Kapitel 11
Durch einen Sichtschutz verdeckt, beobachtete er
sie durch die Gucklöcher in dem Porträt, und fühlte sich dabei in
Sicherheit. Diese geheimen Gänge und seine kleinen Verstecke
standen nicht im Bann der Zauber, die das Anwenden von Kunst im
übrigen Haus einschränkten. Dafür hatte er gesorgt, bevor er mit
der Schwarzen Witwe abgerechnet hatte, die seiner Version des
Spukhauses die letzte, tödliche Schicht verliehen hatte.
Selbstverständlich hatte sie nicht vorgehabt, selbst Teil dieser
letzten, tödlichen Schicht zu werden.
Da er sich mittlerweile um sämtliche seiner
»Teilhaberinnen« gekümmert hatte, gab es niemanden mehr, der ihn
mit diesem Ort in Verbindung bringen konnte. Nun, er hatte sich um
fast alle gekümmert. Lediglich eine Hexe war nicht aufgetaucht, um
sich ihre Bezahlung abzuholen. Gut so. Ihm war während seines
ganzen Umgangs mit dem Stundenglassabbat unbehaglich zumute
gewesen, aber diese eine Schwarze Witwe war noch unheimlicher als
die Übrigen gewesen. Aber selbst wenn sie erzählen sollte, dass sie
Illusionszauber für ein Spukhaus gewoben hatte, wer würde ihr schon
zuhören oder gar Glauben schenken?
»Also gut«, sagte Surreal und schob sich die Haare
hinter die Ohren. »Jemand hat uns als Hauptrollen in einem
Kriminalroman über ein Haus besetzt, das uns umzubringen versucht.
Fasst es das in ungefähr zusammen?«
»Das Haus selbst besteht aus Holz, Glas und Stein«,
sagte Rainier. »Es versucht überhaupt nichts. Aber es hat den
Anschein, als versuche jemand, uns umzubringen. Oder uns
zumindest wehzutun. Dieser Jemand hat eine Schwarze Witwe
angeheuert, die Illusionszauber erschaffen sollte, und
wahrscheinlich noch andere Dinge. Wir sollten davon ausgehen, dass
sie uns Schaden zufügen, während wir nach einem Ausweg
suchen.«
Mehr als eine Schwarze Witwe, dachte
Surreal. Aber diese Erkenntnis würde sie noch ein Weilchen für sich
behalten. Schließlich konnte sie sich auch irren.
Süße Dunkelheit, bitte lass mich
irren!
»Wir verfügen über zwei Lampen und das Hexenlicht«,
sagte Rainier.
»Und eine Waffe«, meinte Surreal, als Rainier ihr
den Schürhaken reichte. »Ich habe nicht viel Kraft in das
Hexenlicht gesteckt, als ich es erschuf. Es wird also nicht allzu
lange halten.«
Rainier hob eine kleine Schachtel auf, die neben
einer der Lampen gelegen hatte. Nachdem er sie geöffnet hatte,
betrachtete er den Inhalt mit gerunzelter Stirn.
»Das sind Streichhölzer«, sagte Kester und
verdrehte die Augen. »Man streicht mit einem gegen die raue Seite
der Schachtel, um eine Flamme zu erhalten und eine Lampe oder Holz
anzuzünden.«
»Ich weiß, was Streichhölzer sind«, sagte Rainier
und ließ die Schachtel in seine Manteltasche gleiten. Dann sah er
Surreal an. *Benutzen wir Schilde?*
Wenn sie es nicht taten, waren sie verwundbar. Wenn
sie es taten …
*Nur für uns oder auch für die Kinder?*, fragte
sie. Die Landen hätten nicht die geringste Kontrolle über den
Schild und wären nicht in der Lage, dessen Macht zu erneuern, aber
Rainier und sie könnten jedes einzelne Kind mit einem Schild
umgeben, der es vor den ersten paar Angriffen schützen würde.
Allerdings …
*Wenn wir alle mit einem Schild versehen, bedeutet
das neun weitere Anwendungen von Kunst. Zusammen mit den Malen, die
wir uns bereits der Kunst bedient haben, würde das mehr als die
Hälfte der möglichen Ausgänge vernichten
*, sagte Rainier und verlieh damit ihren eigenen Gedanken
Ausdruck.
*Und höchstwahrscheinlich werden zuerst diejenigen
Ausgänge dicht gemacht, die am leichtesten zu finden sind.* Wie die
Eingangstür. Und das Fenster im Salon. »Wie viele Zimmer?«, fragte
sie. »Ich habe nicht allzu gut aufgepasst, aber das Haus sah
geräumig aus, wenn auch nicht übermäßig groß. Ein Dutzend
Zimmer insgesamt?«
Rainier nickte. »Plus Dachboden und Keller.«
Gab es einen weiteren Ausgang in diesem
Zimmer?
*Wenn es darum geht, dass wir uns den Fallen
stellen, wird es nicht mehr als ein oder zwei Ausgänge in den
vorderen Räumen geben*, sagte Rainier. *Und falls das hier
tatsächlich auf einer Kriminalgeschichte basiert, haben wir bereits
einen Hinweis erhalten, und uns ist gezeigt worden, welchen
Gefahren wir begegnen, wenn wir einen Ausgang finden und versuchen
sollten, ihn zu benutzen.*
Zu ihrem Leidwesen musste sie ihm beipflichten.
Niemand hätte sich die Mühe gemacht, diesen Ort zu erschaffen, nur
um dann das Risiko einzugehen, dass sie schnell einen Ausweg finden
könnten.
Surreal sah sich eingehend in dem Zimmer um. Sie
suchte nach einem möglichen Schlupfloch oder irgendetwas anderem,
das sich als nützlich erweisen könnte – doch sie fand nichts, was
ihnen zum Vorteil gereichen könnte.
Sie war leger in Hose, Hemd und Jacke gekleidet und
trug die Stiefel, die Lucivar ihr zu Winsol geschenkt hatte. Es war
zu schade, dass sie nicht ihren Dolch und das kleine Messer
herbeigerufen hatte, als sie durch das Tor gegangen war. Die
Stiefel wiesen Scheiden für beide Waffen auf. Sie würde sich wohler
fühlen, wenn sie zwei geschliffene Klingen griffbereit bei sich
hätte. Tja, sie waren immer noch griffbereit, da sie sie
herbeirufen konnte, doch sie wäre nicht die Einzige, die für das
Anwenden der Kunst bestraft würde. Deshalb würde sie warten müssen,
bis sie eine Klinge wirklich benötigte.
*Weißt du, wir sollten besser heil aus diesem Haus
hinauskommen *, sagte Rainier.
*Aus noch einem anderen Grund als dem
offensichtlichen, dass ich nicht hier festsitzen möchte, falls ich
als Dämonentote enden sollte?*, fragte Surreal, die sich immer noch
langsam drehte und das Zimmer musterte.
*Möchtest du vielleicht Lucivar erklären, dass du
dich nicht mithilfe eines Schildes geschützt hast, bevor du ein
unbekanntes Haus betreten hast?*
Ach, Mist! Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm,
in dem Haus festzusitzen.
*Lassen wir es darauf ankommen und erschaffen keine
Schilde?*, fragte Rainier.
*Erst einmal zumindest. Versammeln wir unsere Herde
blökender Schafe, und treiben wir sie in das Zimmer auf der anderen
Seite der Diele.*
*Es sind keine blökenden Schafe, sondern
Kinder.*
*Das habe ich doch gesagt.* Die Betrachtung des
Zimmers hatte sie letztendlich wieder zu dem Porträt über dem Kamin
geführt.
Etwas stimmte mit den Augen nicht. Dann stimmte
etwas mit dem ganzen Gesicht nicht, als der Illusionszauber
einsetzte. Der Kopf auf dem Porträt bewegte sich und sah auf sie
herab. Der Mund verzog sich zu einem lüsternen Grinsen, als der
Mann barsch flüsterte: »Ich weiß, was du bist.«
Etwas in ihr erstarrte. Etwas, das verletzt worden
war, als Falonars Interesse an ihr nachgelassen hatte, weil sie
ihre Kampffähigkeiten hatte verbessern wollen. Nein. Nicht ihre
Fähigkeiten im Kämpfen. Ihre Fähigkeiten im Töten. Da
bestand ein Unterschied, selbst in den Augen eines eyrischen
Kriegers. Sie war nie eine Kriegerin gewesen, aber eine verdammt
gute Attentäterin.
Jetzt hatte sie das Gefühl, eine Klinge aus der
Scheide zu ziehen. Glänzend. Tödlich. Sie selbst war diese
Klinge.
»Ich weiß, was du bist«, sagte das Porträt
erneut.
»Nein«, erwiderte sie. »Das weißt du nicht.«
Natürlich hatte ihm das Pech widerfahren müssen,
das uninteressanteste Mitglied der Familie SaDiablo abzubekommen.
Eine ungebildete Hure. Mehr war sie nicht. Keinerlei Flair, kein
Esprit, keine Aura.
Oder benutzten sie diese mentalen Fäden, um sich
über die interessanten Dinge auszutauschen?
Egal. Er hatte die ganze Sache nicht eingefädelt,
um Dialoge zu sammeln. Er wollte die Angehörigen des Blutes
beobachten und sehen, wie sie mit seinen kleinen Überraschungen
fertig wurden.
Und bei der Veröffentlichung seines nächsten Buches
würde niemand behaupten können, seiner Figur Landry Langston
mangele es an Authentizität.
Weil das da nicht mein Spukhaus ist.
Daemon nahm die Worte nach und nach in sich auf,
wie weiche Erde Regentropfen.
Nicht ihres.
Eine Einladung, die ihn zu diesem Ort locken
sollte, auf eine Art und Weise formuliert, die dafür sorgte, dass
er ihr nachkommen würde, ohne Fragen zu stellen. Eine instinktive
Reaktion, die nicht das Wesen der Frau bedachte, die sie angeblich
verschickt hatte. In dieser Hinsicht hatte Jaenelle Recht: Wenn er
nur eine Minute innegehalten und nachgedacht hätte, hätte er sich
gefragt, warum sie die Einladung verschickt hatte.
Finger-schnipp-Befehl hatte sie es genannt.
Genau das war es gewesen. Sie konnte einen solchen Befehl erteilen
und erwarten, dass ihm ohne Wenn und Aber Folge geleistet wurde.
Allerdings hatte er das Gefühl, wenn er die Jungen in ihrem Ersten
Kreis befragen würde, wie sie auf einen derartigen Befehl reagiert
hätten, hätte jeder Einzelne gesagt, er wäre durch sämtliche
Schilde geschützt und kampfbereit eingetroffen.
Jaenelle Angelline war nie eine rücksichtslose oder
harte Königin gewesen. Und sie war keine rücksichtslose oder harte
Ehefrau.
Er holte tief Luft und stieß sie mit einem Seufzer
aus, als er das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite
anstarrte.
»Wenn ich zugebe, ein Esel zu sein, können wir dann diese
Meinungsverschiedenheit ausdiskutieren, nachdem wir herausgefunden
haben, was dort vor sich geht?«
»Falls es dann noch eine Meinungsverschiedenheit
auszudiskutieren geben sollte.«
Als sie ihm die Arme um die Taille legte, zog er
sie in seine Arme – und konnte spüren, wie sich die angespannte
Muskulatur in seiner Brust und in seinem Rücken allmählich
lockerte.
Bis sie ihn anlächelte und hinzufügte: »Wie groß
ist dein schlechtes Gewissen, solch ein Esel gewesen zu
sein?«
Ein Schauder lief ihm die Wirbelsäule hinab. Mit
weichen Knien fragte er. »Wieso?«
»Ich benötige deine Hilfe, um den letzten Teil
meines Spukhauses fertig zu stellen.«
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge
die Dunkelheit Erbarmen haben!
»Möchtest du mich nicht fragen, was ich von dir
will?«
Alles hat seinen Preis, alter Narr. Sieh es
einfach als eine Art Tritt in den Hintern. »Nein.«
»Aha!« Sie küsste ihn zärtlich und trat dann einen
Schritt zurück. »Du hast also tatsächlich ein schlechtes
Gewissen.«
Denk nicht darüber nach. Denk nicht darüber
nach! »Sollen wir?« Er neigte den Kopf in Richtung des
Hauses.
Als sie die andere Straßenseite erreichten, konnte
er die Zauber spüren, wie Nadeln, die ihm leicht die Haut
zerkratzten. Verworrene Netze aus Träumen und Visionen.
Illusionszauber. Etliche Schichten davon.
Er war als Schwarze Witwe auf die Welt gekommen –
die einzige natürliche männliche Schwarze Witwe in der Geschichte
des Blutes. Der einzige andere Mann, der zur Schwarzen Witwe
gemacht worden war, war sein Vater. Was auch immer dieses Haus
umgab, war das Werk der Schwestern des Stundenglases – und das
bedeutete nichts Gutes. Abgesehen davon war es nicht gut, dass
…
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als ihm klar
wurde, dass ihm ein paar der Zauber vertraut vorkamen.
»Drei«, sagte Jaenelle und machte einen Schritt auf
den schmiedeeisernen Zaun zu.
»Schild!«, fuhr Daemon sie an und umgab sich mit
einem schwarzen Schild. Es war verlockend, sie ebenfalls mit dem
Schild zu schützen, aber das wäre, als würde er sie in einen
Pullover stecken, anstatt ihr das Anziehen selbst zu
überlassen.
Sie blinzelte zu ihm herüber und murmelte dann
etwas in einer ihm unbekannten Sprache, während sich ein
Schutzschild um sie herum aufbaute. Keine Blase. Dies war eine
vollständige Hülle aus Macht, die ihre Gestalt eine Handbreit über
ihrer Haut umgab.
Er war immer noch dabei, ihr jetziges Juwel,
Schatten der Dämmerung, kennen zu lernen, aber der Schild schien
die gleiche Kraft wie ein schwarzgraues Juwel zu besitzen. Das
würde fürs Erste reichen.
»Woher weißt du, dass es drei gewesen sind?«,
fragte er, indem er auf ihre frühere Bemerkung zurückkam.
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war der einer
Lehrerin ihrem Schüler gegenüber, da sie den größten Teil seiner
formellen Ausbildung in der Stundenglaskunst überwachte.
Der Höllenfürst war für den Rest verantwortlich –
was weder Saetan noch er irgendjemandem gegenüber erwähnten.
»Die Zauber besitzen drei unterschiedliche Nuancen,
drei unterschiedliche Temperamente, die bei ihrer Erschaffung in
sie eingeflossen sind. Wir haben den Ort, an dem die Zauber ihren
Anfang nahmen, noch nicht erreicht, aber wir sind nahe daran.«
Jaenelle zögerte. »Daemon …«
»Ich weiß.« Und es brach ihm das Herz, denn je
näher sie dem Tor im Zaun kamen, desto falscher fühlte der
Ort sich an. »Ich weiß, Lady. Ich habe nicht bemerkt, dass es noch
zwei andere gibt, aber sie habe ich erkannt.« Dann
fügte er hinzu: *Wir haben Gesellschaft.*
Sie fuhren in ihrer Betrachtung des Hauses fort,
ohne sich anmerken zu lassen, dass sie sich des Menschen bewusst
waren, der sich ihnen näherte.
Ein Landen, was nicht weiter verwunderlich war, da
sie
sich in einem Landendorf befanden. Doch mehr konnte Daemon nicht
spüren, denn seine schwarze Juwelenmacht war so stark, dass er den
Geist eines Landen nicht berühren konnte, ohne ihn zu
zerstören.
Also warteten sie ab, bis eine junge Stimme
zögerlich fragte: »Geht ihr in das Spukhaus?«
Nun drehten sie sich um, doch Daemon bewegte sich
dabei ein wenig, sodass Jaenelle teilweise hinter seiner linken
Schulter verschwand. Auf diese Weise konnte sie den Jungen zwar
immer noch sehen, doch Daemon fungierte als eine Art zusätzlicher
Schild.
Aus Jaenelles Richtung schlug ihm resignierte
Belustigung entgegen, aber kein Protest, kein Versuch, seinen
Beschützerinstinkt zu umgehen.
Der Junge befand sich in dem unbeholfenen Alter, in
dem er zwar kein Kind mehr war, aber auch noch kein junger Mann.
Sein Alter und der Umstand, dass er ein Landen war, machten es
unwahrscheinlich, dass er eine Bedrohung für sie darstellte. Doch
das änderte nichts an Daemons Wachsamkeit.
»Die andere Lady und der Gentleman haben ein paar
Kinder mitgenommen«, sagte der Junge mit hoffnungsvoller
Stimme.
Daemon winkte mit einem Finger und bedeutete dem
Jungen, zu ihm zu kommen. Es war besser, darauf zu warten, dass der
Junge sich ihnen näherte. Er hatte etwas Schüchternes an sich,
etwas …
*Er ist verletzt worden*, sagte Jaenelle.
Er hielt seine Wut im Zaum. Aus dem Munde eines
Menschen mit Jaenelles Vergangenheit, bedeuteten »verletzt« und
»verwundet« nicht das Gleiche. Beim Feuer der Hölle, jemand mit
seiner Vergangenheit erkannte den Unterschied! *Körperlich
misshandelt?*
*Ich weiß nicht. Aber solche Kinder haben etwas an
sich. Gleiches erkennt Gleiches.*
Er konnte den Schmerz hören, der in ihren Worten
mitschwang.
»Wie heißt du?«, fragte er den Jungen.
»Yuli.«
»Du hast gesagt, eine Lady und ein Gentleman seien
in das Haus gegangen? Wie lange ist das her?«
»Nicht lange.«
»Wie haben sie ausgesehen?«, wollte Jaenelle
wissen.
»Die Lady war hübsch«, sagte Yuli. Dann hob er die
Hand und fügte zögernd hinzu: »Aber ihre Ohren haben ein bisschen
komisch ausgesehen.«
»Spitz?«
»Mhm.«
»Der Gentleman«, sagte Daemon. »Hat er Flügel
gehabt?«
Yuli schüttelte den Kopf. »Aus Dhemlan kam er auch
nicht, denn er war hellhäutig.«
Das klang, als habe Rainier Surreal begleitet. Was
bedeutete, dass Lucivar noch nicht eingetroffen war. Außer er war
gekommen, bevor die Kinder sich versammelt hatten, um das Haus zu
beobachten.
»Wenn sie andere Kinder mitgenommen haben, warum
bist du dann nicht mit ihnen mitgegangen?«, erkundigte sich
Daemon.
Er sah, wie der Junge zusammenzuckte, spürte das
verletzte Beben in seiner Stimme.
»Ich lebe im Waisenhaus«, sagte Yuli. »Die anderen
wollen nicht …« Die Worte wurden immer leiser, bis nur noch
schmerzvolles Schweigen herrschte.
»Tja, dann«, sagte Jaenelle. »Da haben wir ja Glück
gehabt!«
Ihre Stimme war wie ein Sommerwind, der über den
Jungen hinwegstrich, doch Daemon konnte das Eis unter der Wärme
heraushören.
»Jemand hat einen Stein aus dem Fenster geworfen«,
sagte Yuli. »Kurz bevor euer …« Er blickte mit gerunzelter Stirn
über die Straße.
»Unsere Kutsche«, sagte Daemon.
»Bevor eure Kutsche eingetroffen ist.« Yuli
wirbelte herum und deutete auf den Rasen jenseits des Zaunes. »Er
liegt noch dort drüben.«
»Sobald wir die Grenze überschreiten, werden die
Zauber zu wirken beginnen«, sagte Jaenelle.
Daemon machte sich nicht die Mühe, das »wir« in dem
Satz zu diskutieren. Er würde sie lieber zu Boden ringen, als sie
jene Grenze überschreiten zu lassen.
»Ich hole ihn!«, meinte Yuli. Der Junge hechtete
durch das Tor, das krachend hinter ihm zufiel.
Jaenelle zischte. »Macht.«
»Wie …?« Daemon warf ihr einen Blick zu. Ihr Juwel,
das normalerweise wie Purpur mit Streifen der anderen Juwelenfarben
aussah, glühte jetzt rosenfarben. Sie befand sich am hellsten Punkt
ihres eigenen Machtspektrums.
»Er trägt eine Spur des Blutes in sich«, sagte sie.
»Er ist kein reiner Landen.«
Verdammt! »Verfügt er über ausreichend Macht, um
sich in diesen Zaubern zu verfangen?«
»Keine Ahnung.« Sie hielt inne, ihre Aufmerksamkeit
ganz auf den Jungen gerichtet. »Nein. Er ist nicht stark genug, um
sich der Kunst zu bedienen, also ist er auch nicht stark genug, um
die Zauber auszulösen.«
Trotzdem hielt Daemon den Atem an, bis der Junge
durch das Tor zurückgerannt kam, ein mit Bändern verschnürtes
Bündel in der Hand. Daemon bedankte sich murmelnd, nahm das Bündel
und bediente sich dann der Kunst, um den Nagel seines rechten
Zeigefingers mit einer Messerschneide zu versehen. Während er die
Bänder durchschnitt, erschuf Jaenelle eine Kugel Hexenlicht.
*Das ist nicht das praktischste Leselicht*, sagte
Daemon mit einem Blick auf die Kugel, die aus einem
umherwirbelnden, vielfarbigen Regenbogen bestand.
*Du liest ja noch gar nicht, oder?*, erwiderte
Jaenelle säuerlich.
Er blickte zu dem Jungen, der die Augen entzückt
weit aufgerissen hatte. Ohne weiteren Kommentar wickelte er das
Taschentuch auf und ließ es verschwinden. Als er in der einen Hand
ein Stück Papier und in der anderen einen Briefbeschwerer hielt,
verströmte die Kugel ein weiches weißes Licht.
Alle drei starrten den Briefbeschwerer an – und
beobachteten, wie der Illusionszauber eine tote, leicht
zerquetschte Babymaus in massivem Glas zu einem Wesen machte, das
sich immer und immer wieder gegen eine Glaskuppel warf und um Hilfe
quiekte.
Daemon starrte die Kugel an. Der Zauber hatte etwas
bizarr faszinierendes an sich, etwas das einen Teil von ihm
ansprach, der zweifellos nicht ganz erwachsen war.
Wahrscheinlich würde Daemonar es lieben, dem
Mäuschen zuzusehen. Ebenso die Wolfsjungen, die in dem Horst
lebten. Marian hingegen würde höchstwahrscheinlich nach einem Mop
greifen und versuchen, ihn grün und blau zu schlagen, falls er
ihrem Sohn dieses bizarre Ding schenkte.
»Der Illusionszauber muss durch die Wärme einer
Menschenhand ausgelöst werden«, sagte Jaenelle. »Er ruht, bis
jemand den Briefbeschwerer hochhebt.«
»Die verwirrte Lady muss das gemacht haben«, sagte
Yuli. »Die anderen waren nicht nett. Sie schon.«
Die Worte des Jungen waren ein verbaler Messerstich
in die Magengegend.
»Sie hat sich mit dir unterhalten?«, fragte
Jaenelle.
Yuli nickte. »Sie hat gesagt, das Spukhaus sei eine
Attraktion, wie Jaenelle Angelline eine baut. Eine Unterhaltung für
die Kinder. Und eine Überraschung für den Jungen.«
»Eine Überraschung für den Jungen«, murmelte
Daemon. Er reichte Yuli den Briefbeschwerer und hielt dann das
Papier hoch, damit Jaenelle und er es lesen konnten.
Dann fluchte er leise und wild.
»Mutter der Nacht«, sagte Jaenelle mit einem Blick
auf das Haus. »Es klingt, als habe diese Attraktion ein paar
Fangzähne und Krallen.«
»Verzeihung, Yuli«, sagte Daemon. »Ich habe
versäumt, uns vorzustellen. Ich heiße Daemon Sadi, Kriegerprinz von
Dhemlan. Und dies ist meine Lady, Jaenelle Angelline.«
Yulis Mund blieb offen stehen. »Die
Lady?«
Tja, das machte ihm mehr als deutlich, an welcher
Stelle in der Rangordnung er sich befand. »Ja, die Lady.« Er
hielt
inne. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Ich habe etwas
Dringendes zu erledigen und muss auf der Stelle fort. Wirst du der
Lady bis zu meiner Rückkehr Gesellschaft leisten?«
»Sehr wohl, Sir!«
*Du lässt einen Jungen hier, der mich beschützen
soll?*, fragte Jaenelle.
*Ich gebe ihm lediglich einen Vorwand, bei dir zu
bleiben – und bei dem Picknickkorb, den Beale in der Kutsche
verstaut hat. Bei meiner Rückkehr wirst du schätzungsweise alles,
was die Dorfbewohner über dieses Haus wissen, in Erfahrung gebracht
haben.* Und alles, was die Dorfbewohner dich vielleicht nicht
über dieses Waisenhaus im Allgemeinen und den Jungen im Besonderen
wissen lassen möchten. *Außerdem muss jemand hier sein, um
Lucivar davon abzuhalten, das Haus zu betreten, falls ich ihn nicht
rechtzeitig vorwarnen kann.* Und wenn du denselben Tonfall bei
ihm anschlägst, den du bei mir benutzt hast, wird er wie
angewurzelt stehen bleiben.
»Na gut, dann bleibe ich eben«, sagte Jaenelle.
»Und Yulis Gesellschaft ist mir willkommen.« *Du wirst mit ihr
reden?*
Er gab ihr einen zärtlichen, langen Kuss, weil er
sie spüren musste. *Ja, ich werde mit ihr reden.*