20
AUGUST 2016
Kristie hatte an diesem Morgen Ausguckdienst. »Der Wassermann ist da!« Sie lief eilig die Treppe herunter. Die Holzsohlen ihrer Clogs polterten laut über die bloßen Dielen. Es war noch nicht ganz sieben Uhr.
Amanda war fast schon auf dem Weg zur Arbeit. Sie trug ein zerknittertes Kostüm, das eine chemische Reinigung nötig gehabt hätte, robuste Wanderstiefel und wasserfeste Gamaschen. Fürs Büro hatte sie sich leichtere Schuhe in die Rucksacktasche gesteckt. In einer Hand hielt sie eine Tasse Kaffee, die letzten Reste aus der Thermoskanne vom Vorabend. Sie zuckte zusammen, als Kristie die Treppe heruntergeschossen kam. »Herrgott, Kris, musst du solchen Lärm machen?«
Kristie, elf Jahre alt, war viel zu lebhaft, um sich darum zu scheren. Sie stöberte in dem Haufen Eimer und Plastikflaschen neben der Tür. »Komm, Tante Lily, wir beide sind dran.«
Lily steckte sich ein letztes Stück Brot in den Mund, stand vom Tisch auf und ging zur Tür. Auf den aufgequollenen Dielen fühlten sich ihre bloßen Füße kalt an. Sie schlüpfte in ihre Gummistiefeletten und griff nach den Einkaufsnetzen mit den leeren Flaschen. Kristie legte sich ihr improvisiertes »Tragjoch« auf die Schultern, einen Besenstiel, der mit einer alten Decke gepolstert war und zwei Plastikeimer trug. »Ich dachte, heute Morgen wäre Benj an der Reihe«, sagte Lily.
Amanda schnaubte und zupfte sich die Haare zurecht, wobei sie den dunklen Bildschirm des Fernsehers als Spiegel benutzte. Wie üblich gab es keinen Strom. »Dieser Faulpelz liegt noch in den Federn. Ich schwöre dir, er würde die ganzen Schulferien in seiner Bude verbringen, wenn ich ihn nicht rauswerfen würde.«
Lily zerzauste Kristies Lockenschopf. »Ach, so ist das nun mal in seinem Alter. Zum Glück hast du in deiner Tochter ja eine willige Arbeiterin.«
Amanda, gestresst wie immer, wurde ein wenig nachgiebiger. »Ja, das weiß ich. Und ich bin froh, dass du hier bist, Lil. Keine Ahnung, wie wir das sonst alles schaffen sollten. Gott weiß, wie wir zurechtkommen werden, wenn die Schule wieder anfängt und immer noch so schreckliche Zustände herrschen.«
»Ich verdiene mir bloß meine Kost und Logis.« Lily schnappte sich Amandas Gartenhandschuhe. »Na komm, Kleine, bringen wir’s hinter uns.« Kristie öffnete die Haustür.
»Wenn ihr zurückkommt, bin ich weg«, rief Amanda. »Ich hole Benj aus dem Bett, damit er euch die Tür aufmacht …«
»Ich hab meinen Schlüssel dabei«, rief Kristie zurück. »Bis heute Abend, Mum. Hab dich lieb.«
»Ich dich auch. Bis dann!«
 
Kristie überließ es Lily, die Tür zuzuziehen. Diese war bei der Überschwemmung vor vier Wochen aufgequollen und passte seither nicht mehr richtig in den Rahmen. Zu zweit stapften sie den von schmutzigen Sandsäcken gesäumten, kurzen Weg durch den Vorgarten entlang und traten auf die Straße hinaus.
Sie gingen in südwestlicher Richtung, weg von der tief stehenden Morgensonne, zum Fluss hinunter. Dabei blieben sie meist auf dem Bürgersteig, aber es gab Stellen, wo das Wasser die Steinplatten angehoben hatte und man beiseitetreten musste. Obwohl die Straßen selbst im Großen und Ganzen geräumt worden waren, standen immer noch ein paar aufgegebene, rücksichtslos von der Fahrbahn geschobene Autos herum. Das Innere war zerstört, die Fenster waren eingeschlagen, die Radkappen und Reifen hatte man so gut wie alle abmontiert, das Benzin abgesaugt.
Überall stand Wasser - in den Rinnsteinen, Parks und Gärten, auf den Flachdächern der Tankstellen. Aber jeder wusste, dass man es nicht trinken konnte, nicht einmal, wenn man es geschafft hätte, es zu filtern und abzukochen; das stehende Wasser war vom Schmutz einer Millionenstadt verunreinigt, deren Wasseraufbereitungs- und Kläranlagen samt und sonders überflutet worden waren.
Wie schon seit Tagen war der Himmel völlig wolkenlos, und obwohl der übliche Gestank von Schlamm und Abwasser von der Brühe aufstieg, kündete die belebende Frische der Luft von dem typisch englischen Sommertag, der ihnen bevorstand. Die Luft war sogar sauberer als zuvor, weil es auf den Straßen so wenig Verkehr gab.
Kristie ging schweigend neben Lily her. Sie hatte eine schwermütige Miene aufgesetzt, als wollte sie niedergeschlagen und älter wirken. Aber sie hielt ihre Rolle nicht lange durch; im Sonnenschein hüpfte sie und sprang in die schmutzigen Pfützen. Elf war ein kompliziertes Alter, dachte Lily.
Sie kamen zum Wassertank. Lily und Kristie waren nicht die Ersten; das waren sie nie. Es hatte sich bereits eine geduldige Schlange gebildet, Anwohner mit Eimern, Flaschen und Plastikschüsseln, beaufsichtigt von einem jungen, gelangweilt dreinschauenden Hilfspolizisten. Der Wassertank war ein großer blauer Plastikcontainer mit einem Einfüllstutzen und einem einzelnen Messinghahn, den man ohne viel Federlesens an der Straßenecke aufgestellt hatte. Er sollte mehrmals am Tag von den großen Militärtankwagen gefüllt werden, aber die Anwohner hatten aus Erfahrung gelernt, dass man sich nur auf die morgendlichen und abendlichen Lieferungen verlassen konnte, und selbst die erfolgten zu unregelmäßigen Zeiten.
Sie stellten sich in die Schlange. Abgesehen von den leuchtenden Farben der Plastikeimer war dies eine mittelalterliche Szenerie, dachte Lily. Schmutzige Leute in schäbiger Kleidung, die sich am Brunnen anstellten. Aber zumindest waren die Unordnung und Panik der ersten Tage abgeklungen. Inzwischen hatte sich eine provisorische Regelung herausgebildet, derzufolge jeder Haushalt so viel Wasser bekam, wie zwei Personen wegtragen konnten. Die Nachbarn hatten rasch gelernt, für wen man Ausnahmen machen musste und wer Hilfe brauchte.
Lily waren die Gesichter in den Schlangen vage vertraut, obwohl sie nur wenige mit Namen kannte. Da waren die »Krankenschwestern«, zwei Rentnerinnen von sechzig, siebzig Jahren, vielleicht ein gealtertes Liebespaar. Da war der »alleinstehende Vater«, dünn, von Sorgen gezeichnet, stark tätowiert, nicht älter als fünfundzwanzig, mit dem ramponierten Einkaufswagen voller Colaflaschen, die er für seine drei kleinen Kinder füllte. Da waren die »Yuppies«, ein gestresst aussehendes junges Paar mit tief in den Höhlen liegenden Augen, das erlebt hatte, wie sich ihre Jobs in der City in Luft auflösten, und das den erfolgreichen, koffeingespeisten Lebensstil zugunsten durchweichter Almosenempfängerschlangen wie dieser hatte aufgeben müssen. An diesem Morgen beklagten sich die beiden über die Schwierigkeit, sich Geld zu beschaffen, weil die Geldautomaten die meiste Zeit außer Betrieb waren und die Kreditkartenleser in den Geschäften und Kaufhäusern nur selten funktionierten.
Niemand blickte die Straße entlang. Niemand schenkte dem ausgedehnten, stillen See, der dort im Morgenlicht schimmerte, die geringste Aufmerksamkeit, obwohl dieser Anblick jedermann noch vor ein paar Wochen in Erstaunen versetzt hätte. Dies war nicht der Fluss, sondern streng genommen die »Hammersmith-Bucht«, eine weitläufige Senke, in der das Hochwasser hinter einem höheren Wall gefangen war. An seinem Rand glitt die Straße einfach ins Wasser, der Bürgersteig, die Straßenschilder und Verkehrsampeln versanken darin, und kleine Wellen plätscherten gegen die Türen verlassener Häuser und Läden.
Die Schlange rückte quälend langsam vor. So war es immer - der einzelne Hahn war knauserig. Lily fand es bemerkenswert, wie viel Zeit man jetzt mit den elementarsten Dingen des Lebens verbrachte, Wasser nach Hause zu schleppen, sich im Supermarkt für die an diesem Tag gerade erhältlichen Nahrungsmittel anzustellen oder zu Fuß zur Arbeit zu gehen, wie es Amanda jeden Morgen tat, ein Weg, der früher Minuten gedauert hatte und sich jetzt über Stunden hinziehen konnte.
Aber Lily war fähig, das zu ertragen. Sie schien in jenen langen, leeren Tagen in Barcelona - insbesondere während ihrer Einzelhaft - so etwas wie eine seelische Disziplin entwickelt zu haben. Es gelang ihr mit Hilfe der konstruktiven Teile ihres Geistes, Zeiten der Leere - Stunden, ganze Tage - wartend zu überstehen; sie konnte ihren Fluchtreflex abschalten, wie ein Psychologe nach der Befreiung zu ihr gesagt hatte.
Allerdings war es heute nicht so schlimm. Sie fand es erstaunlich, wie sich die allgemeine Laune hob, wenn die Sonne schien. Die Londoner, die in dieser englischen Straße schmutzig und gleichmütig Schlange standen, waren durchaus guter Dinge. Viele von ihnen sahen hoffnungsvoll auf Handys, die immer noch fast den ganzen Tag lang keinen Empfang hatten. Manche pfiffen vor sich hin oder plauderten miteinander, andere starrten geistesabwesend ins Leere, während die Angels in ihren Köpfen flüsterten, und um sie herum glänzten die roten Schindeln der Dächer ihrer dicht an dicht stehenden Vorstadthäuser im Sonnenschein.
Kristie summte mit der glasigen Miene einer Angel-Benutzerin vor sich hin - obwohl die nur gespielt war, denn Lily wusste zufällig, dass ihr Angel an diesem Morgen nicht funktionierte; Kristie hatte vergessen, ihn ans Ladegerät anzuschließen, als am vergangenen Abend der Strom eingeschaltet worden war. Lily verspürte eine jähe Aufwallung von Zuneigung. Ihre Nichte gehörte zu einer Generation, die lernen musste, ein auf die elementaren Dinge reduziertes Leben zu führen, einer Generation, für die Worte wie »Wassertank«, »Abwasser« und »Triage« viel wichtiger wurden als »E-Mail«, »Handy« und »Angel«. Die Überschwemmung mit all ihren Folgen hatte zahllose Leben wie das von Kristie überspült, dachte sie, ein kosmischer Eingriff in die ohnehin schon verwickelten Geschichten von Eltern und Kindern, Liebespaaren und Feinden. So ähnlich, vermutete sie, wie ihre eigene plötzliche Auferstehung aus der Vorhölle sie in den Schoß von Amanda und ihren Kindern geworfen hatte. Lily wollte Kristie erneut die Haare strubbeln, verwarf es aber dann als zu kindisch.
Endlich erreichten sie die Spitze der Schlange und bückten sich, um ihre Flaschen und Eimer zu füllen. Als sie fertig waren, stapften sie wieder nach Hause. Wasser war immer unverhältnismäßig schwer, aber sie hatten ein gutes System ausgearbeitet: Der Besenstiel verteilte die Last auf die Schultern, die Gartenhandschuhe schützten die Hände, in denen sie die schweren Einkaufsnetze hielten. So mühten sie sich die kleine Anhöhe hinauf.
Ein Sportflugzeug brummte über sie hinweg. Sie blieben beide stehen und sahen nach oben. Das war etwas Neues; für gewöhnlich hörte man nur Hubschrauber. Der Rumpf des Flugzeugs war knallrot, ein juwelenartiges Spielzeug im blauen Morgenhimmel, und es zog ein zerfleddertes Spruchband hinter sich her.
»Ein Fliegendes Auge«, sagte Kristie.
Vielleicht. Aber es war nicht hier, um den Verkehr zu beobachten. Lily kniff die Augen zusammen und konnte gerade so eben die Worte auf dem Spruchband erkennen: SEHT DIE COCKNEYS SCHWIMMEN DOT COM. Lily hatte davon gehört, eine Gruppe provinzieller London-Hasser, die sich in das von Überwachungskameras und Handys aufgenommene Material über die noch längst nicht ausgestandene Katastrophe hackten und ausgewählte Szenen weiterverbreiteten.
Kristie reagierte nicht darauf, und Lily hoffte, dass sie die Botschaft nicht hatte lesen können.
 
Als sie zu dem verschlossenen Haus zurückkamen, stellte sich erwartungsgemäß heraus, dass Kristie ihren Schlüssel doch nicht dabei hatte. So waren Elfjährige nun einmal. Kristie hämmerte gegen die Tür und schrie nach Benj. Lily war erleichtert, als dieser nach ein paar Minuten aus seinem Zimmer heruntergeschlurft kam.
»Glotze läuft«, sagte er ohne Begrüßung. Kristie setzte die Wassereimer ab und lief hinein.
Lily schob die Eimer beiseite, so dass sie die Tür schließen konnte, und setzte ihre eigene Last ab. Im Haus war der große Bildschirm hell, der Ton auf volle Lautstärke gestellt. Es klang nach einem Nachrichtenkanal.
Der Fernseher lief also. Und was viel wichtiger war: Das bedeutete, dass es Strom gab - ungewöhnlich für einen frühen Morgen. Lily ging in die Küche. Sie füllte den Wasserkocher, schaltete ihn ein, öffnete Dosen und suchte nach dem Kochbeutelreis. Mit etwas Glück bekam sie das Mittagessen fertig, bevor der Strom wieder ausfiel.
Von der Küche aus konnte sie den Fernseher gerade eben sehen. Es liefen Lokalnachrichten, mit weiteren Details der Überschwemmung. Die Auswirkungen auf die Tier- und Pflanzenwelt wurden gezeigt - Erdhöhlenbewohner, wie Maulwürfe und Wühlmäuse, wurden aus dem gesättigten Erdreich getrieben, Bodenbrüter, wie Uferschwalben und Austernfischer, verscheucht. Ein Platzwart holte Fische aus einem See auf dem überfluteten Cricketplatz des Oval; man vermutete, dass es sich um einen Streich handelte, dass sie dort ausgesetzt worden waren.
Dann wechselte das Bild, und man sah eine Luftaufnahme einer weiteren überfluteten Landschaft. Dies war der Golf von Bengalen, besagten die Bildunterschriften, die Küste von Bangladesh, ein komplexes Delta, wo der Brahmaputra und der Ganges ins Meer mündeten und der größte Teil der Bevölkerung eines armen Landes an der Küste oder auf nahen Inseln sein karges Leben fristete. Nur ein kleiner Teil dieser Landschaft lag mehr als zwei Meter über dem Meeresspiegel. Jetzt war die Flut gekommen, und ganze Inseln waren im Meer verschwunden. Lily sah Vorher-undnachher-Bilder, Lagunen mit Shrimpfarmen und Kokosnusspalmen, die im Wasser versunken waren; nur eine Handvoll Überlebender klammerte sich noch an Bäume und die Dächer zerstörter Häuser aus Lehm und Stroh.
Die Kamera fuhr zurück und zeigte lange Reihen von Flüchtlingen mit schlammfarbener Kleidung, die auf der Suche nach trockenem Land durch knietiefes Wasser wateten. Allein schon in dieser einen verwackelten Aufnahme waren es ungeheuer viele, Erwachsene und Kinder. Auch höher entwickelte Gebiete waren nicht verschont geblieben: Ein geborstener Damm hatte einen Flugplatz in einen See verwandelt, in dem sich Helikopter und Militärflugzeuge übereinander stapelten. Lily konnte dem Kommentar nicht entnehmen, ob ein Unwetter zugeschlagen hatte, ein Taifun vielleicht. Es klang, als wäre das Meer einfach angestiegen und hätte diese Schäden angerichtet.
Und als führe die Kamera noch weiter zurück, wurde nun eine Weltkarte eingeblendet, auf der die Umrisse der Kontinente - die Küstenlinien und großen Flussmündungen - in leuchtendem Blau hervorgehoben waren. Das Blau war eine Grafik, die zeigte, dass sich überall Hochwasserkatastrophen ereigneten, in Nord- und Südamerika, Nord- und Südeuropa, Indien, Asien, Afrika und Australien. Ganze Tieflandregionen, wie Bangladesh, Florida, Louisiana, die Niederlande, waren ebenso bedroht wie dicht bevölkerte Flussdeltas. In Großstädten, wie New York, Vancouver, Tokio und Shanghai, trafen die Einwohner, die Zeugen der Wehen von London und Sydney geworden waren, nun hektisch ihre eigenen Vorbereitungen.
Zehn Prozent der Menschheit lebten unterhalb einer Höhe von zehn Metern über dem Meeresspiegel - viele Hundert Millionen Menschen. Jetzt vertrieb sie das gestiegene Meer, oder die Angst vor ihm, aus ihren Heimen, eine gewaltige Fluchtbewegung, die den gesamten Planeten erfasste … Doch die Bilder verschwammen nach einer Weile, ein verzweifelter Strom regennasser Flüchtlinge glich weitgehend dem anderen.
Eine Laufschrift berichtete von der misslichen Lage der Fußballmannschaft von Newcastle, die nach der Niederlage im Cup-Finale in Mumbai festsaß. Und dann war Schluss mit den Nachrichten, als Benj durch die Kanäle zappte und schließlich bei einem Kinderkanal landete, auf dem ein blutrünstiger Zeichentrickfilm lief.
Lily hatte gerade den Reis gekocht, als der Strom wieder ausfiel. Der Fernseher wurde dunkel, und die beiden Kinder stöhnten frustriert. Lily goss hastig den Rest des kochenden Wassers in eine andere Thermoskanne und gab ein paar Löffel Pulverkaffee dazu.
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
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