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MAI 2019
»Ihr müsst weg aus Postbridge, Amanda. Du und die
Kinder. Sofort.«
Amanda starrte ihre Schwester an. Lily stand in der
Tür des Wohnwagens, den Rucksack zu ihren Füßen. Sie trug einen
abgewetzten blauen Overall mit aufgenähten AxysCorp-Logos. Lily war
tief gebräunt, das ergrauende Haar kurz geschoren. Sie wirkte
schlank und fit, sah aber angespannt aus.
Wayne saß am Tisch des Wohnwagens und bearbeitete
ein Stück Leder, das für ein Geschirr gedacht war. Mit seinen
einunddreißig Jahren war er jünger als die beiden Frauen. Amanda
bemerkte, wie er Lilys Körper taxierte, ihre vom Overall
abgeflachten und verborgenen Kurven. So verhielt er sich bei jeder
Frau, der er begegnete, selbst bei denen in seiner unmittelbaren
Umgebung - unangenehmerweise auch bei der vierzehnjährigen Kristie.
Es war eine Gewohnheit, die Amanda zu ignorieren gelernt
hatte.
Lily ignorierte ihn ebenfalls. Ihr Blick blieb auf
Amandas Gesicht gerichtet.
»Wie lange ist es her, dass wir uns zum letzten Mal
gesehen haben?«, fragte Amanda. »Über ein Jahr … Wo hast du noch
gleich gearbeitet?«
»In Peru. Bei einem großen AxysCorp-Projekt.«
»Peru? Südamerika? Ich dachte, Nathan wollte sich
auf Island verkriechen.«
»Planänderung.«
»Aber Peru, du liebe Zeit! Na ja, dir tut’s
offenbar gut.«
»Ihr müsst weg von hier«, wiederholte Lily.
»Warum?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Kommt mit mir nach
London. Von dort werden wir außer Landes gebracht. Ich habe ein
Auto. Es ist an den Straßensperren angehalten worden, so dass ich
laufen musste, aber es wird uns in Cheriton Bishop abholen.« Das
war eine Ortschaft an der A30, der Fernverkehrsstraße, die von
Dartmoor nach Osten führte.
»London ist abgesoffen«, sagte Wayne spöttisch zu
Lily. Sein Londoner Akzent war nicht zu überhören.
Lily ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »In
Marlow wartet ein Boot. Und weiter stromabwärts dann ein
Helikopter.«
»Warum kann der Helikopter nicht einfach
hierherkommen?«, fragte Amanda.
»Zu gefährlich.«
Amanda wusste, was sie meinte. Hier oben waren die
Leute alle ein bisschen provinziell und den Londonern und den
Leuten aus Birmingham, die noch immer aus ihren überschwemmten
Vororten über Salisbury Plain oder die Cotswolds herbeigeströmt
kamen, feindlich gesonnen. Die Straßensperren waren das eine, aber
Gerüchten zufolge hatte jemand einen Polizeihubschrauber mit einer
Boden-Luft-Rakete abgeschossen wie so ein Terrorist in
Beirut.
»AxysCorp meint …«, begann Lily.
»AxysCorp hier, AxysCorp da«, fiel Wayne ihr ins
Wort.
»Großkonzerne. Reisen durchs Land. Ihr seid wie ein Überbleibsel
aus der Vergangenheit, aus dem letzten Jahrhundert. Ihr spielt
keine Rolle mehr.«
»Sie ist meine Schwester«, sagte Amanda in ruhigem
Ton, bemüht, ihn nicht zu provozieren. »Und sie hat den weiten Weg
hierher zurückgelegt, um mit mir zu reden. Ich sollte ihr
wenigstens zuhören …«
»Blödsinn!« Wayne warf die Lederstücke auf den
Tisch, steckte sein Messer in den Gürtel und stand auf. Er war ein
richtiger Hüne, muskulös und gebräunt von der Arbeit im Freien,
obwohl er das »Londoner Fett«, wie er es nannte, selbst nach acht
oder neun Monaten hier oben auf Dartmoor immer noch nicht ganz
losgeworden war. Man hätte ihn als gut aussehend bezeichnen können,
dachte Amanda, die ihn mit Lilys Augen betrachtete. Das Beste an
ihm waren seine blauen Augen. Aber diese Augen waren kalt, als er
auf Lily herabschaute, und seine Miene war ausdruckslos.
»Du gehörst zur Familie«, sagte er zu Lily. »Du
kannst für eine Nacht Unterkunft und Verpflegung bekommen. Wenn du
länger bleiben willst, musst du arbeiten. Jeder muss arbeiten. So
ist das jetzt. Wir haben keinen Platz für Schnorrer.«
»Was ich mit meiner Schwester zu bereden habe, geht
nur sie und mich etwas an«, erwiderte Lily gefährlich leise.
Er trat näher heran und schrie auf sie herab: »Wir
sind jetzt zusammen, ich und Amanda und die Kinder. Also geht’s
auch mich was an, kapiert?«
Lily stand völlig reglos da. Ihm gegenüber wirkte
sie noch zierlicher. Sie hatte sich so verändert, dachte Amanda.
Ihr war diese typische Reglosigkeit an Lily schon nach ihrer
Rückkehr aus der Gefangenschaft aufgefallen. Außerdem war sie
natürlich eine altgediente Angehörige der US Air Force. Amanda
zweifelte nicht daran, dass Wayne mit einem gebrochenen Arm auf dem
Rücken landen würde, wenn er sie weiterhin bedrohte.
Sie trat zwischen die beiden und nahm Lilys Hand.
»Hör mal, wir reden darüber. Das kann ja nicht schaden,
oder?«
Wayne schnaubte, den Blick immer noch auf Lily
gerichtet. Aber er wich zurück, setzte sich wieder, zog sein Messer
und machte sich erneut daran, das Leder zu bearbeiten, mit harten,
energischen Bewegungen.
»Komm«, sagte Amanda zu Lily. »Trinken wir eine
Tasse Tee.«
»Du hast immer noch Tee?«
»O nein«, erwiderte Amanda trübselig. »Hab den
letzten Rest meines Vorrats schon vor Monaten aufgebraucht. Aber
man kann ein ganz vernünftiges Gebräu aus Brennnesseln machen
…«
»Wie wär’s mit einem Spaziergang?«, fragte Lily und
verengte die Augen.
Wayne blickte auf. »Also, ich hab keine besonders
feinen Antennen, Schätzchen. Wenn du ein Problem mit mir hast, dann
nur raus damit.«
»Ich habe dir nichts zu sagen.«
In Lilys Stimme lag keine Verachtung, aber Amanda
wusste, dass eine weitere solche Bemerkung Wayne wahrscheinlich in
Rage bringen würde; er mochte es nicht, wenn man ihm keine
Beachtung schenkte. Sie schnappte sich ihre Jacke von einem Haken
hinter der Tür und schlüpfte in ihre Stiefel. »Wir gehen«, sagte
sie mit fester Stimme. »Ich zeige dir alles …«
Lily hob ihren Rucksack auf und schlang ihn sich
über die Schultern - als hätte sie nicht die Absicht, hierher
zurückzukehren.
Schweigend gingen sie durch Postbridge. Amanda
spürte, dass sie beide Zeit brauchten, um die von der Szene im
Wohnwagen ausgelöste Spannung abzubauen.
Postbridge war ein hübsches kleines Dorf mitten in
Dartmoor, nicht viel mehr als ein paar vereinzelte Bauernhöfe, ein
Wirtshaus und eine Kapelle. Über den East Dart River führte eine
Steinbrücke, eine mittelalterliche Konstruktion, die sich Clapper
Bridge nannte, wie Amanda gelernt hatte. Die Sonne stand tief. Es
war ein heller Frühlingstag. Dies war eine typisch englische
Postkartenszenerie, wenn auch mit modernen Elementen wie Telefon-
und Strommasten und einem Mobilfunkmast.
Man merkte überhaupt nicht, dass sich etwas
verändert hatte, dachte Amanda plötzlich. Sie waren hier weit von
der Küste entfernt. Man merkte nicht, dass eine gewaltige Flut die
ganze Welt aus dem Lot gebracht und Großbritannien in über dreißig
Meter tiefem Wasser hatte versinken lassen, so dass Südengland sich
in einen Archipel verwandelt hatte. Was war anders? Vielleicht
Kinder, die an einem Schultag draußen spielten oder sogar auf dem
Feld arbeiteten, wie ihre beiden; die Dorfschule meldete, dass nur
fünfzig Prozent der Schüler am Unterricht teilnahmen. Dann das
Fehlen jeglichen Verkehrs, obwohl sie das kehlige Brummen von
Landwirtschaftsfahrzeugen auf den Feldern hörte. Keine Zeitungen in
dem kleinen Postamt; das Daily Mail-Bord war leer, kahl und
verwittert. Die englischen Fahnen, die auf jedem
Dach und vor jedem Fenster flatterten, sogar an den Antennen der
stehenden Wagen; das allgegenwärtige Georgskreuz. Und natürlich die
Wärme, diese ganz und gar nicht der Jahreszeit entsprechende Wärme,
die den Winter hindurch angehalten und die murrenden Bauern dazu
gebracht hatte, ihre Felder früher als gewohnt zu bestellen. Aber
Postbridge war plötzlich ein attraktiver Ort geworden, wie man an
den Wohnwagen, Mobilheimen und Zelten erkennen konnte, die sich um
den alten Kern des Dorfes drängten, darunter auch Amandas
Wohnwagen, denn es lag mehr als dreihundert Meter über dem früheren
Meeresspiegel. Sie befanden sich hier im Herzen von Dartmoor, dem
höchstgelegenen Gebiet in Südengland.
Sie sah an sich selbst hinab: abgewetzte
Steppjacke, abgetragene Jeans, schwere Wanderstiefel. Sie sah aus
wie eine Bäuerin - und das war sie ja praktisch auch, obwohl sie
und Wayne nicht geheiratet hatten. Die Amanda von 2015 hätte die
von 2019 nicht wiedererkannt.
Lily blickte sich neugierig im Dorf um. »In den
Staaten sieht man überall die Fahne, das Sternenbanner, und gelbe
Bänder an den Bäumen, für die Opfer der Flut. Aber ich kann mich
nicht erinnern, in England jemals so viele Fahnen gesehen zu haben.
Außer in der Zeit vor der Absage der
Fußballweltmeisterschaft.«
Das entlockte Amanda ein Lächeln. »Sie spielen
tatsächlich immer noch Fußball, viele der großen Stadien im Norden
sind offen geblieben. Eine verkleinerte Liga, je nachdem, wer zu
den Spielen kommen kann. Wayne verfolgt sie im Radio. Bradford City
steht an der Tabellenspitze, stell dir das vor. Zumindest haben
sie’s aufgegeben, große Spiele im Ausland
zu veranstalten. Ist aber schade um die Weltmeisterschaft …«
Die Schwestern verließen das Dorf und folgten einem
Fußweg nach Süden. Sie kamen nicht weit, dann stießen sie auf die
Stacheldrahtumzäunung des Dorfes. Eine primitive Schranke aus einem
umgelegten Telefonmast versperrte den Weg. Heute hielt hier Bill
Pulford Wache, der Sohn eines ortsansässigen Bauern. Er nickte
Amanda zu und ließ sie durch.
Amanda bemühte sich, das Eis zu brechen. »Wir sind
nicht weit vom Bellever Tor.« Die Tors, massive Granithügel, die
aus dem Torfmoor ragten, waren in den Zeiten, als Dartmoor noch ein
Touristenmagnet gewesen war, das berühmteste Wahrzeichen dieser
Region gewesen. »Da ist ein Wald. Nur Nadelbäume, aber es gibt
jetzt jede Menge Vögel. Die sind wohl aus den überschwemmten Tälern
heraufgekommen. Und ein paar archäologische Stätten, prähistorische
Steinringe …«
»Wo sind die Kinder?«
»Die arbeiten. Ein paar Kilometer in dieser
Richtung …« Amanda deutete auf das Land hinaus. »Die neuen Felder
sind abgesteckt, müssen aber noch gerodet werden, und dafür
brauchen die Bauern immer kräftige Leute. Mir wär’s lieber, sie
gingen zur Schule, aber was soll man machen? Benj ist jetzt
sechzehn, Kristie vierzehn, die treffen ihre eigenen
Entscheidungen. Jedenfalls ist die Arbeit im Freien gut für sie,
und sie werden bezahlt.«
»Womit?«
»Mit der lokalen Ersatzwährung.« Amanda wühlte in
ihrer Tasche und zeigte Lily eine Handvoll Geld. Es waren alte
Pfund- oder Euroscheine und Münzen, deren Markierungen
den örtlichen Tauschwert widerspiegelten. »Wir kriegen natürlich
noch Sachen von auswärts, aber …«
»Kannst du die Kinder anrufen? Habt ihr
Handys?«
»Natürlich haben wir Handys.« Reflexhaft holte
Amanda ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche. Es war vier Jahre
alt, nach früheren Maßstäben längst überholt; tatsächlich hatte es
die Überschwemmung Londons zusammen mit ihr überstanden.
»Ruf sie an«, drängte Lily. »Jetzt gleich. Sag
ihnen, sie sollen sich mit uns treffen. Vielleicht an dem Tor, den
du erwähnt hast? Wissen sie, wie sie da hinkommen?«
Amanda wog das Handy stirnrunzelnd in der Hand.
»Ich weiß nicht, ob ich das tun soll.«
»Bitte, Amanda. Ich würde dich nicht darum bitten,
wenn es nicht wichtig wäre.«
»Und was dann?«
»Ich hab’s dir gesagt. Wir verschwinden von hier,
wir vier - nach Cheriton Bishop, zu dem Wagen.«
»Das müssen zwanzig Kilometer sein. Oder
mehr.«
Lily sah kurz zur Sonne hinauf. »Es ist noch nicht
spät. Ich bin gestern und heute Vormittag zu Fuß hierhergekommen.
Ich habe in einem Pub übernachtet. Vier, fünf Stunden, das müsste
reichen. Der Wagen wird warten, bis die Sonne untergeht, oder noch
länger, wenn ich anrufe.«
»Und dann fahren wir alle einfach weg? So hast du
dir das vorgestellt?« Zorn loderte in Amanda auf. »Weißt du, du
hast wirklich Nerven, Lily. Springst einfach ohne Vorankündigung
wieder mitten in mein Leben rein. In mein Leben, das Leben,
das ich mir hier aufgebaut habe, mir und den Kindern. Es war nicht
leicht, weißt du.«
»Ich habe nicht vor, dir irgendwas kaputt zu
machen.« Lily klang gequält und müde; hinter ihrer
südamerikanischen Bräune wirkte sie ausgelaugt.
»Du gibst dir alle Mühe, dich zwischen mich und
Wayne zu stellen, nicht wahr?«
»Das ist ebenso wenig meine Absicht. Bitte, Amanda,
hör auf mich - du musst mir vertrauen.«
»Warum?«
»Ich habe versprochen, das nicht zu
verraten.«
»Wem versprochen? AxysCorp, dem großen Nathan
Lammockson? Warum willst du nichts sagen?«
»Weil es eine Panik auslösen würde.«
Das gab Amanda zu denken. Eine Panik? Amanda hatte
so etwas schon erlebt, eine hektische Form der Panik in Greenwich
an jenem Tag, als das Themse-Sperrwerk versagt hatte, und später
eine länger andauernde, elende Art von Panik, als der Fluss wieder
zu steigen begann und Westlondon evakuiert werden musste. Aber hier
war sie auf Dartmoor, weit oberhalb jeder Flutlinie. Was für einen
Grund konnte es geben, hier in Panik zu geraten? Sie verspürte
Widerstreben, Zorn und Unwillen.
Lily las es in ihrem Gesicht. »Bitte, Amanda, die
Kinder.« Amanda musste ihr vertrauen; Lily war ihre Schwester. Und
außerdem, so dachte sie bei sich, konnte sie jederzeit wieder
hierher zurückkommen, wenn der Wirbel vorbei war, worum auch immer
es sich handeln mochte. Sie hob ihr Handy. »Soll ich ihnen sagen,
dass sie vorher noch beim Wohnwagen vorbeigehen und ihre Sachen
holen sollen …«
»Nein«, sagte Lily. »Vergiss den Wohnwagen, vergiss
das Packen. Sie sollen sich einfach nur mit uns treffen.
Bald!«
»Es wird Wayne gar nicht gefallen, wenn er
rausfindet, dass du dich mit uns wegschleichen willst, falls du das
vorhast.«
»Dann sag’s ihm nicht.« Lily schloss die Augen, und
ein Muskel in ihrer Wange arbeitete. »Also gut, wir treffen eine
Abmachung. Sobald ich dich und die Kinder im AxysCorp-Wagen habe,
kannst du Wayne anrufen oder wen immer du willst. Wayne steht bei
mir nicht an erster Stelle. Ebenso wenig wie deine Gefühle. Nur ihr
seid mir wichtig, du und die Kinder. Eure Sicherheit.«
»Du machst mir Angst«, sagte Amanda, obwohl sie
immer noch eher zornig als verängstigt war.
»Gut«, erwiderte Lily unverblümt. »Erledige deine
Anrufe. Bitte, Amanda.«
Also drückte Amanda die Kurzwahltasten und rief
an.