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JUNI 2035
Der AxysCorp-Hubschrauber sank aus einem
aufgewühlten Himmel nieder. Auf dem Nazca-Floß war ein Landeplatz
für ihn bereit, gekennzeichnet mit leuchtend gelber Farbe auf einer
vollgepackten Fläche, die sich sanft hob und senkte. Der Chopper
setzte behutsam auf. Lily, die vom Floß aus zusah, wusste, dass die
Piloten des Unternehmens mit ihren Maschinen nur ungern auf den
Stadtflößen landeten, und diesen Widerwillen merkte man ihrer
Flugweise an.
Sobald der Motor erstarb, stieg Juan Villegas aus
und ging geduckt unter den langsamer werdenden Rotorblättern
hindurch. Er zog eine Kiste hinter sich her. Der Pilot,
insektenhaft hinter seiner Sonnenbrille, blieb in der Sicherheit
der glänzenden Blase seines Cockpits sitzen; er löste nicht einmal
seinen Gurt. Lily lief mit gesenktem Kopf herbei und half Juan mit
der Kiste. Villegas stolperte auf der schwankenden Fläche. Die
Kiste war nicht schwer, aber klobig und unhandlich. Zusammen
gelangten sie zum Rand des Helipads, zwei ältere Leute, dachte
Lily, die ihr Gepäck über diese unebene, schaukelnde Fläche aus
Plastikplanen zogen.
»Danke«, sagte Villegas mit Nachdruck. »Ich hatte
nicht erwartet, dass der Boden so wackelig sein würde.«
»Sie machen das ganz gut«, erwiderte Lily, und sie
meinte
es auch so. Er war jetzt siebenundfünfzig, nur ein paar Jahre
jünger als sie. Von der seidigen Schwärze, die seinem Haar einst
Glanz verliehen hatte, war nur noch wenig übrig, und anstelle eines
eleganten Anzugs trug er einen AxysCorp-Overall, der so abgewetzt
und häufig geflickt war wie Lilys eigener. Aber er war immer noch
ein gut aussehender Bursche, dachte sie mit einem seltenen Anflug
von Eifersucht. »Immerhin sind Sie hier. Viele Leute aus Project
City weigern sich, einen Fuß auf die Stadtflöße zu setzen.«
Er nickte. »Ich weiß. Sagen Sie das meinem
Piloten.« Das Floß hob sich erneut, und sie taumelten beide; Lily
hätte die Kiste beinahe losgelassen. »Der Sturm kommt«, sagte
Villegas. Er blickte nervös nach Westen, auf den Pazifik hinaus.
»Wir konnten die schwarze Wolkendecke vom Hubschrauber aus sehen.
Die Wettervorhersagen kündigen ihn schon seit Tagen an. Und wenn
die Sturmflut kommt, ist es aus mit Nazca. Sind Sie wirklich
sicher, dass das Floß hält?«
»So sicher, wie ich nur sein kann. Marias Hütte ist
gleich da drüben - Maria Ramos ist die Bürgermeisterin. Wir bringen
die Sachen am besten dorthin.«
»Ich bin ganz in Ihrer Hand.«
Sie kämpften sich weiter vorwärts.
Lily war am Bau des Floßes beteiligt gewesen, sie
hatte ein Team von AxysCorp-Technikern geleitet. Das Gerippe des
Floßes war auf einer großen freien Fläche im Herzen der alten Stadt
auf Stapel gelegt worden; die Grundelemente - Pontons aus Reifen
und Ölfässern - wurden mit einem Netz von Trägern überzogen, die
aus zerstörten Häusern stammten, und dann mit Plastikplanen und
imprägniertem Wellblech
abgedeckt, lauter nicht abbaubaren Materialien. Mit Zeltschnüren
befestigte Baracken und Hütten aus Abfallteilen drängten sich auf
dem breiten Rücken des Floßes wie Frösche, die sich an einen
Baumstamm klammerten. Eine Rotkreuz-Fahne flatterte über einem
größeren Gebäude, der Krankenstation, und es gab auch einige hoch
aufragende, technisch anspruchsvollere Konstruktionen, wie einen
Sendemast, Antennen und eine Windturbine.
Als sie das Projekt vor zwei Jahren in Angriff
genommen hatten, war das Meer noch weit entfernt gewesen; seine
Wellen hatten sich tief unterhalb von Nazca gebrochen. Es schien
absurd, ein Floß so hoch über dem Wasser zu bauen. Doch nach
zwanzig Flutjahren näherte sich der Meeresspiegel einem Pegel von
rund achthundert Metern über dem alten Normalnull, ja er stieg
derzeit mit verblüffenden hundert Metern pro Jahr. Und
plötzlich war das Wasser da, schlängelte sich selbst in diese
Gebirgsregion hinein und fing mit seiner gewaltigen, unerbittlichen
Kraft an, das Floß aus der Stadt emporzuheben, in der es das Licht
der Welt erblickt hatte. In dem übervölkerten Ort brach Hektik aus,
als die letzte Evakuierung nahte. Menschen eilten überallhin,
beladen mit Matratzen, Laken und Decken, Kleiderbündeln, Körben
voller Nahrung, Töpfen und Pfannen, Möbelstücken, Seilballen,
Drahtrollen, Spaten und Hacken, mit allem, was in den langen
kommenden Jahren, in denen das Floß auf der Meeresoberfläche
treiben würde, nützlich sein konnte …
Sie fanden Maria Ramos’ Unterkunft und setzten die
Kiste ab. Lily trat an die primitive Tür. »Maria? Hier ist Lily.
Wir haben die AxysCorp-Ausrüstung für Sie.«
Während sie warteten, musterte Villegas neugierig
die vom Floß getragene Behausung. Die Residenz der Bürgermeisterin
war eine von vielen Wellblechhütten mit Türen, die aus irgendeinem
verlassenen Gebäude stammten. Die Hühner und Schweine in ihren
Kunststoffgitterkäfigen waren unruhig. Auf dem Dach hatte man
Schüsseln festgebunden, um Regenwasser aufzufangen. Menschen eilten
hin und her, Erwachsene und Kinder, die hier wie überall anders
auch Sachen abluden. Undeutlich erkannte Lily Marias erwachsene
Kinder und Enkelkinder. Sie arbeitete seit Jahren mit dieser Frau
zusammen.
Ein Kind lief ihnen über den Weg, und Villegas
schreckte zusammen. Es war ein Mädchen, nicht älter als fünf Jahre,
aber es trug einen Weidenkorb voller Kleider auf dem Kopf. Es gab
viele, viele Kinder hier, Kleinkinder, Säuglinge in Tragegestellen
auf dem Rücken ihrer Eltern.
»Nathan wird enttäuscht sein, dass seine
Geburtenkontrollprogramme und Predigten zur freiwilligen
Beschränkung keine Wirkung zeigen«, sagte Villegas.
Lily brummte. »Wenn der Mensch in Gefahr ist,
übernehmen offenbar tiefer sitzende Triebe das Kommando.«
»Ja, vermutlich. Wie es heißt, kommt es nach jedem
Krieg zu einem starken Bevölkerungswachstum. Und was ist dies
anderes als eine Welt im Krieg? Nathan sollte mehr Angehörige
seines inneren Zirkels auffordern, ihre Hightech-Festung zu
verlassen und sich mal genauer anzusehen, was hier draußen wirklich
geschieht.«
Was Juan tat - das musste sie ihm lassen. Im Lauf
der Jahre hatte Lily Stärken in ihm entdeckt, die sie in dem
dandyhaften Salonlöwen, dem sie anfangs begegnet war, nicht
vermutet hatte. Juan hatte sich immer für eine gewichtige Figur in
seiner Gemeinschaft gehalten, ungeachtet Lammocksons
Schirmherrschaft, und so benahm er sich auch. Und nachdem sein
christlicher Glaube die harsche Neue-Bund-Phase überwunden hatte,
zeigte er sich nun großzügiger. Juan war für Lily ein nützlicher
Verbündeter an Lammocksons Hof geworden, und trotz ihrer
gelegentlichen Anwandlungen von Eifersucht war sie froh, dass er
während der letzten paar Jahre eine Art Stabilität in das ewig
problembeladene Leben ihrer Schwester gebracht hatte.
Maria trat aus ihrer Behausung. Sie trug ein
verblichenes Wollkleid, ihr Gesicht war schmutzig, und sie sah müde
und angespannt aus. »Ihr seid also gekommen«, sagte sie zu
Lily.
»Wie versprochen. Das ist Juan Villegas. Juan,
Maria ist …«
»Ich kenne Sie«, sagte Maria, die ihn prüfend
anschaute. »Sie waren doch damals immer in den Klatschspalten. Ein
Playboy, stimmt’s? Sie haben sich mit Popstars und
Tennisspielerinnen herumgetrieben.« Ihr Englisch war gut, mit einem
leichten Akzent, in dem Spanisch und Quechua anklangen.
Juan zuckte mit den Achseln. Er wirkte verlegen.
»Das war vor langer Zeit. In einer anderen Welt.«
»Ja, das stimmt. Aber Sie haben sie offenbar
überlebt, nicht wahr?«
»So wie Sie«, sagte er sanft.
Eine Brise pfiff zwischen den Zeltschnüren
hindurch, und erste Regentropfen klatschten auf die Plastikplane
unter ihren Füßen. Sie blickten nach Westen, wo es für einen kurzen
Moment heller wurde; die Sonne versuchte, durch die
Sturmwolken zu brechen. Maria strich sich eine einzelne Locke
grauschwarzer Haare aus der Stirn, und als sich das Licht auf ihrem
Gesicht fing, war diese fünfzigjährige Frau schön, fand Lily; trotz
ihres christlichen Namens hatte sie etwas von einer mestiza.
Doch ihre Augen waren schwarz vor Anspannung, die vollen Lippen
geschürzt.
Lily hatte das überall in den Anden gesehen. Maria
gehörte zu einer Generation, die bereits eine große Verwerfung
erlebt hatte. Als junge Frau aus Lima vertrieben, war sie
hierhergekommen, um sich ein neues Zuhause aufzubauen, und hatte
ein halbes Leben voller Schinderei bei der Urbarmachung neuen
Landes ertragen. Nun rollte das Meer über Farmen hinweg, die erst
wenige Jahre zuvor eingerichtet worden waren, und Maria musste
erneut alles aufgeben. Das war für die Menschen nur schwer zu
ertragen. Ältere Leute waren erschöpft und fühlten sich
außerstande, eine weitere Entwurzelung durchzustehen. Den Jungen
wiederum gefiel es nicht, dass sie aus dem einzigen Zuhause
vertrieben wurden, das sie kannten, und sie warfen den Alten die
Verschwendungssucht vor, die diese globale Erschütterung ausgelöst
haben mochte. Während das gewaltige Werk der Evakuierung seinen
Fortgang nahm, gab es Familienstreitigkeiten, Scheidungen, Morde
und Selbstmorde.
»Der Sturm kommt«, sagte Maria. »Ihr solltet lieber
abfliegen, bevor er zuschlägt.«
Lily fühlte sich durch diese kurze, schroffe
Verabschiedung verletzt. »Wir haben euch das übliche AxysCorp-Paket
gebracht. Solarbetriebene Funkausrüstung mit Ersatzgeräten. Ein
Programmpaket für die GPS-Navigation. Fünfzig Handys …« Alles
Produkte der Hightech-Fabriken von Project
City, Geräte, bei deren Konstruktion man besonderen Wert auf
Robustheit und Langlebigkeit gelegt hatte, obwohl viele davon aus
den Komponenten geborgener älterer Geräte bestanden. Dies war
Nathan Lammocksons Standardgeschenk an alle neuen
Floßgemeinschaften, eine Methode, mit ihnen in Kontakt zu bleiben
und vielleicht ein gewisses Maß an Kontrolle zu bewahren.
Maria warf einen Blick auf die Kiste. »Danke«,
sagte sie ausdruckslos.
»Ich hoffe, wir bleiben in Verbindung, Maria. Es
gibt einen Hubschrauberdienst. Für Notfälle, oder wenn Project City
euch mit medizinischem Bedarf helfen kann …«
»Dieses Floß hätte ohne den Rat eurer Techniker
nicht gebaut werden können, Lily«, gab Maria zu. »Aber wir sollten
einander nicht anlügen. AxysCorp ermutigt von der Flut bedrohte
Gemeinschaften, Flöße zu bauen, weil wir sonst alle Flüchtlinge
werden und wie eine menschliche Flut aus den Tälern aufsteigen
würden. Und was geschähe dann?«
»Aber Maria, ihr wisst doch, wie die Dinge stehen.
Die theoretische ökologische Tragfähigkeit der Hochlagen ist
bereits überschritten. Wir müssen andere Lösungen finden.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber ist dort wirklich kein
Platz für eine einzige weitere Stadt, eine einzige weitere Familie
- ein einziges weiteres Kind?«
»Wir müssen alle unsere Entscheidungen treffen«,
sagte Villegas.
Maria zuckte mit den Achseln. »In der Tat, das
müssen wir.« Eine weitere Windbö, weitere Regentropfen. Das goldene
Licht verblasste, Wolken rasten über sie hinweg, und erneut
schwankte das Floß unruhig unter ihren Füßen.
Villegas warf Lily einen Blick zu. »Vielleicht
täten wir gut daran, uns auf den Rückweg zu machen, bevor der Pilot
die Nerven verliert und ohne uns abfliegt.«
»Geht, geht«, sagte Maria und kehrte ihnen den
Rücken zu.
Das Floß wogte jetzt unablässig; Villegas
stolperte über ein Plastikseil und fiel hin. Die Nazcaner rannten
herum, holten Kinder ins Haus und banden die letzten losen
Ausrüstungsteile fest. Als sie den Hubschrauber erreichten, wehte
ein stürmischer Wind, und es regnete heftig. Die Rotorblätter
drehten sich bereits, und der Pilot in seinem regengestreiften
Cockpit gab ihnen ein Zeichen, sich zu beeilen.
Sobald Villegas die Tür geschlossen hatte, brachte
der Pilot seinen Motor auf Touren, und der Chopper hob ab. Nach dem
kraftvollen Wogen des Floßes wurden sie nun noch heftiger
geschüttelt, als die Flügel des Hubschraubers in die turbulente,
stürmische Luft griffen.
Die Maschine senkte die Nase, bog nordwärts ab, und
Lily blickte auf das Nazca-Floß hinunter. Es war eine klapprige
Insel, die sich inmitten der Dächer und überschwemmten Straßen
dieser sonnengebleichten alten Kolonialstadt erhob, übersät von
Hütten und Windturbinen, und auf jedem flachen Dach glänzten
Regenwassereimer und -kübel. Mitten auf dem Floß hatte man auf
einem Steinbett Mutterboden ausgebreitet, ein blassbrauner Klecks,
aus dem eine schwimmende Farm werden würde. Fast alle Bestandteile
des Floßes stammten noch aus der Zeit vor der Flut, überlegte Lily,
überschüssiger, alterungsbeständiger Schrott, den man jetzt
zusammengeschnürt hatte, um diese neue Heimat zu erschaffen,
die wie ein Traum über das untergehende Nazca emporstieg.
Dann kam die Sturmflut. Hohe Wellen brandeten von
Westen heran, und das Floß hob und senkte sich. Lily sah, wie Seile
rissen, wie Teile der Konstruktion zersplitterten und sich
voneinander lösten, wie Menschen umherrannten, um hastige
Reparaturen vorzunehmen. Doch der Hubschrauber schoss nach Norden,
und das Floß und die versinkende Stadt blieben hinter ihr
zurück.
Der Pilot fand ruhigere Luft, und seine Zuversicht
schien zu steigen. Nach ein paar Minuten zeigte er nach unten.
»Letzte Chance, das zu sehen«, rief er nach hinten.
Lily blickte hinunter. Rund fünfundzwanzig
Kilometer nördlich von Nazca flogen sie auf der Flucht vor dem
Sturm über eine Ebene hinweg, die einst trocken und öde gewesen
sein musste, jetzt jedoch von grauem Meerwasser überspült
wurde.
Villegas beugte sich über sie, um hinabzuschauen.
»Die Nazca-Linien. Sie sind aus der Luft entdeckt worden, weißt du.
Hast du sie schon einmal gesehen?«
»Ich habe mich ein paarmal von Nathan hier oben
herumfliegen lassen.«
Dies war die Pampa, einst eine der trockensten
Wüsten der Welt. Sie war ein riesiges Malbuch für die Angehörigen
des uralten Volkes gewesen, das hier gelebt hatte, und ihre
Kritzeleien, entstanden durch die Freilegung der helleren Erde
unter der obersten Gesteinsschicht, waren durch die enorme
Trockenheit bewahrt worden. Doch jetzt war nichts mehr von den
seltsamen, jahrtausendealten geometrischen Zeichen im Erdboden der
Hochebene zu sehen, von dem Affen,
der Spinne, der Blume und den kunstvollen Vögeln - das salzige
Meerwasser hatte alles ausgelöscht.
»Ein weiterer Schatz der Menschheit verloren«,
sagte Villegas ohne jede Gefühlsregung.
Der Hubschrauber stieg noch höher. Als Lily nach
Süden und Westen zurückblickte, sah sie den vom Sturm gepeitschten
Pazifik gegen die Andenausläufer branden. Doch im Norden und Osten
sah sie ebenfalls Meer, eine ruhigere, stahlgraue Wasserfläche, die
vom Atlantik her über den Kontinent vorgedrungen war und jetzt
gegen die Berge plätscherte. Pazifik und Atlantik, beide mit einem
Blick zu sehen. Und überall an den neuen Uferlinien im Osten und
Westen der Berge scharten sich die Flöße zusammen, wie Geister der
Städte unter dem Wasser.
Juan Villegas lehnte sich in seinen Sitz zurück und
schloss die Augen.