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Der City Airport lag östlich von Greenwich und der Isle of Dogs. Sie standen eine weitere Stop-and-go-Fahrt über die A13 nördlich des Flusses durch, blickten durch den Regen auf die Hochhäuser in der Umgebung von Canary Wharf. Als sie am Flughafen eintrafen, gab es den Nachrichten in Garys Handheld zufolge die ersten Toten beim Hochwasser in King’s Lynn und Hunstanton im Bereich des Wash, und der Sturm hatte sich an der Ostküste bis Great Yarmouth und Lowestoft vorgearbeitet.
Der Flughafen war klein. Auf den windgepeitschten Pisten stand das Regenwasser, aber noch immer starteten und landeten Flugzeuge; wie Lachse sprangen sie von erschreckend kurzen Startbahnen in die Höhe.
Der AxysCorp-Hubschrauber war ein neues, leichtes Modell, genau wie der, der sie in Barcelona aufgelesen hatte. Sie gingen rasch an Bord, und der Chopper stieg in die Luft. Der Pilot schien trotz der Windstöße volles Vertrauen in seine Maschine zu haben. Jetzt, wo sie in dem Hubschrauber saß, fühlte sich Lily sicherer als in dem Wagen, der sich durch die verstopften Londoner Straßen gezwängt hatte, denn hier war sie in ihrem Element.
Unter ihr breitete sich Ostlondon aus. Die Themse bildete ein hässliches graues Band. Die Linie des nur einen Kilometer vom Flughafen entfernten Themse-Sperrwerks wirkte wie mit dem Lineal über das Wasser gezogen; seine Stahlhauben glänzten im Regen. Gary wies darauf hin, dass das Sperrwerk geschlossen war. Die massiven gelben Schwenkarme seitlich an jedem Pfeiler ragten empor, und Gischt spritzte auf, wenn Wellen mit weißen Kämmen gegen die hochgefahrenen Tore krachten.
Die Maschine stieg höher, senkte die Nase und schoss ostwärts die Themsemündung entlang, über die Lkw-Parkplätze, Lagerhäuser und stillgelegten Fabriken der graubraunen Industriezone hinweg, die London umgab. Lily registrierte erstaunt, in welchem Ausmaß die Schwemmebene bebaut war; neue Wohnsiedlungen und Einkaufszonen funkelten im Regen wie Architekturmodelle. Sie erkannte die hoch aufragende Brücke bei Dartford, wo die Ringautobahn M25 den Fluss überquerte, die letzte Themsebrücke vor dem Meer. Ströme von Pkws und Lastwagen aus den Häfen von Tilbury und Grays bildeten Schlangen vor den Schlagbäumen der Mautstellen für die Brücke und die Tunnels. Etwas weiter östlich waren beide Flussufer mehr oder weniger von Glaswänden eingefasst, riesige Einkaufszentren, die ihre Existenz der Autobahn verdankten.
Noch weiter östlich, wo das Mündungsgebiet allmählich breiter wurde, sah Lily im Norden die ausgedehnten Hafenanlagen von Tilbury und im Süden die Uferbebauung von Gravesend, hinter vom Fluss gepeitschten Wattflächen. All dies lag flussabwärts des Sperrwerks, außerhalb seines vermeintlichen Schutzes - das Themse-Wehr hatte die Aufgabe, die Londoner Innenstadt vor stromaufwärts laufenden Flutwellen zu schützen. Ein Stück weiter machte der Fluss eine Biegung nach Norden und wurde rasch breiter. Selbst hier draußen gab es umfangreiche bebaute Flächen, hektargroße Anlagen mit Raffinerien, Öllagern und Gastanks in Coryton und Canvey Island, ein hässliches, weitläufiges Industriegebiet. Und dann öffnete sich die Mündung zum Meer.
 
Southend-on-Sea war eine verwinkelte alte Stadt. Sie duckte sich unterhalb einer Hauptverkehrsstraße, die eine Schneise durch die Landschaft zog, an die Küste. Lily sah einen erstaunlich langen Pier, einen dünnen, zart wirkenden Strich, der in die Meeresoberfläche geritzt war. Wellen brachen sich an der Ufermauer der Stadt und schickten lautlose weiße Gischtwolken empor; auf der Promenade sammelte sich Wasser zu Pfützen.
Der Helikopter überquerte Southend und flog zu einem kleinen Hubschrauberlandeplatz ein Stück weiter östlich. Ein mit Plexiglas überdachter Pier führte über ein Stück Sandstrand zu einer kleinen Marina, wie es schien, einer Reihe würfelförmiger Gebäude, an denen Boote festgemacht waren. Doch diese »Gebäude« schwammen im Wasser - sie standen auf dicken Pontons.
Trotz des immer stärker werdenden Windes setzte der Pilot so sanft auf, dass sie kaum eine Erschütterung spürten. Zwei AxysCorp-Bedienstete in blauen Overalls, die Kapuzen auf dem Kopf, kamen zum Hubschrauber gelaufen und zogen so etwas wie einen ausziehbaren Tunnel hinter sich her. Lily und Gary bekamen kaum einen Regentropfen oder einen Windstoß ab, bevor sie durch den Tunnel eilten. Als Lily in dem überdachten Pier, an dessen Glaswänden der Regen herabrann, nach vorn blickte, sah sie, dass dort eine Party in vollem Gange war: Gelächter, Lichter, schick gekleidete Menschen.
Ein weiterer Diener nahm ihnen die Mäntel ab, und sie bekamen Handtücher, um sich den Regen vom Gesicht zu wischen; es gab sogar ein kleines Badezimmer. Der Mann trug einen diskreten schwarzen Anzug, er war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, sah ungemein gut aus und sprach ein sanftes, wohlerzogenes Sean-Connery-Schottisch.
Nachdem sie sich abgetrocknet hatten, führte der Mann sie weiter, und am Ende des Durchgangs wurden sie von einem Kellner mit einem Tablett voller Champagnergläser empfangen. Sie nahmen sich jeder ein Glas, dann betraten sie einen kavernenartigen Raum mit quadratischen Wänden und hoher Decke. Ein gewaltiger Kronleuchter, ein Stalaktit aus Glas und Licht, hing über einem großen, donutförmigen Tisch, auf dem sich Getränke und Speisen stapelten. Die in Pastellfarben gestrichenen Wände waren von unten beleuchtet und mit teuer aussehenden Kunstwerken behängt. Die Gemälde wirkten seltsam dunkel und düster, altertümliche Relikte in dieser modernen Opulenz.
Die Gäste bewegten sich lässig und selbstbewusst durch den Raum, die Männer meistens im Anzug, die Frauen in langen Kleidern. Ihr schrilles Geplauder war schrecklich laut, während sie den Speisen und Getränken zusprachen, den riesigen Kronleuchter bewunderten, der leise klirrte und glitzerte, und die Kunstwerke inspizierten. Nachrichtenteams folgten ihnen, Kameramänner und Interviewer mit Mikrofonen. In einer Ecke spielte ein Streichquartett, dessen Musik in dem Gebrabbel jedoch unterging.
Und all dies fand auf dem Wasser statt. Lily spürte das sanfte Wogen des Meeres. Das Schaukeln war nicht einmal unangenehm, es verband sich mit der Wirkung des Champagners - doch Lily rief sich ins Gedächtnis, dass sie fünf Jahre zwangsweisen Entzug hinter sich hatte und noch nicht wieder an Alkohol gewöhnt war.
»Wir sind auf der verdammten Titanic«, sagte Gary mit belegter Stimme.
George Camden kam auf sie zu. Er trug Smoking und Fliege und wirkte sehr elegant. »Ah, Mr. Boyle, Ihr Humor hat mir in den letzten Tagen gefehlt. Das hier ist keineswegs ein Schiff - ich glaube, Mr. Lammockson wäre beleidigt, wenn er das gehört hätte -, sondern Teil einer Hydrometropole, einer schwimmenden Stadt. Wenn auch einer kleinen.«
»Einer was, bitte?«
»Und Captain Brooke.« Camden überging Garys Einwurf und lächelte Lily an. »Freut mich sehr, Sie zu sehen. Sie sind heute Nachmittag die Ehrengäste, Sie alle vier.«
Lily sah sich um. »Helen und Piers sind auch hier?«
»O ja. Mr. Lammockson bittet um Entschuldigung, dass er Sie nicht persönlich empfangen kann. Er hat ein paar Anrufe zu erledigen.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Gary. Er hatte seinen Champagner ausgetrunken und griff nach einem neuen Glas. »Solche Leute haben immer Anrufe zu erledigen.« Er zeigte auf die Wand zu seiner Linken. »Ist das nicht ein Gauguin?«
»Hätte dich nie für einen Kunstliebhaber gehalten, Boyle«, sagte Lily. Ein Paar kam auf sie zu. Es war Piers Michaelmas in einer schneidigen, neuen britischen Armeeuniform, mit Helen Gray am Arm. »Aber du hast natürlich recht. Ist ja auch klar - genau für solche Sachen würde diese Bande von Hedgies und Börsenfritzen ihr Geld rausschmeißen. Hallo, ihr beiden!« Piers stand aufrecht da. Sein dunkles Haar war kurz geschoren und wirkte militärisch korrekt. Nur die Falten um seine Augen mochten ein Indiz dafür sein, dass dieser Mann einen großen Teil der letzten Jahre in völligem Schweigen verbracht hatte, das Gesicht unter einem schmutzigen Handtuch vor seinen Entführern verborgen, deren Blicke er nicht ertragen konnte.
Sie tauschten sich über ihre Erlebnisse aus. In den vergangenen Tagen war ihr Leben ähnlich verlaufen, eine Abfolge ärztlicher Untersuchungen, Befragungen, Familienbesuche, Medienauftritte.
Nur Piers schien darauf zu brennen, wieder an die Arbeit zu gehen. »Dieser ganze verdammte Klimakram«, sagte er zu Lily. »Damit ist es so richtig losgegangen, während wir eingebuchtet waren - schneller, als die Eierköpfe es jemals erwartet hätten. Irgendwas Neues ist da im Gange, habe ich gehört, aber niemand weiß so recht, was …« Er verlor kein Wort über ihre Gefangenschaft oder deren Nachwirkungen.
»Verdrängung«, flüsterte Gary hinter seinem Rücken. »Der Kerl ist ein wandelnder Fall für die Ärztekonferenz.«
»Pst«, zischte Lily zurück. Sie wandte sich an Helen, die ein schlichtes schwarzes Kleid trug. Helen war schön, fand Lily, mit ihren kurz geschnittenen blonden Haaren. Aber das Kleid und die Frisur betonten nur ihre Schmächtigkeit und Blässe und den gehetzten Blick in ihren blauen Augen. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Grace?«
»Nichts als Sackgassen«, erwiderte Helen. »Der Arzt, der mir Grace weggenommen hat, war ein Mitarbeiter von AxysCorp. Seitdem haben sie sie weitergereicht wie eine scharfe Granate. AxysCorp hat sie einem Sanitäter der US Army ausgehändigt, der hat sie dem britischen Militär übergeben, anschließend hat sie das britische Außenministerium in die Hände bekommen, und dann … Überall, wo ich anrufe, lassen sie mich warten oder verweisen mich an einen Berater.«
»Sie ist bestimmt in Sicherheit«, sagte Gary. »Die würden ihr nichts tun …«
»Darum geht es nicht«, fuhr Helen ihn an. »Sie ist nicht bei mir. Ist mir egal, ob sie das uneheliche Kind eines saudischen Prinzen ist oder nicht. Ich bin ihre Mutter.«
»Wir stehen alle genauso vor einem Rätsel wie Sie«, sagte George Camden. »Und wir fühlen mit Ihnen, Helen. Wirklich. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihnen zu helfen.«
»Das stimmt, das stimmt voll und ganz. Ich schließe mich im Namen von AxysCorp allem an, was George gesagt hat.« Die neue Stimme war dröhnend und gebieterisch; instinktiv drehten sie sich alle gleichzeitig um.
Nathan Lammockson kam auf sie zu.
Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
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