79
Ein Landungsboot brachte einen der wasserstoffgetriebenen Panzerwagen des Schiffes an Land, und Lily wurde mit Lammockson, Piers und ein paar AxysCorp-Gorillas in Richtung Kathmandu gefahren. Villegas blieb mit der Befehlsgewalt über das Schiff zurück.
Sie fuhren schmale, gewundene Straßen entlang, die in grüne Hügel hinaufführten. In kleinen, übervölkerten Dörfern sahen ihnen die Menschen apathisch nach. Hin und wieder hatten sie einen freien Blick auf die höheren Gipfel im Norden. Aber diese Gipfel glänzten nicht weiß wie auf den alten Ansichtskarten; jetzt zernarbten braune Streifen nackten Felsgesteins die Bergwände bis hinauf zu den Spitzen.
Bevor sie nach Kathmandu kamen, mussten sie an einer Militärsperre anhalten. Von Wachtürmen starrten gefährlich aussehende Waffen auf sie herab. Ein höflicher junger Mann in einer orangefarbenen Kutte stellte sich vor. Er war ein Beauftragter von Prasad Deuba, Lammocksons hiesigem Kontaktmann. Er entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten der Sicherheitsmaßnahmen. Spannungsgeladene Verhandlungen folgten, geführt von Piers.
Lily blieb im Wagen und hielt sich aus allem heraus. Die nepalesischen Wachposten beobachteten sie mit harten, ausdruckslosen Gesichtern. Sie schienen gut ausgebildet zu sein, hielten ihre Waffen mit selbstsicherem Griff. Lily rief sich ins Gedächtnis, dass die Gurkhas, jahrzehntelang eine der wichtigsten Stützen der britischen Armee, aus Nepal gekommen waren. Offenbar hatten die Ausbildung und die Tradition abgefärbt. Einige dieser jungen Männer hatten jedoch Narben im Gesicht, die wie Strahlenverbrennungen aussahen.
Am Ende wurde eine Abmachung getroffen. Die AxysCorp-Soldaten durften ihre Waffen behalten, aber sie mussten unter Bewachung weiterfahren. Von nun an saßen schweigsame Gurkha-Soldaten, die ihre eigenen Waffen in den uniformierten Armen hielten, gelassen hinten im Wagen; und sie wurden von mehreren Jeeps des nepalesischen Militärs eskortiert.
Schließlich erreichten sie Kathmandu, und Lily staunte. Es war eine weitläufige Stadt, die einst eine Million Seelen beherbergt hatte und das vielleicht auch jetzt noch tat - ein großes städtisches Ballungsgebiet, das früher mehr als vierzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel gelegen hatte. Am Horizont zeichnete sich das Profil der höheren Berge ab, die immer noch die höchsten der Welt waren. Deubas höflicher junger Mann betätigte sich nun als Touristenführer und machte sie auf allerlei Sehenswürdigkeiten aufmerksam. Auf Straßen, die zwischen zierlichen Pagoden hindurchführten, wimmelte es von Fußgängern, Radfahrern und eigentümlichen dreirädrigen Kraftfahrzeugen. In einem Aschram in der Nähe des großen Tempelkomplexes am Fluss lebten immer noch heilige Männer, und am gegenüberliegenden Ufer versammelten sich nach wie vor Familien um den fettigen Rauch der Scheiterhaufen.
Doch in der Stadt hatte offenkundig ein erstaunlicher Reichtum Einzug gehalten. Inmitten der hinduistischen und buddhistischen Tempel fanden sich moderne Gebäude, Büroblocks mit Glasfronten und Villen, weitläufige Privatresidenzen hinter hohen automatischen Toren. Die Leute mit ihren feinen indischen Zügen trugen teuer aussehende Kleidung. Selbst die Bettler, die auf der Straße hockten und mit ausgestreckten Händen um etwas zu essen baten, als der Wagen vorbeifuhr, trugen hochwertige, wenn auch staubige Kleidung. Einige von ihnen hatten sogar glitzernden Schmuck um den Hals.
»Aber Diamanten kann man nicht essen«, sagte der junge Führer.
Sie kamen an einer Residenz des Königs vorbei, die von steinernen Elefanten bewacht wurde. Auf der Straße spielte eine Kapelle.
»Jetzt schlägt’s dreizehn«, sagte Lammockson. »Dudelsäcke!«
 
Prasad Deuba hieß sie in seinem Haus willkommen. Es war eigentlich ein ganzer Komplex neuer Gebäude, eine prachtvolle Villa im Herzen der alten Stadt. Lily fand, dass ihre Befestigung noch beeindruckender wirkte als die an der Landesgrenze. Deuba bewirtete sie mit Tee und Kuchen im britischen Stil und bot ihnen einen Likör aus Yak-Milch an. »Sehr selten und wertvoll, wo die Russen jetzt alle Yaks gegessen haben!«
»Ich wette, Sie haben’s geschafft, selbst daraus Gewinn zu schlagen, Prasad, Sie alter Schwerenöter«, brummte Lammockson voller Bewunderung. Zu seinen Begleitern sagte er: »Ihr könntet euch glücklich schätzen, wenn ihr nach einem Geschäft mit Prasad noch ein Hemd am Leib hättet.«
Deuba lächelte, aber Lily sah, dass seine Augen kalt blieben. Auf ein wenig Schmeichelei würde er nicht hereinfallen.
Prasad Deuba war in der alten Zeit eindeutig ein Geschäftsmann gewesen. Um die sechzig Jahre alt, hatte er die ausladenden Gesten, das schnelle Lächeln und den durchdringenden Blick eines Handelsvertreters. Er trug einen sehr gut erhaltenen Anzug im westlichen Stil, und sein Haar war mit Gel an den Kopf geklatscht. Sein Akzent war weich, beinahe britisch. Er war in England ausgebildet worden.
Lammockson begann, seinen Vortrag abzuspulen. Mittlerweile suchte er nicht mehr nach Handelspartnern, wie noch bei seinen Geschäften in der Schweiz. Was er wolle, sagte er, sei ein Zufluchtsort.
»Also, Prasad, Sie sollten wissen, wie es bei uns steht. Die Arche Drei - Sie müssen zu uns kommen und sich das Schiff ansehen, Sie wären mein Ehrengast, wir würden Ihnen ein grandioses Dinner im Restaurant auftischen …«
Deuba neigte den Kopf. »Es wäre mir ein Vergnügen.«
»Es ist ein hervorragendes Schiff, und es könnte noch Jahre oder sogar Jahrzehnte halten. Aber vielleicht nicht ewig. Wir brauchen Unterstützung von Land. Das akzeptiere ich.« Lammockson machte eine Handbewegung zu Deubas Villa, dem teuer möblierten Wohnzimmer, in dem sie saßen, den schweigend in den Ecken stehenden Dienern. »Und ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen als diesen, keinen besseren Partner als Sie. Ich möchte, dass Sie als unser Verbindungsmann zu Ihrer Regierung fungieren, diesen Maoisten, die Ihr Land jetzt führen. Wir haben eine Menge zu bieten.« Er zählte die Vorzüge der Arche der Reihe nach auf, den Atomreaktor, die bahnbrechenden Neuerungen wie den OTEC und die Produktionsausrüstung: Das Schiff war eine schwimmende Stadt, angefüllt mit den neuesten technischen Errungenschaften. »Und dann sind da die Menschen, meine Ingenieure und Ärzte, meine Handwerker und Matrosen …«
Deuba hob eine Hand. »Ich habe nur eine ganz einfache Frage. Sie betrifft das einzige Faktum, nach dem meine Regierung Sie fragen würde. Wie viele seid ihr?«
»Dreitausend«, erwiderte Piers ruhig. »Das beinhaltet auch einen gewissen Prozentsatz nichtproduktiver Personen, die Älteren, die ganz Jungen, die Behinderten, die Kranken. Ich kann Ihnen genaue Zahlen nennen.«
Deuba nickte. »Dreitausend … Sie haben unsere in ständiger Veränderung begriffene Küstenlinie gesehen, wo sich die Flöße der Habenichtse wie Seetang zusammendrängen.«
»Die Arche ist kein Floß«, sagte Lammockson mit wachsendem Ärger.
Aber Deuba erzählte ihnen, was aus seinem Land geworden war. »Sie müssen verstehen, in welcher Lage wir uns befinden, Nathan. Es hat angefangen, noch bevor die meisten von uns überhaupt etwas von der Flut wussten: ein spärliches Rinnsal von Flüchtlingen, die aus Indien über die Grenze kamen. Nicht dass wir sie damals als Flüchtlinge bezeichnet hätten. Es waren reiche Leute aus Indiens Küstenstädten, sie hatten Zugang zu den besten wissenschaftlichen Daten und Vorhersagen. Sie wussten, was auf sie zukam. Kurzfristig wollten sie den regionalen Kriegen und den unangenehmen Auswirkungen der Überschwemmungen entkommen, langfristig wollten sie ihr komfortables Leben bewahren. Sie kamen mit Geld hierher, darauf erpicht, Immobilien und Land in unseren höher gelegenen Provinzen zu erwerben. Wer ihnen Land verkaufte, wurde ebenfalls schnell reich. Ich gebe zu, ich habe die Anzeichen eher gesehen als die meisten anderen. Damals habe ich eine Menge Land für ein Taschengeld erstanden und es den reichen Indern dann mit ordentlichem Gewinn weiterverkauft. Das Ergebnis war ein Bauboom in dieser Stadt, ein letzter Ausbruch des Wohlstands des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Eines der ärmsten Länder der Welt wurde für kurze Zeit eines der reichsten, gemessen am Pro-Kopf-Vermögen. Alles nur wegen seiner Höhenlage. Ich habe meinen Reichtum genutzt, um mir dieses Haus zu kaufen und es zu einer Festung umzubauen.«
»Das war klug von Ihnen.«
»Ja. Denn das Rinnsal wurde zu einem Strom, als auch die weniger Begüterten kamen. Die Mittelschichten, würden Sie vermutlich sagen, aus Indien, Pakistan und Bangladesh. Auch sie gaben alles, was sie hatten, für einen Platz in diesem unserem kleinen Land. Viele andere wurden reich, zumindest auf dem Papier, dem Konto oder in Form von Gold, gaben dafür jedoch ihren wertvollsten Besitz auf: ihren eigenen Grund und Boden. Und dann wurden es immer mehr, Flüchtlinge aus den indischen Ebenen, Millionen, die unversehens auf Wanderschaft waren, die Armen, die Besitzlosen, die Verzweifelten, sie zogen in Scharen durch die versinkenden Provinzen Uttar Pradesh und Bihar. Einige haben wir aufgenommen, wir haben Flüchtlingslager eingerichtet. Wir waren reich, wir waren humanitär. Aber jede solche Einrichtung wurde von den schieren Massen, die auf Wanderschaft waren, einfach überrannt. Die Regierung hat versucht, die Grenze zu schließen, doch sie ist lang und schwer zu bewachen. Am Ende sind also Korridore eingerichtet worden.«
»Korridore?«, fragte Piers.
»Wir haben den Flüchtlingen sicheres Geleit durch Nepal zu höher gelegenem Gelände gewährt, zu den Übergangsstellen nach Tibet. Nepal war schon immer ein Handelsknotenpunkt zwischen Indien und Tibet.«
Piers runzelte die Stirn. »Und dann? Was ist aus den Flüchtlingen geworden?«
»Ähm …« Deuba breitete die Hände aus und lächelte. »Das fällt in den Zuständigkeitsbereich der ordnungsgemäß konstituierten Regierung in Tibet.«
Es fiel Lily schwer, den Nebel zu zerteilen, den Deuba mit einem Auftreten und seinen Worten schuf, und die Zusammenhänge zu überdenken. »Das muss jahrelang so gegangen sein. Ganze indische Provinzen haben sich durch Ihr Land entleert. Das hat doch bestimmt seinen Tribut gefordert.«
»O ja«, sagte Deuba leichthin. »Es begann mit Hungeraufständen - all diese Menschen mussten ja ernährt werden, solange sie sich auf unserem Territorium befanden -, und es kam sogar zu einer Revolution bei uns. Vielleicht haben Sie davon gehört. Den maoistischen Rebellen, die im Bergland jahrzehntelang ihr Unwesen getrieben hatten, gelang es, die allgemeine Unruhe zum Sturz der Regierung zu nutzen. Jetzt dürfen wir uns langatmige Vorträge über die Weltanschauung des großen Führers anhören. Ansonsten hat sich jedoch wenig geändert. Die Maoisten haben die alten Staatsdiener und rangniedrigen Minister im Amt belassen und fahren in ihren Regierungslimousinen herum. Sie haben sogar die Monarchie beibehalten, das Symbol der Nation. Aber es ist ihnen gelungen, einen produktiven Dialog mit ihren Amtskollegen jenseits der tibetischen Grenze zu pflegen, mit denen sie so etwas wie eine gemeinsame Ideologie verbindet. Und am Ende ist der Flüchtlingsstrom aus Indien natürlich versiegt, obwohl immer noch ein paar Nachzügler kommen, auf der einen oder anderen Route.«
»Wie wir«, sagte Piers grimmig.
»So ist es. Nathan, mein Freund, wir haben in der Vergangenheit gute Geschäfte gemacht. Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich Ihnen diesmal nicht helfen kann. Ich weiß genau, wie die Antwort der Regierung lauten wird. Sie wird Sie nicht einfach abweisen, sondern eine Quote festlegen. Sagen wir dreihundert, also zehn Prozent. Die fähigsten Ihrer Ärzte und Ingenieure und so weiter. Sie werden an Land willkommen geheißen. Allerdings keine Kinder, von denen haben wir genug. Alle anderen müssen abreisen.«
»Ihr würdet euch die Rosinen aus meiner Crew herauspicken und mir sagen, ich soll mich verpissen? Was für ein Geschäft soll das denn sein?«
Deuba schüttelte traurig den Kopf. »Nicht meine Konditionen, mein Freund. Die meiner Regierung. Unser Land ist voll.«
Lammockson beherrschte sich. »Nun hören Sie mal, Prasad. Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie spielen hier doch nur mit harten Bandagen, stimmt’s? Also, falls Sie irgendwas brauchen …«
Deuba setzte eine fast schon mitleidige Miene auf. »Schauen Sie sich um. Was könnte ich wohl von Ihnen haben wollen?«
Lammockson stand auf. »Na schön. Wie wär’s dann mit einem Transit zur tibetischen Grenze?«
»Das ließe sich bestimmt arrangieren.«
»Was würde das kosten?«
»Eine Zollgebühr. Keine ruinöse. Ich fürchte, Sie werden die Strecke hauptsächlich zu Fuß zurücklegen müssen. Ich kann natürlich Träger und so weiter anheuern, an Gelegenheitsarbeitern herrscht bei uns kein Mangel. Aber Sie werden vorausreisen und die Grenzformalitäten selbst regeln müssen.«
Lily berührte Lammockson am Arm. »Ist das wirklich eine gute Idee, Nathan?«
»Es ist eine Option«, sagte er, sichtlich bemüht, sich zu beruhigen. »Wenn wir mit diesem Haufen hier nicht ins Geschäft kommen, dann vielleicht mit den Chinesen.«
Deuba machte eine beschwichtigende Geste. »Streng genommen ist die tibetische Regierung nicht mehr chinesisch … Es wird vierundzwanzig Stunden dauern, die Reise zu organisieren. Bitte seien Sie in der Zwischenzeit meine Gäste. Um der Freundschaft willen.«
Lammockson starrte ihn wütend an. Dann lenkte er ein wenig ein. »Ach, zum Teufel. In Ordnung. Ich muss sowieso aufs Klo, mich duschen und rasieren. Aber eins sage ich Ihnen, Prasad, ich habe Ihr Nein noch nicht akzeptiert. Wir sind anständige, wohlhabende, gesetzestreue Menschen, die ein Gewinn für Ihr Land wären.«
»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Deuba gewandt. »Wenn es doch nur in meiner Macht stünde, dafür zu sorgen, dass Sie hier Fuß fassen. Aber zunächst einmal … kommen Sie. Ich zeige Ihnen Ihre Zimmer.«
Piers und Lily standen unsicher auf. Lily fand es demütigend, dass Deuba ihr Ansinnen von vornherein abgelehnt hatte. Demütigend und erschreckend.
Sie folgten Deuba, begleitet von seinen Handlangern.
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
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