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Ein Landungsboot brachte einen der
wasserstoffgetriebenen Panzerwagen des Schiffes an Land, und Lily
wurde mit Lammockson, Piers und ein paar AxysCorp-Gorillas in
Richtung Kathmandu gefahren. Villegas blieb mit der Befehlsgewalt
über das Schiff zurück.
Sie fuhren schmale, gewundene Straßen entlang, die
in grüne Hügel hinaufführten. In kleinen, übervölkerten Dörfern
sahen ihnen die Menschen apathisch nach. Hin und wieder hatten sie
einen freien Blick auf die höheren Gipfel im Norden. Aber diese
Gipfel glänzten nicht weiß wie auf den alten Ansichtskarten; jetzt
zernarbten braune Streifen nackten Felsgesteins die Bergwände bis
hinauf zu den Spitzen.
Bevor sie nach Kathmandu kamen, mussten sie an
einer Militärsperre anhalten. Von Wachtürmen starrten gefährlich
aussehende Waffen auf sie herab. Ein höflicher junger Mann in einer
orangefarbenen Kutte stellte sich vor. Er war ein Beauftragter von
Prasad Deuba, Lammocksons hiesigem Kontaktmann. Er entschuldigte
sich für die Unannehmlichkeiten der Sicherheitsmaßnahmen.
Spannungsgeladene Verhandlungen folgten, geführt von Piers.
Lily blieb im Wagen und hielt sich aus allem
heraus. Die nepalesischen Wachposten beobachteten sie mit harten,
ausdruckslosen Gesichtern. Sie schienen gut ausgebildet zu sein,
hielten ihre Waffen mit selbstsicherem Griff. Lily rief sich ins
Gedächtnis, dass die Gurkhas, jahrzehntelang eine der wichtigsten
Stützen der britischen Armee, aus Nepal gekommen waren. Offenbar
hatten die Ausbildung und die Tradition abgefärbt. Einige dieser
jungen Männer hatten jedoch Narben im Gesicht, die wie
Strahlenverbrennungen aussahen.
Am Ende wurde eine Abmachung getroffen. Die
AxysCorp-Soldaten durften ihre Waffen behalten, aber sie mussten
unter Bewachung weiterfahren. Von nun an saßen schweigsame
Gurkha-Soldaten, die ihre eigenen Waffen in den uniformierten Armen
hielten, gelassen hinten im Wagen; und sie wurden von mehreren
Jeeps des nepalesischen Militärs eskortiert.
Schließlich erreichten sie Kathmandu, und Lily
staunte. Es war eine weitläufige Stadt, die einst eine Million
Seelen beherbergt hatte und das vielleicht auch jetzt noch tat -
ein großes städtisches Ballungsgebiet, das früher mehr als
vierzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel gelegen hatte. Am
Horizont zeichnete sich das Profil der höheren Berge ab, die immer
noch die höchsten der Welt waren. Deubas höflicher junger Mann
betätigte sich nun als Touristenführer und machte sie auf allerlei
Sehenswürdigkeiten aufmerksam. Auf Straßen, die zwischen zierlichen
Pagoden hindurchführten, wimmelte es von Fußgängern, Radfahrern und
eigentümlichen dreirädrigen Kraftfahrzeugen. In einem Aschram in
der Nähe des großen Tempelkomplexes am Fluss lebten immer noch
heilige Männer, und am gegenüberliegenden Ufer versammelten sich
nach wie vor Familien um den fettigen Rauch der
Scheiterhaufen.
Doch in der Stadt hatte offenkundig ein
erstaunlicher Reichtum Einzug gehalten. Inmitten der hinduistischen
und
buddhistischen Tempel fanden sich moderne Gebäude, Büroblocks mit
Glasfronten und Villen, weitläufige Privatresidenzen hinter hohen
automatischen Toren. Die Leute mit ihren feinen indischen Zügen
trugen teuer aussehende Kleidung. Selbst die Bettler, die auf der
Straße hockten und mit ausgestreckten Händen um etwas zu essen
baten, als der Wagen vorbeifuhr, trugen hochwertige, wenn auch
staubige Kleidung. Einige von ihnen hatten sogar glitzernden
Schmuck um den Hals.
»Aber Diamanten kann man nicht essen«, sagte der
junge Führer.
Sie kamen an einer Residenz des Königs vorbei, die
von steinernen Elefanten bewacht wurde. Auf der Straße spielte eine
Kapelle.
»Jetzt schlägt’s dreizehn«, sagte Lammockson.
»Dudelsäcke!«
Prasad Deuba hieß sie in seinem Haus willkommen.
Es war eigentlich ein ganzer Komplex neuer Gebäude, eine
prachtvolle Villa im Herzen der alten Stadt. Lily fand, dass ihre
Befestigung noch beeindruckender wirkte als die an der
Landesgrenze. Deuba bewirtete sie mit Tee und Kuchen im britischen
Stil und bot ihnen einen Likör aus Yak-Milch an. »Sehr selten und
wertvoll, wo die Russen jetzt alle Yaks gegessen haben!«
»Ich wette, Sie haben’s geschafft, selbst daraus
Gewinn zu schlagen, Prasad, Sie alter Schwerenöter«, brummte
Lammockson voller Bewunderung. Zu seinen Begleitern sagte er: »Ihr
könntet euch glücklich schätzen, wenn ihr nach einem Geschäft mit
Prasad noch ein Hemd am Leib hättet.«
Deuba lächelte, aber Lily sah, dass seine Augen
kalt blieben. Auf ein wenig Schmeichelei würde er nicht
hereinfallen.
Prasad Deuba war in der alten Zeit eindeutig ein
Geschäftsmann gewesen. Um die sechzig Jahre alt, hatte er die
ausladenden Gesten, das schnelle Lächeln und den durchdringenden
Blick eines Handelsvertreters. Er trug einen sehr gut erhaltenen
Anzug im westlichen Stil, und sein Haar war mit Gel an den Kopf
geklatscht. Sein Akzent war weich, beinahe britisch. Er war in
England ausgebildet worden.
Lammockson begann, seinen Vortrag abzuspulen.
Mittlerweile suchte er nicht mehr nach Handelspartnern, wie noch
bei seinen Geschäften in der Schweiz. Was er wolle, sagte er, sei
ein Zufluchtsort.
»Also, Prasad, Sie sollten wissen, wie es bei uns
steht. Die Arche Drei - Sie müssen zu uns kommen und sich das
Schiff ansehen, Sie wären mein Ehrengast, wir würden Ihnen ein
grandioses Dinner im Restaurant auftischen …«
Deuba neigte den Kopf. »Es wäre mir ein
Vergnügen.«
»Es ist ein hervorragendes Schiff, und es könnte
noch Jahre oder sogar Jahrzehnte halten. Aber vielleicht nicht
ewig. Wir brauchen Unterstützung von Land. Das akzeptiere ich.«
Lammockson machte eine Handbewegung zu Deubas Villa, dem teuer
möblierten Wohnzimmer, in dem sie saßen, den schweigend in den
Ecken stehenden Dienern. »Und ich kann mir keinen besseren Ort
vorstellen als diesen, keinen besseren Partner als Sie. Ich möchte,
dass Sie als unser Verbindungsmann zu Ihrer Regierung fungieren,
diesen Maoisten, die Ihr Land jetzt führen. Wir haben eine Menge zu
bieten.« Er zählte die Vorzüge der Arche der Reihe nach auf, den
Atomreaktor,
die bahnbrechenden Neuerungen wie den OTEC und die
Produktionsausrüstung: Das Schiff war eine schwimmende Stadt,
angefüllt mit den neuesten technischen Errungenschaften. »Und dann
sind da die Menschen, meine Ingenieure und Ärzte, meine Handwerker
und Matrosen …«
Deuba hob eine Hand. »Ich habe nur eine ganz
einfache Frage. Sie betrifft das einzige Faktum, nach dem meine
Regierung Sie fragen würde. Wie viele seid ihr?«
»Dreitausend«, erwiderte Piers ruhig. »Das
beinhaltet auch einen gewissen Prozentsatz nichtproduktiver
Personen, die Älteren, die ganz Jungen, die Behinderten, die
Kranken. Ich kann Ihnen genaue Zahlen nennen.«
Deuba nickte. »Dreitausend … Sie haben
unsere in ständiger Veränderung begriffene Küstenlinie gesehen, wo
sich die Flöße der Habenichtse wie Seetang zusammendrängen.«
»Die Arche ist kein Floß«, sagte Lammockson mit
wachsendem Ärger.
Aber Deuba erzählte ihnen, was aus seinem Land
geworden war. »Sie müssen verstehen, in welcher Lage wir uns
befinden, Nathan. Es hat angefangen, noch bevor die meisten von uns
überhaupt etwas von der Flut wussten: ein spärliches Rinnsal von
Flüchtlingen, die aus Indien über die Grenze kamen. Nicht dass wir
sie damals als Flüchtlinge bezeichnet hätten. Es waren reiche Leute
aus Indiens Küstenstädten, sie hatten Zugang zu den besten
wissenschaftlichen Daten und Vorhersagen. Sie wussten, was auf sie
zukam. Kurzfristig wollten sie den regionalen Kriegen und den
unangenehmen Auswirkungen der Überschwemmungen entkommen,
langfristig wollten sie ihr komfortables Leben bewahren. Sie
kamen mit Geld hierher, darauf erpicht, Immobilien und Land in
unseren höher gelegenen Provinzen zu erwerben. Wer ihnen Land
verkaufte, wurde ebenfalls schnell reich. Ich gebe zu, ich habe die
Anzeichen eher gesehen als die meisten anderen. Damals habe ich
eine Menge Land für ein Taschengeld erstanden und es den reichen
Indern dann mit ordentlichem Gewinn weiterverkauft. Das Ergebnis
war ein Bauboom in dieser Stadt, ein letzter Ausbruch des
Wohlstands des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Eines der ärmsten
Länder der Welt wurde für kurze Zeit eines der reichsten, gemessen
am Pro-Kopf-Vermögen. Alles nur wegen seiner Höhenlage. Ich habe
meinen Reichtum genutzt, um mir dieses Haus zu kaufen und es zu
einer Festung umzubauen.«
»Das war klug von Ihnen.«
»Ja. Denn das Rinnsal wurde zu einem Strom, als
auch die weniger Begüterten kamen. Die Mittelschichten, würden Sie
vermutlich sagen, aus Indien, Pakistan und Bangladesh. Auch sie
gaben alles, was sie hatten, für einen Platz in diesem unserem
kleinen Land. Viele andere wurden reich, zumindest auf dem Papier,
dem Konto oder in Form von Gold, gaben dafür jedoch ihren
wertvollsten Besitz auf: ihren eigenen Grund und Boden. Und dann
wurden es immer mehr, Flüchtlinge aus den indischen Ebenen,
Millionen, die unversehens auf Wanderschaft waren, die Armen, die
Besitzlosen, die Verzweifelten, sie zogen in Scharen durch die
versinkenden Provinzen Uttar Pradesh und Bihar. Einige haben wir
aufgenommen, wir haben Flüchtlingslager eingerichtet. Wir waren
reich, wir waren humanitär. Aber jede solche Einrichtung wurde von
den schieren Massen, die auf Wanderschaft
waren, einfach überrannt. Die Regierung hat versucht, die Grenze
zu schließen, doch sie ist lang und schwer zu bewachen. Am Ende
sind also Korridore eingerichtet worden.«
»Korridore?«, fragte Piers.
»Wir haben den Flüchtlingen sicheres Geleit durch
Nepal zu höher gelegenem Gelände gewährt, zu den Übergangsstellen
nach Tibet. Nepal war schon immer ein Handelsknotenpunkt zwischen
Indien und Tibet.«
Piers runzelte die Stirn. »Und dann? Was ist aus
den Flüchtlingen geworden?«
»Ähm …« Deuba breitete die Hände aus und lächelte.
»Das fällt in den Zuständigkeitsbereich der ordnungsgemäß
konstituierten Regierung in Tibet.«
Es fiel Lily schwer, den Nebel zu zerteilen, den
Deuba mit einem Auftreten und seinen Worten schuf, und die
Zusammenhänge zu überdenken. »Das muss jahrelang so gegangen sein.
Ganze indische Provinzen haben sich durch Ihr Land entleert. Das
hat doch bestimmt seinen Tribut gefordert.«
»O ja«, sagte Deuba leichthin. »Es begann mit
Hungeraufständen - all diese Menschen mussten ja ernährt werden,
solange sie sich auf unserem Territorium befanden -, und es kam
sogar zu einer Revolution bei uns. Vielleicht haben Sie davon
gehört. Den maoistischen Rebellen, die im Bergland jahrzehntelang
ihr Unwesen getrieben hatten, gelang es, die allgemeine Unruhe zum
Sturz der Regierung zu nutzen. Jetzt dürfen wir uns langatmige
Vorträge über die Weltanschauung des großen Führers anhören.
Ansonsten hat sich jedoch wenig geändert. Die Maoisten haben die
alten Staatsdiener
und rangniedrigen Minister im Amt belassen und fahren in ihren
Regierungslimousinen herum. Sie haben sogar die Monarchie
beibehalten, das Symbol der Nation. Aber es ist ihnen gelungen,
einen produktiven Dialog mit ihren Amtskollegen jenseits der
tibetischen Grenze zu pflegen, mit denen sie so etwas wie eine
gemeinsame Ideologie verbindet. Und am Ende ist der
Flüchtlingsstrom aus Indien natürlich versiegt, obwohl immer noch
ein paar Nachzügler kommen, auf der einen oder anderen
Route.«
»Wie wir«, sagte Piers grimmig.
»So ist es. Nathan, mein Freund, wir haben in der
Vergangenheit gute Geschäfte gemacht. Aber ich muss Ihnen sagen,
dass ich Ihnen diesmal nicht helfen kann. Ich weiß genau, wie die
Antwort der Regierung lauten wird. Sie wird Sie nicht einfach
abweisen, sondern eine Quote festlegen. Sagen wir dreihundert, also
zehn Prozent. Die fähigsten Ihrer Ärzte und Ingenieure und so
weiter. Sie werden an Land willkommen geheißen. Allerdings keine
Kinder, von denen haben wir genug. Alle anderen müssen
abreisen.«
»Ihr würdet euch die Rosinen aus meiner Crew
herauspicken und mir sagen, ich soll mich verpissen? Was für ein
Geschäft soll das denn sein?«
Deuba schüttelte traurig den Kopf. »Nicht meine
Konditionen, mein Freund. Die meiner Regierung. Unser Land ist
voll.«
Lammockson beherrschte sich. »Nun hören Sie mal,
Prasad. Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie spielen hier doch nur mit
harten Bandagen, stimmt’s? Also, falls Sie irgendwas brauchen
…«
Deuba setzte eine fast schon mitleidige Miene auf.
»Schauen
Sie sich um. Was könnte ich wohl von Ihnen haben wollen?«
Lammockson stand auf. »Na schön. Wie wär’s dann mit
einem Transit zur tibetischen Grenze?«
»Das ließe sich bestimmt arrangieren.«
»Was würde das kosten?«
»Eine Zollgebühr. Keine ruinöse. Ich fürchte, Sie
werden die Strecke hauptsächlich zu Fuß zurücklegen müssen. Ich
kann natürlich Träger und so weiter anheuern, an
Gelegenheitsarbeitern herrscht bei uns kein Mangel. Aber Sie werden
vorausreisen und die Grenzformalitäten selbst regeln müssen.«
Lily berührte Lammockson am Arm. »Ist das wirklich
eine gute Idee, Nathan?«
»Es ist eine Option«, sagte er, sichtlich bemüht,
sich zu beruhigen. »Wenn wir mit diesem Haufen hier nicht ins
Geschäft kommen, dann vielleicht mit den Chinesen.«
Deuba machte eine beschwichtigende Geste. »Streng
genommen ist die tibetische Regierung nicht mehr chinesisch … Es
wird vierundzwanzig Stunden dauern, die Reise zu organisieren.
Bitte seien Sie in der Zwischenzeit meine Gäste. Um der
Freundschaft willen.«
Lammockson starrte ihn wütend an. Dann lenkte er
ein wenig ein. »Ach, zum Teufel. In Ordnung. Ich muss sowieso aufs
Klo, mich duschen und rasieren. Aber eins sage ich Ihnen, Prasad,
ich habe Ihr Nein noch nicht akzeptiert. Wir sind anständige,
wohlhabende, gesetzestreue Menschen, die ein Gewinn für Ihr Land
wären.«
»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Deuba gewandt.
»Wenn es doch nur in meiner Macht stünde, dafür zu sorgen, dass
Sie hier Fuß fassen. Aber zunächst einmal … kommen Sie. Ich zeige
Ihnen Ihre Zimmer.«
Piers und Lily standen unsicher auf. Lily fand es
demütigend, dass Deuba ihr Ansinnen von vornherein abgelehnt hatte.
Demütigend und erschreckend.
Sie folgten Deuba, begleitet von seinen
Handlangern.