betreiben keine Bordelle«, sagte Gary ruhig.
»Und wir verkaufen keine Menschen.«
»Mir scheint, ich habe das Boot, das ihr
braucht.«
»Und mir scheint«, sagte Domingo mit breitem
Lächeln, »wir sind tausend Mann stark, und ihr seid bloß eine
Handvoll. Ihr könntet uns drei töten, ihr könntet zehnmal so viele
töten, und ihr würdet trotzdem das Leben verlieren. Und euer
Boot.«
Moore trat zurück. »So läuft der Hase also? Ihr
habt gesagt, ihr wärt ungefährlich.«
»Dann haben wir eben gelogen.«
»Wir sind keine Banditen«, sagte Gary mit fester
Stimme. »Wir wollen handeln oder arbeiten, Sam. Wir betrachten uns
als Wanderarbeiter.«
»Hatte mal einen Urgroßonkel, der war
Wanderarbeiter. Zur Zeit der Depression.«
»Ja. Das ist nichts Unehrenhaftes. Aber der
zentrale Punkt ist …«
»Wir haben keine andere Wahl, als weiterzuziehen«,
sagte Grace unerwartet. »Wir müssen diese Meerenge
überqueren.«
Moore sah sie an. »Und das heißt, ich muss mit euch
Geschäfte machen.«
»Sie werden dabei nicht zu kurz kommen«, versprach
Gary. »Aber ja, Sie müssen mit uns Geschäfte machen.«
»Tut mir leid, Mann«, sagte Domingo. »Hey, es
könnte schlimmer sein.«
Langsam schien Moore die Situation zu akzeptieren.
»Na schön. Kommt morgen wieder her, dann reden wir über die
Bedingungen und arbeiten einen Plan aus. Und da wäre noch so
einiges, was ihr wissen müsst.«
»Zum Beispiel?«
Moore deutete in Richtung Darién. »Hartes Land da
drüben. War schon immer so. Jetzt gibt’s da Eingeborene,
Paramilitärs und eine Horde Marxisten aus dieser Kommunistengruppe,
die den Staatsstreich in Kolumbien inszeniert hat. Ihr wollt doch
sicher nicht ins Kreuzfeuer geraten.«
»Ich verstehe. Wir werden für jede Hilfe bezahlen,
die Sie uns leisten können.«
»In Ordnung. Morgen.« Moore und sein Sohn drehten
sich um und gingen zum Ruderboot zurück.
Gary blies die Wangen auf. »Ich hasse diesen
ewigen Kuhhandel, Domingo.«
»Du bist gut darin, Mann. Hey, niemand ist heute
erschossen worden. Das ist doch schon mal was!«
Gary sah auf die Meerenge hinaus, auf das einzelne
Boot, das an dem im Wasser stehenden Baum vertäut war. »Panama
gibt’s nicht mehr. Wisst ihr, manche Geologen haben gesagt, die
Bildung des Isthmus sei das wichtigste geologische Ereignis seit
dem Ende der Dinosaurier gewesen. Dadurch hat sich das Muster der
Meeresströmungen weltweit verändert. Statt der alten äquatorialen
Strömungen, durch die das Wasser zwischen Atlantik und Pazifik
ausgetauscht wurde, gab es fortan gewaltige Ströme zwischen den
Polen. Es bildeten sich Eiskappen, und die Eiszeit begann. Ohne
dieses kältere Klima, das uns aus den Wäldern auf die Savanne
getrieben hat, gäbe es die Menschheit wahrscheinlich gar nicht.
Alles wegen eines winzigen Stückchens Land. Jetzt ist es wieder
versunken - und alles wird sich verändern.«
Grace sah ihn nur verständnislos an.
Und Domingo interessierte sich nicht die Bohne für
globale Meeresströmungen. »Ich hoffe, sie nehmen die Mädchen und
lassen uns die Cola«, knurrte er. »Ich mag das Zeug und will nicht,
dass alles weggegeben wird. Ist es eine Sünde, sich so was zu
wünschen?«
Sie stiegen wieder zur Baumreihe hinauf, in die
relative Kühle des Waldes.