Kapitel 26
 
 
 
Jarvis Jenkell stand auf und bürstete sich mit zitternden Händen das Jackett ab.
Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Familie SaDiablo ihn mit dem Spukhaus in Verbindung bringen würde. Er hatte absichtlich ein paar Leuten »ganz im Vertrauen« von dem Schauplatz seiner nächsten Geschichte um Landry Langston erzählt, sodass unabhängige Stimmen bestätigen könnten, er habe mit dem Schreiben seines Buches vor den tragischen Ereignissen begonnen, die hätten stattfinden sollen.
Woher hatte Lucivar gewusst, dass er sich im Haus befand? Die Gänge und Beobachtungsposten waren sorgfältig mit Schirmen versehen gewesen. Das war notwendig gewesen. Ansonsten hätten die Dämonentoten, die an das Haus gekettet waren und nach frischem Blut dürsteten, Jagd auf ihn gemacht. Doch die Schutzzauber waren nicht gut genug gewesen, um den Eyrier hinters Licht zu führen. Nicht bis zum Ende.
Egal. Er hatte zweiundsiebzig Stunden, um aus dem Haus zu kommen. Er würde noch nicht einmal eine Stunde brauchen. Die letzten beiden Ausgänge befanden sich nämlich im ersten Haus. Nicht leicht zu finden, wenn man nicht wusste, wonach man Ausschau halten musste, aber problemlos zu erreichen.
Er wandte sich in Richtung der Tür am anderen Ende der Diele – der Tür, durch die er als Hausmeister verkleidet gegangen war, um das Spiel zu beobachten.
»Bereust du?«, säuselte eine tiefe Stimme.
Jarvis wirbelte mit klopfendem Herzen herum.
Daemon Sadi lehnte im Türrahmen des Salons.
»Ich dachte, du bist fort«, sagte Jarvis.
»Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen.«
»Welche Dinge?«, fragte Jarvis, als Daemon auf ihn zukam. Welch schöner Mann. Es lag nicht nur an seinem Gesicht oder dem Körperbau. Es lag an der Art, wie er sich bewegte.
Er war die pure Versuchung – selbst wenn ein Mann gewöhnlich nicht durch Geschlechtsgenossen in Versuchung geriet. Ein Versprechen – selbst wenn die schläfrigen goldenen Augen nicht alles enthüllten, was angeboten wurde.
»Eine Verführung?« In Daemons Stimme lag immer noch ein Säuseln, aber auch kalte Belustigung.
Wann hatte Sadi ihn umkreist, war hinter ihn getreten?
Er konnte die Hitze des Mannes spüren, der sich an seinen Rücken presste, konnte ganz leicht die schwarz gefärbten Fingernägel spüren, als sich eine Hand um seinen Hals schloss. Lippen strichen über seine Wange, als Sadi die andere Hand unter sein Hemd gleiten ließ und anfing, ihm langsam über die Brust zu streicheln, hinab zu seinem Bauch. Er hielt inne, als seine Finger eben unter seinen Gürtel geglitten waren.
Entzücken? Scham? Er wusste selbst nicht recht, was er empfinden sollte, als sein Körper reagierte, hilflos und nicht in der Lage zu widerstehen.
»Das gleiche Spiel, Jarvis«, flüsterte Daemon. »Aber die Regeln haben sich ein bisschen geändert.«
Ansonsten gab es keinerlei Warnung, bevor Sadi ihm mit den Fingernägeln den Bauch aufriss, Muskeln zerfetzte, ihm die Gedärme zerschnitt.
Er schrie vor Schmerz und Angst. Versuchte verzweifelt, von der Hand wegzukommen, die sich immer tiefer in seine Eingeweide grub.
Er wand sich, fest entschlossen, einen Schlag zu landen, bevor er starb. Seine Hände zielten auf Daemons Brust – und trafen die Wand.
Er starrte seine Arme an, die in Sadis Brust verschwanden. Die Wand unter seinen Händen konnte er spüren. Er sah in die schläfrigen Augen.
»Ein raffinierter Schatten«, sagte Daemon. »Alles Teil des neuen Spiels. Du kannst mich nicht berühren, aber ich« – ein Fingernagel schoss vor und schnitt Jarvis in die Wange – »kann dich berühren.«
Jarvis wich zurück. Mit dem einen Arm hielt er sich den zerfetzten Bauch, während er mit der anderen Hand seine Wange berührte. Er betrachtete seine Finger.
Kein Blut.
Er wagte, nach unten zu sehen.
Keine Wunde.
»Fühlt sich ziemlich echt an, nicht wahr?«, sagte Daemon freundlich. »Aber es ist alles nur ein Illusionszauber. Na ja, die Schmerzen sind echt. Die Verletzungen hingegen nicht.«
»Und wozu soll das gut sein?«, fragte Jarvis.
Daemon wirkte überrascht. »Ich habe dir garantiert, dass dich nichts in dem Haus umbringen würde. Die Raubtiere, die du hergeschafft hast, werden dir vielleicht wehtun, wenn sie dich erwischen, aber ich werde sie daran hindern, dich zu töten.«
»Lucivar hat sie alle umgebracht.«
»Aber nein. Höchstwahrscheinlich hat er sie so sehr zerfetzt, dass sie kurzzeitig außer Gefecht gesetzt waren. Da sein Hauptinteresse darin bestand, Surreal und Rainier aus dem Haus zu schaffen, hat er sich gewiss nicht die Mühe gemacht, das Töten zu Ende zu bringen.«
»Aber sie sind doch alle trotzdem …« Zerstückelt, beendete Jarvis den Satz insgeheim.
Daemon seufzte und schenkte ihm ein belustigtes Lächeln. »Jarvis, Liebes, eine dämonentote Hexe, die geköpft worden ist, muss sich zwar der Kunst bedienen, um durch die Luft zu schweben, aber solange noch ein Rest Macht in ihr glimmt, kann sie auf die Jagd gehen. Und sie ist immer noch gefährlich.«
Jarvis erschauderte. Wie sollte er so etwas überleben? Er würde sich in den geschützten Geheimgängen verkriechen. Er hatte Nahrung und Wasser, eine Matratze und Decken, sogar einige Nachttöpfe. Er konnte die vorgeschriebenen zweiundsiebzig Stunden durchhalten, und dann wäre er frei. Schuld beglichen.
»Nun aber zu den Dingen, die wir noch besprechen müssen«, sagte Daemon. »Da die meisten ursprünglichen Netze zerstört worden sind, als Lucivar sich aus dem Haus freigekämpft hat, habe ich sie durch meine eigenen Illusionszauber ersetzt. Du wirst meine Verworrenen Netze nicht finden, also verschwende deine Zeit nicht, indem du danach suchst. Doch lass dir gesagt sein, dass ein Netz für die verborgenen Gänge da ist. Ja, Lucivar hat mir von den Schlupflöchern der Schreiber-Maus erzählt. In unserem neuen Spiel werden diese Gänge zwar einen Schutz vor deinen eigenen Raubtieren darstellen, aber nicht vor meinen. Nicht vor mir.«
»Deine werden mich nicht umbringen?«
»Ich habe dir gezeigt, was meine tun werden.«
Ein weiterer Schauder überlief ihn. Würde es eine Spur weniger wehtun, da er wusste, dass die Wunden nicht echt waren? Oder wäre es schlimmer zu wissen, dass kein Angriff ihn umbringen würde, egal wie heftig er war?
»Mein Liebling, ich glaube, du begreifst allmählich.« Daemon glitt auf die Salontür zu. »Abgesehen davon solltest du noch wissen, dass die Ausgänge durcheinandergeraten sind, weil meine Verworrenen Netze nun das Spiel nähren. Es gibt immer noch dreißig Stück, auch wenn nur zwei noch offen sind, und sie befinden sich an den ursprünglichen Orten. Doch die Reihenfolge, in der sie sich schließen, hat sich geändert.«
»Aber das bedeutet …«
»Du wirst jeden einzelnen Ausgang überprüfen müssen, um die beiden zu finden, die immer noch offen sind.«
Er würde sich durch das ganze Haus bewegen müssen – durch alle drei Gebäude -, während die Dämonentoten ihn jagten, und Sadi …
»Du wolltest unbedingt mit dem Sadisten tanzen«, sagte Daemon zu sanft. »Dazu hast du nun Gelegenheit.«
Er hatte den Sadisten beobachten wollen, was etwas völlig anderes war.
»Sonst noch was?« Daemon tippte sich mit einem Finger gegen die Lippen. »Ach ja! Meine Mutter lässt dir ausrichten, dass sie Veränderungen an ihren Illusionszaubern vorgenommen hat. Sie sind mit meinen Netzen verbunden, und ihre kleinen Überraschungen passen nun besser zu deinen Absichten für dieses Haus.«
»Und das bedeutet …?«
»Sie sind alle gefährlich.« Daemon lächelte. »Du hast Spielchen mit meiner Familie spielen wollen. Jetzt werden wir spielen, du und ich.« Während Daemons Schatten verblasste, fügte er noch hinzu: »Nimm dich vor der Katze in Acht. Sie mag keine Menschen – außer sie benutzt sie als Spielzeug oder verspeist sie zum Abendessen.«
Jarvis stand in der Diele, ohne zu wissen, was er tun oder wohin er sich wenden sollte. Wenn er den Salon betrat, wäre der Schatten-Daemon dann noch dort und wartete, eine weitere Runde des Spiels zu spielen? Im Salon befand sich ein Ausgang. Vielleicht sollte er zuerst die Ausgänge im hinteren Teil des Hauses überprüfen. Oder …
Ein Grollen auf der Treppe. Ein Geräusch, das seine Knochen vibrieren ließ.
Die weiße Katze füllte die Treppe, und Jarvis fragte sich, was schlimmer wäre: die Illusionszauber, die ihm keine körperlichen Verletzungen zufügen konnten, oder die Raubtiere, die dazu in der Lage waren.
 
Daemon stieg aus der Kutsche. Beim Anblick von Burg SaDiablo löste sich die Anspannung seiner Muskeln ein wenig.
Jaenelle trat neben ihn und hakte sich bei ihm ein.
*Wie schlimm ist es tatsächlich?* Er war während ihres restlichen Aufenthalts in dem Dorf mit anderen Dingen beschäftigt gewesen und hatte sich darauf konzentrieren müssen, die Kutsche zu fahren. Deshalb hatte er die Frage noch nicht vorher gestellt. War nicht bereit für die Antwort gewesen.
*Sie werden beide genesen.*
*Rainier ist Tänzer gewesen.* Er entsann sich Lucivars Worten, bevor sie sich trennten. Mit der Hilfe einer guten Heilerin heilt ein durchtrennter Muskelstrang wieder; eine völlig abgetrennte Gliedmaße allerdings nicht, egal, wie gut die Heilerin ist.
*Er ist immer noch ein Tänzer*, sagte Jaenelle. *Er wird eine Zeitlang humpeln, aber eines Tages wird er wieder tanzen. Dafür werde ich sorgen.*
*Und Surreal?*
Nachdem sie entschieden hatten, dass die vier überlebenden Kinder besser bei ihren Eltern untergebracht waren als in einem weiteren fremden Haus, hatte Jaenelle schnell vier Dosen eines leichten Beruhigungsmittels hergestellt, damit sie die Nacht durchschliefen. Während Tersa sich um Surreal und Rainier kümmerte und Jaenelle mit den Heilungen beschäftigt war, hatten Lucivar und er die Kinder zu ihren Eltern zurückgebracht und waren anschließend zum Waisenhaus gegangen, um Yulis Habseligkeiten abzuholen.
Ein jämmerlich kleines Bündel. Ein erbärmliches Leben für einen gescheiten Jungen. Wer war Yulis Mutter, wer sein Vater? Hatten sie ihn versteckt, weil er das Potenzial zum Angehörigen des Blutes besaß oder weil nicht? Würde er zu einem verbitterten Mann heranwachsen, weil seinem Erbe nicht Rechnung getragen worden war?
Daemon hätte Mitgefühl mit Jarvis Jenkell haben können. Es hätte ihm vielleicht Vergnügen bereitet, über Geschichten mit ihm zu diskutieren, wenn sie einander auf einem Fest begegnet wären. Oder er hätte den Mann vielleicht nicht ausstehen können, weil er ein aufgeblasener Esel war. So oder so, hätte er Jenkell als Angehörigen des Blutes anerkannt.
Wenn der Mann nicht sein Spielchen gespielt hätte.
Dennoch wäre er vielleicht gewillt gewesen – bis zu einem gewissen Grade -, über den selbstmörderischen Versuch des Mannes hinwegzusehen, Spielchen mit den dunkelsten Angehörigen des Blutes im ganzen Reich zu spielen.
Wenn der Mann zu diesem Zweck nicht Kinder umgebracht hätte.
Wenn der Mann nicht Surreal und Rainier Leid zugefügt hätte.
*Sie wird genesen*, sagte Jaenelle.
*Sie klingt wie ein schlecht gelauntes Kind.* Und das jagte ihm Angst ein, denn es ließ sie schwach und klein wirken. Sobald er sich sicher war, dass sie sich erholen würde, könnte sie so viel schimpfen und wimmern, wie sie wollte. Bis dahin würde es an seinen Nerven zehren, die wegen der ständigen Sorge bereits angegriffen waren.
*Sie hat Fieber, das Gift fließt aus den Wunden ab und verursacht Schmerzen, und sie fühlt sich ziemlich erbärmlich. Außerdem meint sie, wir würden sie wie in Kind behandeln, weil wir sie hierbehalten, anstatt sie in das Stadthaus in Amdarh zurückkehren zu lassen. Natürlich ist sie schlecht gelaunt. Und sie geht davon aus, dass Lucivar und du sie, sobald es ihr besser geht, maßregeln werdet, weil sie sich hat verletzen lassen.*
Für eine Frau mit Fieber konnte Surreal die Situation recht klar einschätzen. Auf der Stelle ging es ihm besser. Wenn sie so viel begriff, funktionierte ihr Gehirn noch.
Beale öffnete die Tür. Lakaien eilten heraus, um Surreal und Rainier ins Haus zu bringen.
Daemon trat beiseite und zog Jaenelle mit sich.
»Sie werden mich den restlichen Tag über brauchen«, sagte sie.
Er nickte. »Ich habe selbst Dinge, um die ich mich kümmern muss.« Unter anderem musste er überlegen, was mit einem gewissen kleinen Jungen zu tun sei.
Yuli folgte Tersa aus der Kutsche. Er sah so jung aus, so verängstigt, trotz des zerbrechlichen Mutes, den er zur Schau trug.
»Junge«, sagte Tersa. Sie kam auf ihn zu, legte ihm eine Hand an die Wange und lächelte. »Das hast du gut gemacht.«
»Wirst du ein paar Überraschungen für mein Spukhaus erschaffen?«, fragte Jaenelle.
Tersa sah Jaenelle an, dann ihn – und sie entfernte sich ohne zu antworten.
Jaenelle tätschelte Daemon am Arm und flüsterte: »Wenn sie antworten würde, wäre es keine Überraschung mehr.« Dann streckte sie Yuli die andere Hand entgegen. »Komm, suchen wir dir ein Zimmer für ein, zwei Tage.«
Sie hatten kaum die große Eingangshalle betreten, da kamen schon vier Sceltiewelpen zur Begrüßung auf sie zugestürmt. Drei hüpften an ihnen empor und kläfften und wedelten mit den Schwänzen, bevor sie wieder zu ihren Welpenspielen zurückrannten.
Der vierte Welpe stellte sich mit seinen kleinen Pfoten auf Yulis Fuß und sagte. *Mein Junge!*
*Das wäre dann wohl geklärt*, meinte Jaenelle zu Daemon.
*Sieht so aus*, erwiderte er, während er beobachtete, wie aus dem schüchternen Lächeln des Jungen ein verzücktes Strahlen wurde.
»Darf ich mit ihm spielen, solange ich hier bin?«, fragte Yuli.
Oh, Jungchen, versuch doch mal, nicht mit ihm zu spielen! »Ja. Er hat noch Probleme mit den Treppenstufen. Warum hebst du ihn also nicht auf und trägst ihn, während ich dir dein Zimmer zeige?«
*Auf!*, sagte der Welpe. *Auf!* Als Yuli nicht sofort reagierte, winselte der Welpe und sah Jaenelle an. *Hört der Junge schlecht?*
»Er hat noch nicht gelernt, mit verwandten Wesen zu reden«, sagte Jaenelle mit einem Seitenblick auf Yuli. »Aber er wird es schon noch lernen.«
»Hä?«, meinte Yuli.
»Heb ihn auf«, sagte Daemon. *Da gibt es noch einiges zu lernen.*
Sie presste die Lippen zusammen und versuchte krampfhaft, keine Miene zu verziehen. *Für beide.*
Als Yuli ihnen folgte, schweigend und mit großen Augen, und der Welpe in einem fort verkündete, was er benötigen würde, um seinen Jungen abzurichten, dachte Daemon: Wenigstens hat das ganze Leid etwas Gutes hervorgebracht.
Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
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