Kapitel 29
Schreib nicht in den Staub, Liebling. Das gehört
sich nicht.«
»Hallo Opter. Was bedeutet Opter?«
»Es heißt Opfer. Hallo Opfer.« Pause. »O je!«
»Mama, da ist eine Knochenmaus.«
»Maus? Wo?«
»Hooo ho ho!«
Surreal musste sich auf die Lippen beißen, als der
Geisterjunge nach der Tür griff, die er eigentlich nicht öffnen
sollte. Am liebsten hätte sie ihn angeschrieen, hätte getobt. Aber
es gab niemanden, den sie anschreien konnte, kein Grund zum Toben.
Folglich wandte sie sich ab und starrte schwärzliche Lagen
Spinnweben an, die eine Ecke der Esszimmerdecke verdeckten.
Sie spürte, wie Rainier neben sie trat und sich so
postierte, dass er ihr völlig den Blick auf das Geschehen
verstellte.
»Ich weiß, dass es sich nur um eine
Vergnügungsattraktion handelt«, sagte sie. »Ich weiß, dass es nicht
echt ist, und mir ist klar, dass Jaenelle und Marian es erschaffen
haben, bevor wir in jene Falle getappt sind, aber …«
»Ich kann es mir auch nicht ansehen«, sagte
Rainier. Er deutete mit dem Kinn auf die Spinnweben. »Wozu sind die
deiner Meinung nach da?«
Wie zur Antwort fingen zwei Punkte zu glühen an und
wurden zu Augen in einem Spinnwebengesicht, das von einem Luftzug
geformt wurde. Spinnwebenfetzen wurden länger, wurden zu einem Arm
– und einer Hand mit eingerollten Fingern. Der Arm drehte sich. Die
Hand öffnete sich. Und...
Surreal blinzelte.
»Fledermäuse?«, fragte Rainier. »Sind das winzige
Fledermäuse?«
»Glitzernde, juwelenfarbene Fledermäuse«, sagte
sie. »Das muss ein Zauber von Tersa sein.«
Als die letzte glitzernde Fledermaus erloschen war
und die Spinnweben wieder wie schwärzliche, verklebte Spinnweben
aussahen, war Surreal bereit, den übrigen Gästen zu folgen, die das
Esszimmer verließen.
Sie fand ihr inneres Gleichgewicht wieder, während
sie mit Rainier an ihrer Seite durch das Spukhaus wanderte. Trotz
Jaenelles heilerischer Fähigkeiten, hinkte Rainier immer noch
merklich und war auf den Gehstock angewiesen, den Daemon ihm
geschenkt hatte.
Er konnte von Glück sagen, dass er überhaupt noch
gehen konnte. Jaenelle hatte ihr erklärt, das Kampfschwert des
eyrischen Kriegerprinzen habe nicht nur die Muskeln in Rainiers
Bein durchtrennt, sondern auch noch halb durch den Knochen
geschnitten. Doch er war dabei zu genesen, und Surreal war froh,
dass er sich gesund genug gefühlt hatte, um sich dieses
Spukhaus anzusehen.
Jaenelle und Marian hatten ein Haus erschaffen, das
für Humor mit einem gewissen Biss stand. Es war Furcht erregend,
aber mit einem schelmischen Augenzwinkern. Und manche Dinge ließen
einen nicht mehr los, so reizend waren sie; wie zum Beispiel der
Gesang im Korridor des ersten Stockes.
Sie sah die anderen Illusionszauber, die Tersa
hinzugefügt hatte – und nachdem sie beobachtet hatte, wie sich
Augen in den Weintrauben öffneten, war sie sehr froh, die Trauben
in dem anderen Spukhaus gemieden zu haben.
Auf gewisse Weise nahm dieses Spukhaus sowohl
Landen als auch Angehörige des Blutes auf den Arm. Und während ihr
manches einen Schock versetzte – wie die verdammte Stimme an der
Treppe – war es im Grunde nicht …
Sylvia kam mit wildem Blick und entsetzter Miene
auf sie zugeeilt.
»Sie glauben, dass wir so leben?«, fragte sie.
»Landen glauben wirklich, dass wir so leben?«
Na gut. Vielleicht war es für manche Leute
tatsächlich Furcht erregend. Nur nicht aus den zu erwartenden
Gründen.
Rainier kehrte ihnen den Rücken zu, um sich einem
plötzlichen Hustenanfall hinzugeben.
Sylvia drehte sich einmal im Kreis, und im Laufe
dieser Drehung verwandelte sie sich von einer Frau mit wildem Blick
in eine zornig dreinblickende Mutter. »Wo ist Mikal? Beim Feuer der
Hölle, wenn der Junge versucht haben sollte, mit einer dieser
kichernden Spinnen durchzubrennen, werde ich ihn so was von tot
machen!«
Surreal sah zu, wie die Königin von Halaway sich
einen Weg durch eine Gruppe verblüffter Landen bahnte.
*Sie wissen nicht, ob sie Teil der Attraktion ist
oder eine echte Mutter*, sagte Rainier.
*So was von tot machen?*, fragte Surreal. *Was
genau soll denn das heißen?*
*Keine Ahnung. Aber in dem Tonfall klingt es auf
jeden Fall beeindruckend. Und ich glaube, die Landenmütter sind
dabei, sich diesen Ausdruck einzuprägen.*
Surreal stieß ein Schnauben aus.
Sie hatten den Großteil des Spukhauses besichtigt.
Da sie zur Familie gehörten, hatten sie keinem Geisterführer folgen
müssen – und waren nicht immer wieder von den Schatten-Scelties
zurück in eine Gruppe getrieben worden. Es war lustig gewesen mit
anzusehen, wie die anderen Gäste auf die Überraschungen reagierten,
und es hatte sie amüsiert zu beobachten, wie rüpelhafte
Landenjungen an Lucivar gerieten. Noch amüsanter war es mit
anzusehen, wie heranwachsende Mädchen auf Daemon reagierten, der
durch das Haus glitt. Im Gegensatz zu Lucivar, der den Jungen damit
gedroht hatte, all ihre vorwitzigen Fingerchen auszureißen und sie
ihnen in den Rachen zu stopfen, hatte Daemon einen Schwundzauber
über einen Sichtschutz gelegt, sodass er einfach verblasste,
während er einen Korridor entlangging,
und all die Mädchen sich fragten, ob er echt war oder eine
Illusion.
»Tja«, sagte Rainier. »Wir haben die Frau in den
Spinnweben gesehen und die kichernden Spinnen. Wir haben das
Fauchen im Keller gehört, und …«
»Die verdammte lachende Treppe.« Sie hätte sich
beinahe in die Hose gemacht, als sie auf eine Stufe stieg, und jene
Stimme unter ihrem Fuß hervordröhnte.
Rainier grinste, sagte jedoch klugerweise nichts.
»Und die Augen auf dem Dachboden.«
Das Badezimmer mit dem aufplatzenden Käfern hatten
sie ausgelassen. Der Dunkelheit sei Dank!
»Das da ist das einzige Zimmer, das noch anzusehen
ist.«
Sie näherten sich der Tür in dem Augenblick, in dem
auch eine Gruppe Landen, im Gefolge ihres Geisterführers, an diese
Station des Rundgangs gelangte.
»Dies ist der Furcht einflößendste Raum im ganzen
Haus«, sagte der Geist.
Der Geist trat beiseite. Die Tür ging ohne
Quietschen oder Knarren auf.
Surreal und Rainier betraten das Zimmer und traten
zur Seite. Sie konnten bleiben und sich die »Überraschung« in dem
Zimmer so oft ansehen, wie sie wollten. Deshalb schien es nur
gerecht, den »Gästen« die bessere Sicht zu gewähren.
*Hast du irgendeine Vorstellung?*, fragte
Rainier.
Sie schüttelte den Kopf.
Ein wunderschön hergerichteter Salon. Etwas, das
sie in einem Adelshaus in Amdarh erwartet hätte – oder in einem der
Salons auf Burg SaDiablo.
Sekunden verstrichen. Nichts passierte.
Dann hörte sie die Musik. Anfangs schwach, aber
allmählich immer lauter. Und mit der Musik bildeten sich nach und
nach die Tänzer aus Nebel, bis sie beinahe zu festen Körpern
wurden, beinahe echt.
Jaenelle und Daemon tanzten. Alleine durch den
Anblick konnte Surreal die Leidenschaft ihrer Liebe spüren, konnte
sehen, wie glücklich sie zusammen waren.
»Bitte sag mir, dass es sich bei dem Kleid um einen
Illusionszauber handelt«, flüsterte Rainier. »Jaenelle besitzt
nicht wirklich so etwas, oder?«
»Ich habe mir sagen lassen, sie musste das Kleid
für die Illusion blickdichter machen«, neckte Surreal ihn. »Das
echte Kleid ist noch viel dünner. Aber es darf nur bei sehr
privaten Abendessen getragen werden.«
»Der Dunkelheit sei Dank! Wenn sie das in der
Öffentlichkeit trüge, würde Sadi jeden einzelnen Mann im Raum
umbringen, bloß fürs Hingucken.«
Die Wahrheit dieser Aussage ließ sie am ganzen
Körper erzittern.
Sie schürzte die Lippen und sah sich in dem Zimmer
um. Was war …?
»Was ist so Furcht erregend an diesem Zimmer?«,
wollte ein Junge wissen.
Auf einmal blieben die Tänzer jäh stehen. Ihre
Körper waren immer noch eng aneinandergepresst, aber sie drehten
die Köpfe in Richtung der Stimme und sahen die Menschen in dem
Zimmer direkt an.
Mutter der Nacht, dachte Surreal. Rainier
neben ihr versteifte sich. Sie konnte spüren, wie es den Gästen
ebenso erging, als sie nach und nach die Gefahr erkannten. Und
Surreal beobachtete, wie Jaenelles saphirblaue Augen einen wilden
Ausdruck annahmen, während Daemons goldene Augen glasig und
schläfrig wurden.
Ihr ganzes Leben lang war sie daran gewöhnt
gewesen, Wut auf diese Weise zu messen. Doch weil es ein ständiger
Teil ihres Lebens war, hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht,
hatte es nie derart klar gesehen.
Es liegt in den Augen. Das lässt das Gesicht
eines Menschen zu einem Raubtier werden. Das ist der Schlüssel zur
Wahrheit über die Angehörigen des Blutes. Die Augen besagen: »Wir
sind nicht wie ihr. Wir entstammen den gleichen Völkern. Wir lachen
und lieben und trauern und weinen. Wir haben Hoffnungen und Träume
und empfinden Reue und bittere Enttäuschungen. Wir hegen die
gleichen Empfindungen
wie ihr. Aber wir sind nicht wie ihr. Wir sind die Hüter der
Reiche. Wir sind Macht. Wir sind die Angehörigen des Blutes. Geht
behutsamen Schrittes, wenn ihr in unserer Mitte wandelt.«
Niemand sprach ein Wort. Niemand rührte sich.
Niemand wagte auch nur zu atmen, bis die Tänzer sich umdrehten und
sich beim Fortgehen einfach in Luft auflösten.
Dann erklang ein kollektives Seufzen – und Surreal
hegte keinerlei Zweifel daran, dass jeder Landen in dem Zimmer die
Angehörigen des Blutes nun instinktiv verstand.
Der Geist hatte recht gehabt. Es war tatsächlich
der Furcht einflößendste Raum im ganzen Haus.
Sie sah zu, wie die Landen einer nach dem anderen
das Zimmer verließen. Dann erklang nervöses Gelächter, als die
Leute durch die Eingangstür ins Freie traten.
»Sie haben Zelte mit Erfrischungen aufgestellt«,
erklärte Rainier. »Heißer Cidre, Bier, Wein. Eine gute Portion
Brandy, um die schlotternden Knie zu beruhigen.«
»Meine Knie zittern«, sagte Surreal. »Ich habe im
gleichen Haus wie der Mann gelebt, aber mir zittern trotzdem die
Knie.«
»Und das überrascht dich? Nur eine Närrin würde mit
der Wut spielen, und du bist keine Närrin. Und während diese Wut in
allem steckt, was er ist, ist er doch so viel mehr. Ja, sind wir
alle so viel mehr. Wir haben auch über uns eine Wahrheit erkannt,
nicht nur über ihn – und sie.«
»Ich weiß.« Sie atmete tief ein und ließ die Luft
in einem herzhaften Seufzer entweichen. »Brandy. Dann zurück nach
Amdarh zu einem späten Abendessen?«
»Einverstanden.«
Als sie die Türschwelle überschritten, blickte
Surreal zurück.
Daemon lehnte am Kaminsims und schenkte ihr ein
herzliches, belustigtes Lächeln. Dann schloss sich die Tür.
*Surreal*, sagte Rainier.
Neben der Tür stand ein kleiner Tisch, auf dem ein
geflochtener Korb voll Holzspänen stand. In dem Korb hockte
eine Skelettmaus, die den Gästen zum Abschied zuwinkte.
Das erklärte das nervöse Gelächter von eben.
Jaenelle, Marian und Tersa hatten für eine letzte wunderliche
Schöpfung gesorgt, um die Angst erregende Wahrheit abzumildern, die
in jenem wunderschönen Salon tanzte.
*Beim Feuer der Hölle*, murmelte sie.
Zwei Jungen streckten die Hände nach der
Skelettmaus aus, und etwas in ihren Mienen und ihrer Körperhaltung
verriet, dass sie nichts Gutes mit dem Illusionszauber im Schilde
führten.
Surreal trat einen Schritt auf die beiden boshaften
kleinen Jungen zu, bereit, ihnen nötigenfalls mit ein paar
Ohrfeigen Manieren beizubringen.
*Warte*, sagte Rainier.
Die beiden Schatten-Scelties erschienen auf einmal
hinter den Jungen und …
»Aua!«, riefen die Jungen. Sie eilten auf eine
Gruppe Erwachsener zu. »Die Hunde haben uns gebissen!«
Ein Mann – der Vater? – sah zu den Schatten, die
mittlerweile mit dem Schwanz wedelten. »Seid nicht albern«, sagte
er. »Das sind Illusionszauber. Die können euch nicht beißen.«
Ein Junge drehte sich zu den Schatten um, holte aus
und trat mit so viel Gewalt zu, dass es einen echten Hund
umgeworfen hätte. Sein Fuß ging einfach mitten durch den Schatten
hindurch.
Doch Surreal sah ein Glitzern in den Hundeaugen,
das ihr die Knie weich werden ließ.
Während die Erwachsenen dem Geisterführer für den
ersten Teil des Besichtigungsrundgangs die Treppe hinauffolgten,
kamen die Schatten-Scelties auf die Jungen zu und trieben sie
kneifend und beißend zusammen, bis sie ihre Beute in einer Ecke
hatten. Und dort würden die Jungen bleiben und die
Besichtigungstour verpassen. Da sich die Landenerwachsenen in dem
Glauben befanden, dass die Illusionszauber niemandem etwas antun
konnten, stand es
den Scelties frei, ihre ganz eigenen Ideen umzusetzen, um sie
eines Besseren zu belehren.
Surreal und Rainier betrachteten die Scelties. Dann
tauschten sie einen Blick aus und sagten einstimmig: »Also
das ist nun wirklich Furcht erregend!«