Kapitel 11
 
 
 
Durch einen Sichtschutz verdeckt, beobachtete er sie durch die Gucklöcher in dem Porträt, und fühlte sich dabei in Sicherheit. Diese geheimen Gänge und seine kleinen Verstecke standen nicht im Bann der Zauber, die das Anwenden von Kunst im übrigen Haus einschränkten. Dafür hatte er gesorgt, bevor er mit der Schwarzen Witwe abgerechnet hatte, die seiner Version des Spukhauses die letzte, tödliche Schicht verliehen hatte. Selbstverständlich hatte sie nicht vorgehabt, selbst Teil dieser letzten, tödlichen Schicht zu werden.
Da er sich mittlerweile um sämtliche seiner »Teilhaberinnen« gekümmert hatte, gab es niemanden mehr, der ihn mit diesem Ort in Verbindung bringen konnte. Nun, er hatte sich um fast alle gekümmert. Lediglich eine Hexe war nicht aufgetaucht, um sich ihre Bezahlung abzuholen. Gut so. Ihm war während seines ganzen Umgangs mit dem Stundenglassabbat unbehaglich zumute gewesen, aber diese eine Schwarze Witwe war noch unheimlicher als die Übrigen gewesen. Aber selbst wenn sie erzählen sollte, dass sie Illusionszauber für ein Spukhaus gewoben hatte, wer würde ihr schon zuhören oder gar Glauben schenken?
 
»Also gut«, sagte Surreal und schob sich die Haare hinter die Ohren. »Jemand hat uns als Hauptrollen in einem Kriminalroman über ein Haus besetzt, das uns umzubringen versucht. Fasst es das in ungefähr zusammen?«
»Das Haus selbst besteht aus Holz, Glas und Stein«, sagte Rainier. »Es versucht überhaupt nichts. Aber es hat den Anschein, als versuche jemand, uns umzubringen. Oder uns zumindest wehzutun. Dieser Jemand hat eine Schwarze Witwe angeheuert, die Illusionszauber erschaffen sollte, und wahrscheinlich noch andere Dinge. Wir sollten davon ausgehen, dass sie uns Schaden zufügen, während wir nach einem Ausweg suchen.«
Mehr als eine Schwarze Witwe, dachte Surreal. Aber diese Erkenntnis würde sie noch ein Weilchen für sich behalten. Schließlich konnte sie sich auch irren.
Süße Dunkelheit, bitte lass mich irren!
»Wir verfügen über zwei Lampen und das Hexenlicht«, sagte Rainier.
»Und eine Waffe«, meinte Surreal, als Rainier ihr den Schürhaken reichte. »Ich habe nicht viel Kraft in das Hexenlicht gesteckt, als ich es erschuf. Es wird also nicht allzu lange halten.«
Rainier hob eine kleine Schachtel auf, die neben einer der Lampen gelegen hatte. Nachdem er sie geöffnet hatte, betrachtete er den Inhalt mit gerunzelter Stirn.
»Das sind Streichhölzer«, sagte Kester und verdrehte die Augen. »Man streicht mit einem gegen die raue Seite der Schachtel, um eine Flamme zu erhalten und eine Lampe oder Holz anzuzünden.«
»Ich weiß, was Streichhölzer sind«, sagte Rainier und ließ die Schachtel in seine Manteltasche gleiten. Dann sah er Surreal an. *Benutzen wir Schilde?*
Wenn sie es nicht taten, waren sie verwundbar. Wenn sie es taten …
*Nur für uns oder auch für die Kinder?*, fragte sie. Die Landen hätten nicht die geringste Kontrolle über den Schild und wären nicht in der Lage, dessen Macht zu erneuern, aber Rainier und sie könnten jedes einzelne Kind mit einem Schild umgeben, der es vor den ersten paar Angriffen schützen würde. Allerdings …
*Wenn wir alle mit einem Schild versehen, bedeutet das neun weitere Anwendungen von Kunst. Zusammen mit den Malen, die wir uns bereits der Kunst bedient haben, würde das mehr als die Hälfte der möglichen Ausgänge vernichten *, sagte Rainier und verlieh damit ihren eigenen Gedanken Ausdruck.
*Und höchstwahrscheinlich werden zuerst diejenigen Ausgänge dicht gemacht, die am leichtesten zu finden sind.* Wie die Eingangstür. Und das Fenster im Salon. »Wie viele Zimmer?«, fragte sie. »Ich habe nicht allzu gut aufgepasst, aber das Haus sah geräumig aus, wenn auch nicht übermäßig groß. Ein Dutzend Zimmer insgesamt?«
Rainier nickte. »Plus Dachboden und Keller.«
Gab es einen weiteren Ausgang in diesem Zimmer?
*Wenn es darum geht, dass wir uns den Fallen stellen, wird es nicht mehr als ein oder zwei Ausgänge in den vorderen Räumen geben*, sagte Rainier. *Und falls das hier tatsächlich auf einer Kriminalgeschichte basiert, haben wir bereits einen Hinweis erhalten, und uns ist gezeigt worden, welchen Gefahren wir begegnen, wenn wir einen Ausgang finden und versuchen sollten, ihn zu benutzen.*
Zu ihrem Leidwesen musste sie ihm beipflichten. Niemand hätte sich die Mühe gemacht, diesen Ort zu erschaffen, nur um dann das Risiko einzugehen, dass sie schnell einen Ausweg finden könnten.
Surreal sah sich eingehend in dem Zimmer um. Sie suchte nach einem möglichen Schlupfloch oder irgendetwas anderem, das sich als nützlich erweisen könnte – doch sie fand nichts, was ihnen zum Vorteil gereichen könnte.
Sie war leger in Hose, Hemd und Jacke gekleidet und trug die Stiefel, die Lucivar ihr zu Winsol geschenkt hatte. Es war zu schade, dass sie nicht ihren Dolch und das kleine Messer herbeigerufen hatte, als sie durch das Tor gegangen war. Die Stiefel wiesen Scheiden für beide Waffen auf. Sie würde sich wohler fühlen, wenn sie zwei geschliffene Klingen griffbereit bei sich hätte. Tja, sie waren immer noch griffbereit, da sie sie herbeirufen konnte, doch sie wäre nicht die Einzige, die für das Anwenden der Kunst bestraft würde. Deshalb würde sie warten müssen, bis sie eine Klinge wirklich benötigte.
*Weißt du, wir sollten besser heil aus diesem Haus hinauskommen *, sagte Rainier.
*Aus noch einem anderen Grund als dem offensichtlichen, dass ich nicht hier festsitzen möchte, falls ich als Dämonentote enden sollte?*, fragte Surreal, die sich immer noch langsam drehte und das Zimmer musterte.
*Möchtest du vielleicht Lucivar erklären, dass du dich nicht mithilfe eines Schildes geschützt hast, bevor du ein unbekanntes Haus betreten hast?*
Ach, Mist! Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, in dem Haus festzusitzen.
*Lassen wir es darauf ankommen und erschaffen keine Schilde?*, fragte Rainier.
*Erst einmal zumindest. Versammeln wir unsere Herde blökender Schafe, und treiben wir sie in das Zimmer auf der anderen Seite der Diele.*
*Es sind keine blökenden Schafe, sondern Kinder.*
*Das habe ich doch gesagt.* Die Betrachtung des Zimmers hatte sie letztendlich wieder zu dem Porträt über dem Kamin geführt.
Etwas stimmte mit den Augen nicht. Dann stimmte etwas mit dem ganzen Gesicht nicht, als der Illusionszauber einsetzte. Der Kopf auf dem Porträt bewegte sich und sah auf sie herab. Der Mund verzog sich zu einem lüsternen Grinsen, als der Mann barsch flüsterte: »Ich weiß, was du bist.«
Etwas in ihr erstarrte. Etwas, das verletzt worden war, als Falonars Interesse an ihr nachgelassen hatte, weil sie ihre Kampffähigkeiten hatte verbessern wollen. Nein. Nicht ihre Fähigkeiten im Kämpfen. Ihre Fähigkeiten im Töten. Da bestand ein Unterschied, selbst in den Augen eines eyrischen Kriegers. Sie war nie eine Kriegerin gewesen, aber eine verdammt gute Attentäterin.
Jetzt hatte sie das Gefühl, eine Klinge aus der Scheide zu ziehen. Glänzend. Tödlich. Sie selbst war diese Klinge.
»Ich weiß, was du bist«, sagte das Porträt erneut.
»Nein«, erwiderte sie. »Das weißt du nicht.«
 
Natürlich hatte ihm das Pech widerfahren müssen, das uninteressanteste Mitglied der Familie SaDiablo abzubekommen. Eine ungebildete Hure. Mehr war sie nicht. Keinerlei Flair, kein Esprit, keine Aura.
Oder benutzten sie diese mentalen Fäden, um sich über die interessanten Dinge auszutauschen?
Egal. Er hatte die ganze Sache nicht eingefädelt, um Dialoge zu sammeln. Er wollte die Angehörigen des Blutes beobachten und sehen, wie sie mit seinen kleinen Überraschungen fertig wurden.
Und bei der Veröffentlichung seines nächsten Buches würde niemand behaupten können, seiner Figur Landry Langston mangele es an Authentizität.
 
Weil das da nicht mein Spukhaus ist.
Daemon nahm die Worte nach und nach in sich auf, wie weiche Erde Regentropfen.
Nicht ihres.
Eine Einladung, die ihn zu diesem Ort locken sollte, auf eine Art und Weise formuliert, die dafür sorgte, dass er ihr nachkommen würde, ohne Fragen zu stellen. Eine instinktive Reaktion, die nicht das Wesen der Frau bedachte, die sie angeblich verschickt hatte. In dieser Hinsicht hatte Jaenelle Recht: Wenn er nur eine Minute innegehalten und nachgedacht hätte, hätte er sich gefragt, warum sie die Einladung verschickt hatte.
Finger-schnipp-Befehl hatte sie es genannt. Genau das war es gewesen. Sie konnte einen solchen Befehl erteilen und erwarten, dass ihm ohne Wenn und Aber Folge geleistet wurde. Allerdings hatte er das Gefühl, wenn er die Jungen in ihrem Ersten Kreis befragen würde, wie sie auf einen derartigen Befehl reagiert hätten, hätte jeder Einzelne gesagt, er wäre durch sämtliche Schilde geschützt und kampfbereit eingetroffen.
Jaenelle Angelline war nie eine rücksichtslose oder harte Königin gewesen. Und sie war keine rücksichtslose oder harte Ehefrau.
Er holte tief Luft und stieß sie mit einem Seufzer aus, als er das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite anstarrte. »Wenn ich zugebe, ein Esel zu sein, können wir dann diese Meinungsverschiedenheit ausdiskutieren, nachdem wir herausgefunden haben, was dort vor sich geht?«
»Falls es dann noch eine Meinungsverschiedenheit auszudiskutieren geben sollte.«
Als sie ihm die Arme um die Taille legte, zog er sie in seine Arme – und konnte spüren, wie sich die angespannte Muskulatur in seiner Brust und in seinem Rücken allmählich lockerte.
Bis sie ihn anlächelte und hinzufügte: »Wie groß ist dein schlechtes Gewissen, solch ein Esel gewesen zu sein?«
Ein Schauder lief ihm die Wirbelsäule hinab. Mit weichen Knien fragte er. »Wieso?«
»Ich benötige deine Hilfe, um den letzten Teil meines Spukhauses fertig zu stellen.«
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben!
»Möchtest du mich nicht fragen, was ich von dir will?«
Alles hat seinen Preis, alter Narr. Sieh es einfach als eine Art Tritt in den Hintern. »Nein.«
»Aha!« Sie küsste ihn zärtlich und trat dann einen Schritt zurück. »Du hast also tatsächlich ein schlechtes Gewissen.«
Denk nicht darüber nach. Denk nicht darüber nach! »Sollen wir?« Er neigte den Kopf in Richtung des Hauses.
Als sie die andere Straßenseite erreichten, konnte er die Zauber spüren, wie Nadeln, die ihm leicht die Haut zerkratzten. Verworrene Netze aus Träumen und Visionen. Illusionszauber. Etliche Schichten davon.
Er war als Schwarze Witwe auf die Welt gekommen – die einzige natürliche männliche Schwarze Witwe in der Geschichte des Blutes. Der einzige andere Mann, der zur Schwarzen Witwe gemacht worden war, war sein Vater. Was auch immer dieses Haus umgab, war das Werk der Schwestern des Stundenglases – und das bedeutete nichts Gutes. Abgesehen davon war es nicht gut, dass …
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als ihm klar wurde, dass ihm ein paar der Zauber vertraut vorkamen.
»Drei«, sagte Jaenelle und machte einen Schritt auf den schmiedeeisernen Zaun zu.
»Schild!«, fuhr Daemon sie an und umgab sich mit einem schwarzen Schild. Es war verlockend, sie ebenfalls mit dem Schild zu schützen, aber das wäre, als würde er sie in einen Pullover stecken, anstatt ihr das Anziehen selbst zu überlassen.
Sie blinzelte zu ihm herüber und murmelte dann etwas in einer ihm unbekannten Sprache, während sich ein Schutzschild um sie herum aufbaute. Keine Blase. Dies war eine vollständige Hülle aus Macht, die ihre Gestalt eine Handbreit über ihrer Haut umgab.
Er war immer noch dabei, ihr jetziges Juwel, Schatten der Dämmerung, kennen zu lernen, aber der Schild schien die gleiche Kraft wie ein schwarzgraues Juwel zu besitzen. Das würde fürs Erste reichen.
»Woher weißt du, dass es drei gewesen sind?«, fragte er, indem er auf ihre frühere Bemerkung zurückkam.
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war der einer Lehrerin ihrem Schüler gegenüber, da sie den größten Teil seiner formellen Ausbildung in der Stundenglaskunst überwachte.
Der Höllenfürst war für den Rest verantwortlich – was weder Saetan noch er irgendjemandem gegenüber erwähnten.
»Die Zauber besitzen drei unterschiedliche Nuancen, drei unterschiedliche Temperamente, die bei ihrer Erschaffung in sie eingeflossen sind. Wir haben den Ort, an dem die Zauber ihren Anfang nahmen, noch nicht erreicht, aber wir sind nahe daran.« Jaenelle zögerte. »Daemon …«
»Ich weiß.« Und es brach ihm das Herz, denn je näher sie dem Tor im Zaun kamen, desto falscher fühlte der Ort sich an. »Ich weiß, Lady. Ich habe nicht bemerkt, dass es noch zwei andere gibt, aber sie habe ich erkannt.« Dann fügte er hinzu: *Wir haben Gesellschaft.*
Sie fuhren in ihrer Betrachtung des Hauses fort, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie sich des Menschen bewusst waren, der sich ihnen näherte.
Ein Landen, was nicht weiter verwunderlich war, da sie sich in einem Landendorf befanden. Doch mehr konnte Daemon nicht spüren, denn seine schwarze Juwelenmacht war so stark, dass er den Geist eines Landen nicht berühren konnte, ohne ihn zu zerstören.
Also warteten sie ab, bis eine junge Stimme zögerlich fragte: »Geht ihr in das Spukhaus?«
Nun drehten sie sich um, doch Daemon bewegte sich dabei ein wenig, sodass Jaenelle teilweise hinter seiner linken Schulter verschwand. Auf diese Weise konnte sie den Jungen zwar immer noch sehen, doch Daemon fungierte als eine Art zusätzlicher Schild.
Aus Jaenelles Richtung schlug ihm resignierte Belustigung entgegen, aber kein Protest, kein Versuch, seinen Beschützerinstinkt zu umgehen.
Der Junge befand sich in dem unbeholfenen Alter, in dem er zwar kein Kind mehr war, aber auch noch kein junger Mann. Sein Alter und der Umstand, dass er ein Landen war, machten es unwahrscheinlich, dass er eine Bedrohung für sie darstellte. Doch das änderte nichts an Daemons Wachsamkeit.
»Die andere Lady und der Gentleman haben ein paar Kinder mitgenommen«, sagte der Junge mit hoffnungsvoller Stimme.
Daemon winkte mit einem Finger und bedeutete dem Jungen, zu ihm zu kommen. Es war besser, darauf zu warten, dass der Junge sich ihnen näherte. Er hatte etwas Schüchternes an sich, etwas …
*Er ist verletzt worden*, sagte Jaenelle.
Er hielt seine Wut im Zaum. Aus dem Munde eines Menschen mit Jaenelles Vergangenheit, bedeuteten »verletzt« und »verwundet« nicht das Gleiche. Beim Feuer der Hölle, jemand mit seiner Vergangenheit erkannte den Unterschied! *Körperlich misshandelt?*
*Ich weiß nicht. Aber solche Kinder haben etwas an sich. Gleiches erkennt Gleiches.*
Er konnte den Schmerz hören, der in ihren Worten mitschwang.
»Wie heißt du?«, fragte er den Jungen.
»Yuli.«
»Du hast gesagt, eine Lady und ein Gentleman seien in das Haus gegangen? Wie lange ist das her?«
»Nicht lange.«
»Wie haben sie ausgesehen?«, wollte Jaenelle wissen.
»Die Lady war hübsch«, sagte Yuli. Dann hob er die Hand und fügte zögernd hinzu: »Aber ihre Ohren haben ein bisschen komisch ausgesehen.«
»Spitz?«
»Mhm.«
»Der Gentleman«, sagte Daemon. »Hat er Flügel gehabt?«
Yuli schüttelte den Kopf. »Aus Dhemlan kam er auch nicht, denn er war hellhäutig.«
Das klang, als habe Rainier Surreal begleitet. Was bedeutete, dass Lucivar noch nicht eingetroffen war. Außer er war gekommen, bevor die Kinder sich versammelt hatten, um das Haus zu beobachten.
»Wenn sie andere Kinder mitgenommen haben, warum bist du dann nicht mit ihnen mitgegangen?«, erkundigte sich Daemon.
Er sah, wie der Junge zusammenzuckte, spürte das verletzte Beben in seiner Stimme.
»Ich lebe im Waisenhaus«, sagte Yuli. »Die anderen wollen nicht …« Die Worte wurden immer leiser, bis nur noch schmerzvolles Schweigen herrschte.
»Tja, dann«, sagte Jaenelle. »Da haben wir ja Glück gehabt!«
Ihre Stimme war wie ein Sommerwind, der über den Jungen hinwegstrich, doch Daemon konnte das Eis unter der Wärme heraushören.
»Jemand hat einen Stein aus dem Fenster geworfen«, sagte Yuli. »Kurz bevor euer …« Er blickte mit gerunzelter Stirn über die Straße.
»Unsere Kutsche«, sagte Daemon.
»Bevor eure Kutsche eingetroffen ist.« Yuli wirbelte herum und deutete auf den Rasen jenseits des Zaunes. »Er liegt noch dort drüben.«
»Sobald wir die Grenze überschreiten, werden die Zauber zu wirken beginnen«, sagte Jaenelle.
Daemon machte sich nicht die Mühe, das »wir« in dem Satz zu diskutieren. Er würde sie lieber zu Boden ringen, als sie jene Grenze überschreiten zu lassen.
»Ich hole ihn!«, meinte Yuli. Der Junge hechtete durch das Tor, das krachend hinter ihm zufiel.
Jaenelle zischte. »Macht.«
»Wie …?« Daemon warf ihr einen Blick zu. Ihr Juwel, das normalerweise wie Purpur mit Streifen der anderen Juwelenfarben aussah, glühte jetzt rosenfarben. Sie befand sich am hellsten Punkt ihres eigenen Machtspektrums.
»Er trägt eine Spur des Blutes in sich«, sagte sie. »Er ist kein reiner Landen.«
Verdammt! »Verfügt er über ausreichend Macht, um sich in diesen Zaubern zu verfangen?«
»Keine Ahnung.« Sie hielt inne, ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Jungen gerichtet. »Nein. Er ist nicht stark genug, um sich der Kunst zu bedienen, also ist er auch nicht stark genug, um die Zauber auszulösen.«
Trotzdem hielt Daemon den Atem an, bis der Junge durch das Tor zurückgerannt kam, ein mit Bändern verschnürtes Bündel in der Hand. Daemon bedankte sich murmelnd, nahm das Bündel und bediente sich dann der Kunst, um den Nagel seines rechten Zeigefingers mit einer Messerschneide zu versehen. Während er die Bänder durchschnitt, erschuf Jaenelle eine Kugel Hexenlicht.
*Das ist nicht das praktischste Leselicht*, sagte Daemon mit einem Blick auf die Kugel, die aus einem umherwirbelnden, vielfarbigen Regenbogen bestand.
*Du liest ja noch gar nicht, oder?*, erwiderte Jaenelle säuerlich.
Er blickte zu dem Jungen, der die Augen entzückt weit aufgerissen hatte. Ohne weiteren Kommentar wickelte er das Taschentuch auf und ließ es verschwinden. Als er in der einen Hand ein Stück Papier und in der anderen einen Briefbeschwerer hielt, verströmte die Kugel ein weiches weißes Licht.
Alle drei starrten den Briefbeschwerer an – und beobachteten, wie der Illusionszauber eine tote, leicht zerquetschte Babymaus in massivem Glas zu einem Wesen machte, das sich immer und immer wieder gegen eine Glaskuppel warf und um Hilfe quiekte.
Daemon starrte die Kugel an. Der Zauber hatte etwas bizarr faszinierendes an sich, etwas das einen Teil von ihm ansprach, der zweifellos nicht ganz erwachsen war.
Wahrscheinlich würde Daemonar es lieben, dem Mäuschen zuzusehen. Ebenso die Wolfsjungen, die in dem Horst lebten. Marian hingegen würde höchstwahrscheinlich nach einem Mop greifen und versuchen, ihn grün und blau zu schlagen, falls er ihrem Sohn dieses bizarre Ding schenkte.
»Der Illusionszauber muss durch die Wärme einer Menschenhand ausgelöst werden«, sagte Jaenelle. »Er ruht, bis jemand den Briefbeschwerer hochhebt.«
»Die verwirrte Lady muss das gemacht haben«, sagte Yuli. »Die anderen waren nicht nett. Sie schon.«
Die Worte des Jungen waren ein verbaler Messerstich in die Magengegend.
»Sie hat sich mit dir unterhalten?«, fragte Jaenelle.
Yuli nickte. »Sie hat gesagt, das Spukhaus sei eine Attraktion, wie Jaenelle Angelline eine baut. Eine Unterhaltung für die Kinder. Und eine Überraschung für den Jungen.«
»Eine Überraschung für den Jungen«, murmelte Daemon. Er reichte Yuli den Briefbeschwerer und hielt dann das Papier hoch, damit Jaenelle und er es lesen konnten.
Dann fluchte er leise und wild.
»Mutter der Nacht«, sagte Jaenelle mit einem Blick auf das Haus. »Es klingt, als habe diese Attraktion ein paar Fangzähne und Krallen.«
»Verzeihung, Yuli«, sagte Daemon. »Ich habe versäumt, uns vorzustellen. Ich heiße Daemon Sadi, Kriegerprinz von Dhemlan. Und dies ist meine Lady, Jaenelle Angelline.«
Yulis Mund blieb offen stehen. »Die Lady
Tja, das machte ihm mehr als deutlich, an welcher Stelle in der Rangordnung er sich befand. »Ja, die Lady.« Er hielt inne. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen und muss auf der Stelle fort. Wirst du der Lady bis zu meiner Rückkehr Gesellschaft leisten?«
»Sehr wohl, Sir!«
*Du lässt einen Jungen hier, der mich beschützen soll?*, fragte Jaenelle.
*Ich gebe ihm lediglich einen Vorwand, bei dir zu bleiben – und bei dem Picknickkorb, den Beale in der Kutsche verstaut hat. Bei meiner Rückkehr wirst du schätzungsweise alles, was die Dorfbewohner über dieses Haus wissen, in Erfahrung gebracht haben.* Und alles, was die Dorfbewohner dich vielleicht nicht über dieses Waisenhaus im Allgemeinen und den Jungen im Besonderen wissen lassen möchten. *Außerdem muss jemand hier sein, um Lucivar davon abzuhalten, das Haus zu betreten, falls ich ihn nicht rechtzeitig vorwarnen kann.* Und wenn du denselben Tonfall bei ihm anschlägst, den du bei mir benutzt hast, wird er wie angewurzelt stehen bleiben.
»Na gut, dann bleibe ich eben«, sagte Jaenelle. »Und Yulis Gesellschaft ist mir willkommen.« *Du wirst mit ihr reden?*
Er gab ihr einen zärtlichen, langen Kuss, weil er sie spüren musste. *Ja, ich werde mit ihr reden.*
Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
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