43
Die Gruppe durchquerte den Kaukasus in nördlicher und östlicher Richtung und umfuhr die Ausläufer der Berge. Dann ging es durch eine Steppe aus sandigem Lehm zum Ufer des Kaspischen Meeres hinunter, bis sie das untere Wolga-Tal erreichten.
Sie blieben einen Tag in Astrachan, einer Küstenstadt in der Nähe der Grenze zu Kasachstan, die sich über das Wolga-Delta ausbreitete und elf Inseln umspannte. Das vom Weltmeer abgeschnittene Kaspische Meer war noch nicht gestiegen, und die Anrainerstaaten waren bisher von den Überschwemmungen verschont geblieben, die es anderswo gegeben hatte. Gary und die anderen mutete es seltsam an, in der Stadt herumzulaufen und die Kathedrale, den Kreml, die Brücken zu sehen, die alle auf unheimliche Weise unversehrt waren, als hätte sich in der Welt nicht das Geringste verändert. Aber die meisten Bewohner hatten die Stadt verlassen, und sie begegneten mehr Soldaten als Zivilisten. Die russischen Behörden wussten, dass die ozeanische Transgression unmittelbar bevorstand, und hatten alle verfügbaren Vorsichtsmaßnahmen getroffen.
Die Wissenschaftler teilten sich auf, um die Inkursion aus verschiedenen Blickwinkeln beobachten zu können. Einige von ihnen, darunter Sanjay und Elena, blieben in Astrachan. Die anderen reisten in Zweier- oder Dreiergruppen von Astrachan aus in verschiedene Richtungen, das Flusstal hinauf oder zu mehreren Beobachtungsposten am Nordufer des Kaspischen Meeres, wo einige Tausend Quadratkilometer des Küstengebiets unter dem alten Meeresspiegel lagen, ein großer Tieflandstreifen, der sich um die Küste herumzog und etwa hundertfünfzig Kilometer weit ins Landesinnere erstreckte.
Gary und Thandie bildeten eine Zweiergruppe. Sie schlugen ihr Lager am Ufer auf, nah bei einem sandigen, leeren Strand. Dort warteten sie auf den vorhergesagten Durchbruch.
Tage vergingen. Das Wetter war gut, und sie schwammen in dem landumschlossenen Meer, aber es war von Industrieabfällen und Öl verschmutzt. Draußen auf dem Wasser konnten sie sogar Bohrinseln sehen, triste Gebilde, die schwimmenden Fabriken glichen.
Sie arbeiteten. Sie hatten ihre Laptops und Satellitenverbindungen, und sie sprachen mit ihren Kolleginnen und Kollegen, die sich an der Meeresküste und im Flusstal verteilt hatten. Sie hielten eine Reihe virtueller »Kaminrunden« ab, bei denen die Forscher einander Webcambilder ihrer Lagerfeuer schickten.
Nach ein paar Tagen gesellten sich weitere Beobachter in Zelten und Mobilheimen zu ihnen. Nur wenige sprachen Englisch; keiner schien Wissenschaftler zu sein. »Katastrophentouristen«, sagte Thandie abfällig.
»Wie wir«, erwiderte Gary.
Nachts redeten sie über ihr Leben, über Garys Gefangenschaft, Thandies Ambitionen, ihre gemeinsamen Erinnerungen und Freunde. Nach ein paar Tagen wagte es Gary in der Dunkelheit des Zeltes, als sie gerade beim Einschlafen waren, auf Elena Artemowa und das Bad bei Krasnaya Polyana zu sprechen zu kommen.
»Ich bin bisexuell, wenn du’s wissen willst«, sagte Thandie. »Aber auf dich steh ich nicht. Tut mir leid.«
»Ist schon okay. Aber Elena hat etwas, findest du nicht?«
Thandie schnaubte. »Was, dicke Titten?«
»Nein. Diese Traurigkeit, die man in ihr sieht. Sie erinnert mich an Piers Michaelmas in seinen dunklen Tagen. Ich möchte sie zum Lächeln bringen. Klingt das dumm?«
»Nein. Mir geht’s nämlich genauso.«
»Gut. Ganz im Ernst.« Gary dachte an das Baby, das sie verloren hatte, und verspürte ein warmes Gefühl. »Wenn du mit Elena glücklich wirst …«
»Halt die Klappe, Boyle.«
»Okay.«
Sie drifteten in den Schlaf und dachten dabei beide an Elena, die vielleicht an sie beide oder - was wusste Gary schon - an keinen von ihnen dachte.
 
Am vierten Morgen wurden sie von einem fernen Brausen geweckt. Als sie aus dem Zelt kletterten, standen die Schaulustigen schon am Ufer, Ferngläser in der Hand.
Sanjay meldete sich aufgeregt mit Webcambildern; er musste ein wasserfallartiges Tosen überschreien. »Es ist durchgebrochen! Wir haben euch schlafen lassen, weil wir dachten, ihr würdet das Geräusch gern erst mal mit eigenen Ohren hören. Es war ein Sturm im Schwarzen Meer …« Das steigende Wasser des Schwarzen Meeres, vom Weltmeer übers Mittelmeer und das Marmarameer gespeist, hatte die Kaukasus-Barriere endlich an ihrem schwächsten Punkt im Norden durchbrochen, sich seinen Weg durchs Don-Tal gebahnt, Wolgograd überflutet und war dann das Wolga-Tal entlang nach Astrachan geströmt. »Die ganze verdammte Stadt steht schon unter Wasser. Es ist unglaublich!«
Das Donnern ging weiter. Es klang wie ein weit entfernter Krieg.
Thandie checkte ihre Daten. »Das Schwarze Meer war ungefähr fünfzig Meter über das alte Normalnull gestiegen, als es den Kaukasus durchbrochen hat. Wohingegen das Kaspische Meer ungefähr siebenundzwanzig Meter unter Normalnull liegt. Das macht siebenundsiebzig Meter Unterschied. Kein Wunder, dass es so verdammt laut ist.«
»Wir müssen uns an die Arbeit machen.«
»Ja. Aber zuerst schauen wir’s uns an.« Aus einem spontanen Impuls heraus nahm Thandie Garys Hand. Sie liefen zum Ufer.
Überall entlang des Küstenstreifens rückte das schmutzige Wasser langsam vor, wie eine auflaufende Flut, und wogte ein wenig, wenn eine Welle sich brach. Sie traten langsam zurück, wobei sie ihre Schritte zählten.
»Bei diesem Tempo wird es pro Tag einen halben Kilometer vorrücken«, sagte Thandie. Sie holte einen Handheld hervor und führte rasch ein paar Berechnungen durch. »Ein vertikaler Anstieg von vielleicht zehn Zentimetern pro Tag
»Es wird also eine Weile dauern, bis das Kaspische Meer bis zum globalen Normalnull aufgefüllt ist. Ein Jahr?«
»Länger.«
Die Touristen waren verblüfft. Sie schienen eine riesige Welle erwartet zu haben, auf der man surfen konnte. Nun, wenn man etwas Spektakuläres sehen wollte, sollte man im Wolga-Tal sein, dachte Gary. Aber er besaß die Vorstellungskraft eines Wissenschaftlers, die Fähigkeit, die Zahlen zu verstehen. »Das Kaspische Meer ist tausend Kilometer lang. Es könnte ganz Japan aufnehmen. Und nun füllt es sich wie eine Badewanne. Stell dir bloß vor, welche Wassermengen die Wolga entlangströmen müssen.« Und es würde unablässig weiter vordringen, dachte er, und das Land verschlingen.
Sie standen da und ließen das steigende Wasser über ihre nackten Füße laufen. »So etwas hat seit der Eiszeit niemand gesehen«, sagte Thandie. »Was meinst du, sind wir privilegiert oder verflucht?«
»Beides vielleicht.«
»Sag mal, Gary, was steht bei dir als Nächstes auf dem Programm?«
»Und bei dir?«
»Mehr davon.« Sie machte eine Handbewegung. »Wir werden eine Neuentstehung gewaltiger Wasserkörper erleben, wie es sie seit der letzten Vergletscherung, als Schmelzwasser jeden Hohlraum füllte, auf der Erde nicht mehr gegeben hat: die verlorenen großen Seen. Von hier aus wird sich das Meer schließlich nordwärts bis zur Küste der Arktis erstrecken. In Afrika wird der Ozean über den Niger und den Nil ins Innere des Kontinents vordringen und den Mega-Tschadsee wiedererstehen lassen, einen See von der Größe Westeuropas. Und in Nordamerika wird sich der Lake Agassiz wieder bilden, ein gewaltiges Binnenmeer, das sich von Saskatchewan bis Ontario, von North und South Dakota bis nach Minnesota erstreckte. Bilder, die man seit fünfhundert Menschengenerationen nicht mehr gesehen hat. Schauen wir sie uns an … Übrigens kann man dabei sogar gute wissenschaftliche Arbeit leisten. Selbst wenn niemand jemals mein Buch darüber kaufen wird.«
Aber Gary hatte sich bereits etwas anderes überlegt. Er konnte weiterarbeiten, ganz gleich, wohin er ging: Mitten in einer globalen Transformation gab es überall Daten zu sammeln. Er würde weiterhin zur weltweiten Gemeinschaft der Beobachter gehören. Doch seine Entscheidung stand fest: Er wollte nach Amerika zurückkehren. Seine Mutter war gestorben, und er hatte keine näheren Angehörigen dort. Aber vielleicht konnte er Lily helfen, Helens Baby zu finden. Im tiefsten Innern, stellte er fest, fühlte er sich zu Menschen hingezogen, nicht zu Spektakeln.
Mit siebenundzwanzig Jahren wollte er nach Hause. Er versuchte, es ihr zu erklären. Thandie bedrängte ihn nicht.
Das Meer rückte immer weiter vor und stieg, bis es den Saum ihrer Hosen durchtränkte. Ein Dutzend Meter entfernt starrte ein Schaulustiger enttäuscht auf das Wasser. »Ist das alles? Was für ein Reinfall«, riefen sie.
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
baxt_9783641036911_oeb_cover_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_toc_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_fm1_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_ded_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p01_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c01_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c02_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c03_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c04_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c05_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c06_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c07_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c08_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c09_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c10_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c11_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c12_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c13_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c14_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c15_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c16_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c17_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c18_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c19_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c20_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c21_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p02_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c22_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c23_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c24_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c25_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c26_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c27_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c28_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c29_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c30_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c31_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c32_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c33_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c34_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c35_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c36_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c37_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c38_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c39_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c40_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c41_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c42_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c43_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c44_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c45_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c46_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c47_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p03_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c48_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c49_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c50_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c51_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c52_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c53_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c54_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c55_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c56_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c57_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c58_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c59_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c60_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c61_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c62_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c63_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c64_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c65_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c66_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c67_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c68_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c69_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c70_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c71_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p04_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c72_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c73_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c74_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c75_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c76_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c77_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c78_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c79_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c80_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c81_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c82_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c83_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c84_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c85_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c86_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c87_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c88_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c89_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c90_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c91_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_p05_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c92_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c93_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c94_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c95_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_c96_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_bm1_r1.html
baxt_9783641036911_oeb_cop_r1.html