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Die Gruppe durchquerte den Kaukasus in nördlicher
und östlicher Richtung und umfuhr die Ausläufer der Berge. Dann
ging es durch eine Steppe aus sandigem Lehm zum Ufer des Kaspischen
Meeres hinunter, bis sie das untere Wolga-Tal erreichten.
Sie blieben einen Tag in Astrachan, einer
Küstenstadt in der Nähe der Grenze zu Kasachstan, die sich über das
Wolga-Delta ausbreitete und elf Inseln umspannte. Das vom Weltmeer
abgeschnittene Kaspische Meer war noch nicht gestiegen, und die
Anrainerstaaten waren bisher von den Überschwemmungen verschont
geblieben, die es anderswo gegeben hatte. Gary und die anderen
mutete es seltsam an, in der Stadt herumzulaufen und die
Kathedrale, den Kreml, die Brücken zu sehen, die alle auf
unheimliche Weise unversehrt waren, als hätte sich in der Welt
nicht das Geringste verändert. Aber die meisten Bewohner hatten die
Stadt verlassen, und sie begegneten mehr Soldaten als Zivilisten.
Die russischen Behörden wussten, dass die ozeanische Transgression
unmittelbar bevorstand, und hatten alle verfügbaren
Vorsichtsmaßnahmen getroffen.
Die Wissenschaftler teilten sich auf, um die
Inkursion aus verschiedenen Blickwinkeln beobachten zu können.
Einige von ihnen, darunter Sanjay und Elena, blieben in Astrachan.
Die anderen reisten in Zweier- oder Dreiergruppen von Astrachan
aus in verschiedene Richtungen, das Flusstal hinauf oder zu
mehreren Beobachtungsposten am Nordufer des Kaspischen Meeres, wo
einige Tausend Quadratkilometer des Küstengebiets unter dem alten
Meeresspiegel lagen, ein großer Tieflandstreifen, der sich um die
Küste herumzog und etwa hundertfünfzig Kilometer weit ins
Landesinnere erstreckte.
Gary und Thandie bildeten eine Zweiergruppe. Sie
schlugen ihr Lager am Ufer auf, nah bei einem sandigen, leeren
Strand. Dort warteten sie auf den vorhergesagten Durchbruch.
Tage vergingen. Das Wetter war gut, und sie
schwammen in dem landumschlossenen Meer, aber es war von
Industrieabfällen und Öl verschmutzt. Draußen auf dem Wasser
konnten sie sogar Bohrinseln sehen, triste Gebilde, die
schwimmenden Fabriken glichen.
Sie arbeiteten. Sie hatten ihre Laptops und
Satellitenverbindungen, und sie sprachen mit ihren Kolleginnen und
Kollegen, die sich an der Meeresküste und im Flusstal verteilt
hatten. Sie hielten eine Reihe virtueller »Kaminrunden« ab, bei
denen die Forscher einander Webcambilder ihrer Lagerfeuer
schickten.
Nach ein paar Tagen gesellten sich weitere
Beobachter in Zelten und Mobilheimen zu ihnen. Nur wenige sprachen
Englisch; keiner schien Wissenschaftler zu sein.
»Katastrophentouristen«, sagte Thandie abfällig.
»Wie wir«, erwiderte Gary.
Nachts redeten sie über ihr Leben, über Garys
Gefangenschaft, Thandies Ambitionen, ihre gemeinsamen Erinnerungen
und Freunde. Nach ein paar Tagen wagte es Gary in der Dunkelheit
des Zeltes, als sie gerade beim Einschlafen waren, auf Elena
Artemowa und das Bad bei Krasnaya Polyana zu sprechen zu
kommen.
»Ich bin bisexuell, wenn du’s wissen willst«, sagte
Thandie. »Aber auf dich steh ich nicht. Tut mir leid.«
»Ist schon okay. Aber Elena hat etwas, findest du
nicht?«
Thandie schnaubte. »Was, dicke Titten?«
»Nein. Diese Traurigkeit, die man in ihr sieht. Sie
erinnert mich an Piers Michaelmas in seinen dunklen Tagen. Ich
möchte sie zum Lächeln bringen. Klingt das dumm?«
»Nein. Mir geht’s nämlich genauso.«
»Gut. Ganz im Ernst.« Gary dachte an das Baby, das
sie verloren hatte, und verspürte ein warmes Gefühl. »Wenn du mit
Elena glücklich wirst …«
»Halt die Klappe, Boyle.«
»Okay.«
Sie drifteten in den Schlaf und dachten dabei beide
an Elena, die vielleicht an sie beide oder - was wusste Gary schon
- an keinen von ihnen dachte.
Am vierten Morgen wurden sie von einem fernen
Brausen geweckt. Als sie aus dem Zelt kletterten, standen die
Schaulustigen schon am Ufer, Ferngläser in der Hand.
Sanjay meldete sich aufgeregt mit Webcambildern; er
musste ein wasserfallartiges Tosen überschreien. »Es ist
durchgebrochen! Wir haben euch schlafen lassen, weil wir dachten,
ihr würdet das Geräusch gern erst mal mit eigenen Ohren hören. Es
war ein Sturm im Schwarzen Meer …« Das steigende Wasser des
Schwarzen Meeres, vom Weltmeer übers
Mittelmeer und das Marmarameer gespeist, hatte die
Kaukasus-Barriere endlich an ihrem schwächsten Punkt im Norden
durchbrochen, sich seinen Weg durchs Don-Tal gebahnt, Wolgograd
überflutet und war dann das Wolga-Tal entlang nach Astrachan
geströmt. »Die ganze verdammte Stadt steht schon unter Wasser. Es
ist unglaublich!«
Das Donnern ging weiter. Es klang wie ein weit
entfernter Krieg.
Thandie checkte ihre Daten. »Das Schwarze Meer war
ungefähr fünfzig Meter über das alte Normalnull gestiegen, als es
den Kaukasus durchbrochen hat. Wohingegen das Kaspische Meer
ungefähr siebenundzwanzig Meter unter Normalnull liegt. Das
macht siebenundsiebzig Meter Unterschied. Kein Wunder, dass es so
verdammt laut ist.«
»Wir müssen uns an die Arbeit machen.«
»Ja. Aber zuerst schauen wir’s uns an.« Aus einem
spontanen Impuls heraus nahm Thandie Garys Hand. Sie liefen zum
Ufer.
Überall entlang des Küstenstreifens rückte das
schmutzige Wasser langsam vor, wie eine auflaufende Flut, und wogte
ein wenig, wenn eine Welle sich brach. Sie traten langsam zurück,
wobei sie ihre Schritte zählten.
»Bei diesem Tempo wird es pro Tag einen halben
Kilometer vorrücken«, sagte Thandie. Sie holte einen Handheld
hervor und führte rasch ein paar Berechnungen durch. »Ein
vertikaler Anstieg von vielleicht zehn Zentimetern pro
Tag.«
»Es wird also eine Weile dauern, bis das Kaspische
Meer bis zum globalen Normalnull aufgefüllt ist. Ein Jahr?«
»Länger.«
Die Touristen waren verblüfft. Sie schienen eine
riesige
Welle erwartet zu haben, auf der man surfen konnte. Nun, wenn man
etwas Spektakuläres sehen wollte, sollte man im Wolga-Tal sein,
dachte Gary. Aber er besaß die Vorstellungskraft eines
Wissenschaftlers, die Fähigkeit, die Zahlen zu verstehen. »Das
Kaspische Meer ist tausend Kilometer lang. Es könnte ganz Japan
aufnehmen. Und nun füllt es sich wie eine Badewanne. Stell dir bloß
vor, welche Wassermengen die Wolga entlangströmen müssen.« Und es
würde unablässig weiter vordringen, dachte er, und das Land
verschlingen.
Sie standen da und ließen das steigende Wasser über
ihre nackten Füße laufen. »So etwas hat seit der Eiszeit niemand
gesehen«, sagte Thandie. »Was meinst du, sind wir privilegiert oder
verflucht?«
»Beides vielleicht.«
»Sag mal, Gary, was steht bei dir als Nächstes auf
dem Programm?«
»Und bei dir?«
»Mehr davon.« Sie machte eine Handbewegung. »Wir
werden eine Neuentstehung gewaltiger Wasserkörper erleben, wie es
sie seit der letzten Vergletscherung, als Schmelzwasser jeden
Hohlraum füllte, auf der Erde nicht mehr gegeben hat: die
verlorenen großen Seen. Von hier aus wird sich das Meer schließlich
nordwärts bis zur Küste der Arktis erstrecken. In Afrika wird der
Ozean über den Niger und den Nil ins Innere des Kontinents
vordringen und den Mega-Tschadsee wiedererstehen lassen, einen See
von der Größe Westeuropas. Und in Nordamerika wird sich der Lake
Agassiz wieder bilden, ein gewaltiges Binnenmeer, das sich von
Saskatchewan bis Ontario, von North und South Dakota bis nach
Minnesota erstreckte. Bilder, die man seit fünfhundert
Menschengenerationen nicht mehr gesehen hat. Schauen wir sie uns
an … Übrigens kann man dabei sogar gute wissenschaftliche Arbeit
leisten. Selbst wenn niemand jemals mein Buch darüber kaufen
wird.«
Aber Gary hatte sich bereits etwas anderes
überlegt. Er konnte weiterarbeiten, ganz gleich, wohin er ging:
Mitten in einer globalen Transformation gab es überall Daten zu
sammeln. Er würde weiterhin zur weltweiten Gemeinschaft der
Beobachter gehören. Doch seine Entscheidung stand fest: Er wollte
nach Amerika zurückkehren. Seine Mutter war gestorben, und er hatte
keine näheren Angehörigen dort. Aber vielleicht konnte er Lily
helfen, Helens Baby zu finden. Im tiefsten Innern, stellte er fest,
fühlte er sich zu Menschen hingezogen, nicht zu Spektakeln.
Mit siebenundzwanzig Jahren wollte er nach Hause.
Er versuchte, es ihr zu erklären. Thandie bedrängte ihn
nicht.
Das Meer rückte immer weiter vor und stieg, bis es
den Saum ihrer Hosen durchtränkte. Ein Dutzend Meter entfernt
starrte ein Schaulustiger enttäuscht auf das Wasser. »Ist das
alles? Was für ein Reinfall«, riefen sie.