37
MAI 2019
»Ihr müsst weg aus Postbridge, Amanda. Du und die Kinder. Sofort.«
Amanda starrte ihre Schwester an. Lily stand in der Tür des Wohnwagens, den Rucksack zu ihren Füßen. Sie trug einen abgewetzten blauen Overall mit aufgenähten AxysCorp-Logos. Lily war tief gebräunt, das ergrauende Haar kurz geschoren. Sie wirkte schlank und fit, sah aber angespannt aus.
Wayne saß am Tisch des Wohnwagens und bearbeitete ein Stück Leder, das für ein Geschirr gedacht war. Mit seinen einunddreißig Jahren war er jünger als die beiden Frauen. Amanda bemerkte, wie er Lilys Körper taxierte, ihre vom Overall abgeflachten und verborgenen Kurven. So verhielt er sich bei jeder Frau, der er begegnete, selbst bei denen in seiner unmittelbaren Umgebung - unangenehmerweise auch bei der vierzehnjährigen Kristie. Es war eine Gewohnheit, die Amanda zu ignorieren gelernt hatte.
Lily ignorierte ihn ebenfalls. Ihr Blick blieb auf Amandas Gesicht gerichtet.
»Wie lange ist es her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben?«, fragte Amanda. »Über ein Jahr … Wo hast du noch gleich gearbeitet?«
»In Peru. Bei einem großen AxysCorp-Projekt.«
»Peru? Südamerika? Ich dachte, Nathan wollte sich auf Island verkriechen.«
»Planänderung.«
»Aber Peru, du liebe Zeit! Na ja, dir tut’s offenbar gut.«
»Ihr müsst weg von hier«, wiederholte Lily.
»Warum?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Kommt mit mir nach London. Von dort werden wir außer Landes gebracht. Ich habe ein Auto. Es ist an den Straßensperren angehalten worden, so dass ich laufen musste, aber es wird uns in Cheriton Bishop abholen.« Das war eine Ortschaft an der A30, der Fernverkehrsstraße, die von Dartmoor nach Osten führte.
»London ist abgesoffen«, sagte Wayne spöttisch zu Lily. Sein Londoner Akzent war nicht zu überhören.
Lily ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »In Marlow wartet ein Boot. Und weiter stromabwärts dann ein Helikopter.«
»Warum kann der Helikopter nicht einfach hierherkommen?«, fragte Amanda.
»Zu gefährlich.«
Amanda wusste, was sie meinte. Hier oben waren die Leute alle ein bisschen provinziell und den Londonern und den Leuten aus Birmingham, die noch immer aus ihren überschwemmten Vororten über Salisbury Plain oder die Cotswolds herbeigeströmt kamen, feindlich gesonnen. Die Straßensperren waren das eine, aber Gerüchten zufolge hatte jemand einen Polizeihubschrauber mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wie so ein Terrorist in Beirut.
»AxysCorp meint …«, begann Lily.
»AxysCorp hier, AxysCorp da«, fiel Wayne ihr ins Wort. »Großkonzerne. Reisen durchs Land. Ihr seid wie ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, aus dem letzten Jahrhundert. Ihr spielt keine Rolle mehr.«
»Sie ist meine Schwester«, sagte Amanda in ruhigem Ton, bemüht, ihn nicht zu provozieren. »Und sie hat den weiten Weg hierher zurückgelegt, um mit mir zu reden. Ich sollte ihr wenigstens zuhören …«
»Blödsinn!« Wayne warf die Lederstücke auf den Tisch, steckte sein Messer in den Gürtel und stand auf. Er war ein richtiger Hüne, muskulös und gebräunt von der Arbeit im Freien, obwohl er das »Londoner Fett«, wie er es nannte, selbst nach acht oder neun Monaten hier oben auf Dartmoor immer noch nicht ganz losgeworden war. Man hätte ihn als gut aussehend bezeichnen können, dachte Amanda, die ihn mit Lilys Augen betrachtete. Das Beste an ihm waren seine blauen Augen. Aber diese Augen waren kalt, als er auf Lily herabschaute, und seine Miene war ausdruckslos.
»Du gehörst zur Familie«, sagte er zu Lily. »Du kannst für eine Nacht Unterkunft und Verpflegung bekommen. Wenn du länger bleiben willst, musst du arbeiten. Jeder muss arbeiten. So ist das jetzt. Wir haben keinen Platz für Schnorrer.«
»Was ich mit meiner Schwester zu bereden habe, geht nur sie und mich etwas an«, erwiderte Lily gefährlich leise.
Er trat näher heran und schrie auf sie herab: »Wir sind jetzt zusammen, ich und Amanda und die Kinder. Also geht’s auch mich was an, kapiert?«
Lily stand völlig reglos da. Ihm gegenüber wirkte sie noch zierlicher. Sie hatte sich so verändert, dachte Amanda. Ihr war diese typische Reglosigkeit an Lily schon nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft aufgefallen. Außerdem war sie natürlich eine altgediente Angehörige der US Air Force. Amanda zweifelte nicht daran, dass Wayne mit einem gebrochenen Arm auf dem Rücken landen würde, wenn er sie weiterhin bedrohte.
Sie trat zwischen die beiden und nahm Lilys Hand. »Hör mal, wir reden darüber. Das kann ja nicht schaden, oder?«
Wayne schnaubte, den Blick immer noch auf Lily gerichtet. Aber er wich zurück, setzte sich wieder, zog sein Messer und machte sich erneut daran, das Leder zu bearbeiten, mit harten, energischen Bewegungen.
»Komm«, sagte Amanda zu Lily. »Trinken wir eine Tasse Tee.«
»Du hast immer noch Tee?«
»O nein«, erwiderte Amanda trübselig. »Hab den letzten Rest meines Vorrats schon vor Monaten aufgebraucht. Aber man kann ein ganz vernünftiges Gebräu aus Brennnesseln machen …«
»Wie wär’s mit einem Spaziergang?«, fragte Lily und verengte die Augen.
Wayne blickte auf. »Also, ich hab keine besonders feinen Antennen, Schätzchen. Wenn du ein Problem mit mir hast, dann nur raus damit.«
»Ich habe dir nichts zu sagen.«
In Lilys Stimme lag keine Verachtung, aber Amanda wusste, dass eine weitere solche Bemerkung Wayne wahrscheinlich in Rage bringen würde; er mochte es nicht, wenn man ihm keine Beachtung schenkte. Sie schnappte sich ihre Jacke von einem Haken hinter der Tür und schlüpfte in ihre Stiefel. »Wir gehen«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich zeige dir alles …«
Lily hob ihren Rucksack auf und schlang ihn sich über die Schultern - als hätte sie nicht die Absicht, hierher zurückzukehren.
 
Schweigend gingen sie durch Postbridge. Amanda spürte, dass sie beide Zeit brauchten, um die von der Szene im Wohnwagen ausgelöste Spannung abzubauen.
Postbridge war ein hübsches kleines Dorf mitten in Dartmoor, nicht viel mehr als ein paar vereinzelte Bauernhöfe, ein Wirtshaus und eine Kapelle. Über den East Dart River führte eine Steinbrücke, eine mittelalterliche Konstruktion, die sich Clapper Bridge nannte, wie Amanda gelernt hatte. Die Sonne stand tief. Es war ein heller Frühlingstag. Dies war eine typisch englische Postkartenszenerie, wenn auch mit modernen Elementen wie Telefon- und Strommasten und einem Mobilfunkmast.
Man merkte überhaupt nicht, dass sich etwas verändert hatte, dachte Amanda plötzlich. Sie waren hier weit von der Küste entfernt. Man merkte nicht, dass eine gewaltige Flut die ganze Welt aus dem Lot gebracht und Großbritannien in über dreißig Meter tiefem Wasser hatte versinken lassen, so dass Südengland sich in einen Archipel verwandelt hatte. Was war anders? Vielleicht Kinder, die an einem Schultag draußen spielten oder sogar auf dem Feld arbeiteten, wie ihre beiden; die Dorfschule meldete, dass nur fünfzig Prozent der Schüler am Unterricht teilnahmen. Dann das Fehlen jeglichen Verkehrs, obwohl sie das kehlige Brummen von Landwirtschaftsfahrzeugen auf den Feldern hörte. Keine Zeitungen in dem kleinen Postamt; das Daily Mail-Bord war leer, kahl und verwittert. Die englischen Fahnen, die auf jedem Dach und vor jedem Fenster flatterten, sogar an den Antennen der stehenden Wagen; das allgegenwärtige Georgskreuz. Und natürlich die Wärme, diese ganz und gar nicht der Jahreszeit entsprechende Wärme, die den Winter hindurch angehalten und die murrenden Bauern dazu gebracht hatte, ihre Felder früher als gewohnt zu bestellen. Aber Postbridge war plötzlich ein attraktiver Ort geworden, wie man an den Wohnwagen, Mobilheimen und Zelten erkennen konnte, die sich um den alten Kern des Dorfes drängten, darunter auch Amandas Wohnwagen, denn es lag mehr als dreihundert Meter über dem früheren Meeresspiegel. Sie befanden sich hier im Herzen von Dartmoor, dem höchstgelegenen Gebiet in Südengland.
Sie sah an sich selbst hinab: abgewetzte Steppjacke, abgetragene Jeans, schwere Wanderstiefel. Sie sah aus wie eine Bäuerin - und das war sie ja praktisch auch, obwohl sie und Wayne nicht geheiratet hatten. Die Amanda von 2015 hätte die von 2019 nicht wiedererkannt.
Lily blickte sich neugierig im Dorf um. »In den Staaten sieht man überall die Fahne, das Sternenbanner, und gelbe Bänder an den Bäumen, für die Opfer der Flut. Aber ich kann mich nicht erinnern, in England jemals so viele Fahnen gesehen zu haben. Außer in der Zeit vor der Absage der Fußballweltmeisterschaft.«
Das entlockte Amanda ein Lächeln. »Sie spielen tatsächlich immer noch Fußball, viele der großen Stadien im Norden sind offen geblieben. Eine verkleinerte Liga, je nachdem, wer zu den Spielen kommen kann. Wayne verfolgt sie im Radio. Bradford City steht an der Tabellenspitze, stell dir das vor. Zumindest haben sie’s aufgegeben, große Spiele im Ausland zu veranstalten. Ist aber schade um die Weltmeisterschaft …«
Die Schwestern verließen das Dorf und folgten einem Fußweg nach Süden. Sie kamen nicht weit, dann stießen sie auf die Stacheldrahtumzäunung des Dorfes. Eine primitive Schranke aus einem umgelegten Telefonmast versperrte den Weg. Heute hielt hier Bill Pulford Wache, der Sohn eines ortsansässigen Bauern. Er nickte Amanda zu und ließ sie durch.
Amanda bemühte sich, das Eis zu brechen. »Wir sind nicht weit vom Bellever Tor.« Die Tors, massive Granithügel, die aus dem Torfmoor ragten, waren in den Zeiten, als Dartmoor noch ein Touristenmagnet gewesen war, das berühmteste Wahrzeichen dieser Region gewesen. »Da ist ein Wald. Nur Nadelbäume, aber es gibt jetzt jede Menge Vögel. Die sind wohl aus den überschwemmten Tälern heraufgekommen. Und ein paar archäologische Stätten, prähistorische Steinringe …«
»Wo sind die Kinder?«
»Die arbeiten. Ein paar Kilometer in dieser Richtung …« Amanda deutete auf das Land hinaus. »Die neuen Felder sind abgesteckt, müssen aber noch gerodet werden, und dafür brauchen die Bauern immer kräftige Leute. Mir wär’s lieber, sie gingen zur Schule, aber was soll man machen? Benj ist jetzt sechzehn, Kristie vierzehn, die treffen ihre eigenen Entscheidungen. Jedenfalls ist die Arbeit im Freien gut für sie, und sie werden bezahlt.«
»Womit?«
»Mit der lokalen Ersatzwährung.« Amanda wühlte in ihrer Tasche und zeigte Lily eine Handvoll Geld. Es waren alte Pfund- oder Euroscheine und Münzen, deren Markierungen den örtlichen Tauschwert widerspiegelten. »Wir kriegen natürlich noch Sachen von auswärts, aber …«
»Kannst du die Kinder anrufen? Habt ihr Handys?«
»Natürlich haben wir Handys.« Reflexhaft holte Amanda ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche. Es war vier Jahre alt, nach früheren Maßstäben längst überholt; tatsächlich hatte es die Überschwemmung Londons zusammen mit ihr überstanden.
»Ruf sie an«, drängte Lily. »Jetzt gleich. Sag ihnen, sie sollen sich mit uns treffen. Vielleicht an dem Tor, den du erwähnt hast? Wissen sie, wie sie da hinkommen?«
Amanda wog das Handy stirnrunzelnd in der Hand. »Ich weiß nicht, ob ich das tun soll.«
»Bitte, Amanda. Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Und was dann?«
»Ich hab’s dir gesagt. Wir verschwinden von hier, wir vier - nach Cheriton Bishop, zu dem Wagen.«
»Das müssen zwanzig Kilometer sein. Oder mehr.«
Lily sah kurz zur Sonne hinauf. »Es ist noch nicht spät. Ich bin gestern und heute Vormittag zu Fuß hierhergekommen. Ich habe in einem Pub übernachtet. Vier, fünf Stunden, das müsste reichen. Der Wagen wird warten, bis die Sonne untergeht, oder noch länger, wenn ich anrufe.«
»Und dann fahren wir alle einfach weg? So hast du dir das vorgestellt?« Zorn loderte in Amanda auf. »Weißt du, du hast wirklich Nerven, Lily. Springst einfach ohne Vorankündigung wieder mitten in mein Leben rein. In mein Leben, das Leben, das ich mir hier aufgebaut habe, mir und den Kindern. Es war nicht leicht, weißt du.«
»Ich habe nicht vor, dir irgendwas kaputt zu machen.« Lily klang gequält und müde; hinter ihrer südamerikanischen Bräune wirkte sie ausgelaugt.
»Du gibst dir alle Mühe, dich zwischen mich und Wayne zu stellen, nicht wahr?«
»Das ist ebenso wenig meine Absicht. Bitte, Amanda, hör auf mich - du musst mir vertrauen.«
»Warum?«
»Ich habe versprochen, das nicht zu verraten.«
»Wem versprochen? AxysCorp, dem großen Nathan Lammockson? Warum willst du nichts sagen?«
»Weil es eine Panik auslösen würde.«
Das gab Amanda zu denken. Eine Panik? Amanda hatte so etwas schon erlebt, eine hektische Form der Panik in Greenwich an jenem Tag, als das Themse-Sperrwerk versagt hatte, und später eine länger andauernde, elende Art von Panik, als der Fluss wieder zu steigen begann und Westlondon evakuiert werden musste. Aber hier war sie auf Dartmoor, weit oberhalb jeder Flutlinie. Was für einen Grund konnte es geben, hier in Panik zu geraten? Sie verspürte Widerstreben, Zorn und Unwillen.
Lily las es in ihrem Gesicht. »Bitte, Amanda, die Kinder.« Amanda musste ihr vertrauen; Lily war ihre Schwester. Und außerdem, so dachte sie bei sich, konnte sie jederzeit wieder hierher zurückkommen, wenn der Wirbel vorbei war, worum auch immer es sich handeln mochte. Sie hob ihr Handy. »Soll ich ihnen sagen, dass sie vorher noch beim Wohnwagen vorbeigehen und ihre Sachen holen sollen …«
»Nein«, sagte Lily. »Vergiss den Wohnwagen, vergiss das Packen. Sie sollen sich einfach nur mit uns treffen. Bald!«
»Es wird Wayne gar nicht gefallen, wenn er rausfindet, dass du dich mit uns wegschleichen willst, falls du das vorhast.«
»Dann sag’s ihm nicht.« Lily schloss die Augen, und ein Muskel in ihrer Wange arbeitete. »Also gut, wir treffen eine Abmachung. Sobald ich dich und die Kinder im AxysCorp-Wagen habe, kannst du Wayne anrufen oder wen immer du willst. Wayne steht bei mir nicht an erster Stelle. Ebenso wenig wie deine Gefühle. Nur ihr seid mir wichtig, du und die Kinder. Eure Sicherheit.«
»Du machst mir Angst«, sagte Amanda, obwohl sie immer noch eher zornig als verängstigt war.
»Gut«, erwiderte Lily unverblümt. »Erledige deine Anrufe. Bitte, Amanda.«
Also drückte Amanda die Kurzwahltasten und rief an.
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
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