Kapitel 6
Nein, Hexenkind, ich werde ganz gewiss nicht
Hooo ho ho sagen.«
»Aber es ist für …«
»Nein!« Saetan knallte donnernd die Bücher
auf den Ebenholzschreibtisch in der Bibliothek des Bergfrieds.
»Wenn du unbedingt alles, was wir sind, beleidigen möchtest, ist
das deine Entscheidung. Aber ich mache dabei nicht
mit.«
Verblüfft starrte Jaenelle ihn an. »Es ist doch
bloß ein kleiner Spaß.«
»Spaß!« Er würgte seinen Zorn hinunter, dem er
nicht freien Lauf lassen konnte, da er sonst zu blinder Zerstörung
geführt hätte. »Du machst uns zum Gespött, und das hältst du für
lustig?« Er drehte ihr, seiner Tochter und Königin, den
Rücken zu und presste seine Handballen gegen die Schläfen, während
er darum kämpfte, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren.
»Saetan …«
Verwirrung. Kränkung. Sie war zum Bergfried
gekommen, um ihn an etwas Amüsantem teilhaben zu lassen, und war
nicht darauf vorbereitet gewesen, dass er sich gegen sie wenden
würde. Wie konnte sie nur? Er war sich nicht einmal sicher, ob er
sie als ihr Vater oder als ihr ehemaliger, und immer noch
inoffizieller, Haushofmeister zusammenstauchte.
Er drehte sich zu ihr um. Genauso wenig war er sich
nicht sicher, ob nun Jaenelle oder Hexe vor ihm stand und
ihn betrachtete. Wie dem auch sei. Er würde keinen Hehl aus seiner
Meinung machen.
»Wir sind die Angehörigen des Blutes, die Behüter
der Reiche. Wir entstammen verschiedenen Völkern, doch wir sind
nicht länger Teil dieser Völker. Wir besitzen unsere eigene Kultur,
die alle anderen Völker und Kulturen umfasst. Wir haben unsere
eigenen Gesetze, unseren eigenen Ehrenkodex, den die Landen nicht
verstehen, und nach dem sie selbst dann nicht leben könnten, wenn
sie es versuchten. Wir beherrschen die Territorien, und wir haben
das Leben aller Landen in diesen Territorien in der Hand. Aber wir
stellen dennoch eine Minderheit dar, Jaenelle. Trotz der manchmal
brutalen Art, mit der wir miteinander umgehen, müssen wir jene
wütende Macht nur selten gegenüber Landen entfesseln, weil wir
gefürchtet werden. Weil wir ein Rätsel sind, das die Landen
hauptsächlich aus der Ferne zu Gesicht bekommen. Und jetzt machst
du aus uns eine billige Unterhaltung.«
Es schnürte ihm die Kehle zu. Solch ein langes,
langes Leben. So viele Dinge, die er getan hatte, sowohl gute wie
auch schreckliche.
»Indem du dir von ein paar Kindern diktieren lässt,
wie wir sein sollen, verwandelst du uns in ein ungefährliches,
bedeutungsloses Schreckgespenst. Spinnweben und knarrende Türen und
komische Geräusche. Du gibst uns der Lächerlichkeit preis. Ich
frage dich also, Lady: Was geschieht, wenn die Jungen, die uns so
lustig finden, zu Männern heranwachsen und das Gefühl haben, sie
könnten die Gesetze missachten, die für die Landen gelten? Was
geschieht, wenn sie die Krieger herausfordern, die im Namen der
Königinnen unterwegs sind, die über ihre Dörfer herrschen? Was
geschieht, wenn sie ihre Kräfte sammeln, um die Angehörigen des
Blutes anzugreifen, und herausfinden, wie fürchterlich – und wie
vollständig – das Resultat sein kann, wenn wir kämpfen?«
Ein langes Schweigen breitete sich zwischen ihnen
aus. Dann sagte Jaenelle: »Warum hast du das nicht gleich erwähnt,
als dir mein Vorhaben zu Ohren gekommen ist? Du hast die letzten
Wochen über kein Sterbenswort gesagt, während Marian und ich an der
Sache gearbeitet haben.«
»Es stand mir nicht zu, dich aufzuhalten. Und offen
gesagt hat es zu sehr geschmerzt, dass ausgerechnet du es warst,
die uns so etwas antut.«
Wieder langes Schweigen. »Ich bitte um Verzeihung,
Höllenfürst«, sagte Jaenelle leise. »Ich habe all das nicht von
deinem Standpunkt aus betrachtet und mir keine Gedanken über die
möglichen Konsequenzen gemacht, sollten die Leute das Ganze für
bare Münze nehmen. Wir werden das Haus schließen und der ganzen
Sache ein Ende bereiten.«
Er schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Die Idee
hat sich längst herumgesprochen, und die Neuigkeit, dass Lady
Angelline« – er sah, wie sie zusammenzuckte – »als herbstliche
Attraktion ein Spukhaus erschafft, hat sich sowohl bei den
Angehörigen des Blutes als auch in den Landendörfern wie ein
Lauffeuer verbreitet. Ich bin mir sicher, dass Daemon und Lucivar
dir helfen werden, die Menschenmengen im Zaum zu halten …«
»Menschenmengen?« Sie wirkte beunruhigt.
»Und Daemon wird sich um jegliche Beschwerden der
Königinnen kümmern, die mit der Besucherschwemme in den
Nachbardörfern fertig werden müssen.«
»Beschwerden? Besucher?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Was hast
du denn erwartet? Bloß eine Handvoll Kinder aus dem Landendorf, in
dem sich das Haus befindet?«
»Nun, also … ja.«
Liebe und Wut zerrissen ihm schier das Herz. »Dann
hast du wirklich keine Vorstellung davon, was du angestellt hast.«
Seufzend fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare. »Also gut,
Hexenkind. Ich gebe dir dein lustiges Geräusch. Aber im Gegenzug
dazu möchte ich, dass du mir einen Gefallen tust.«
Sie legte den Kopf schräg und wartete.
»Lass irgendwo in deinem Spukhaus etwas sein, das
diesen Kindern zeigt, wer und was wir wirklich sind, das
ihnen zeigt, mit wem sie es zu tun haben, wenn sie vor den
Angehörigen des Blutes stehen.«
»Abgemacht.«
»Dann lass uns ein Zimmer suchen, das ein wenig
abgeschiedener ist.«
Außer ihnen beiden befand sich niemand in der
Bibliothek, doch Geoffrey konnte jeden Augenblick
zurückkehren.
Sein Gesicht glühte vor Scham, als er auf die Tür
zuging, und er wusste, dass seine Wangen trotz der hellbraunen Haut
sichtbar gerötet waren. Er würde es tun, und zwar nicht nur, weil
Jaenelle ihn darum gebeten hatte, sondern weil außerdem noch die
Gefühle eines weiteren Menschen auf dem Spiel standen.
»Ich verspreche dir, Papa. Niemand wird je
erfahren, dass du es bist«, sagte Jaenelle, die an der Tür stehen
geblieben war.
»Danke«, erwiderte er matt.
Sie sah ihn an. Dann glitt ihr Blick zu dem Tisch,
auf dem sich etliche Bücher stapelten. Ihre Lippen verzogen sich zu
einem boshaften Lächeln. »Wenn du möchtest, dass wir weiterhin so
tun, als würdest du alte Bücher sortieren, wann immer wir auf einen
Plausch vorbeischauen, dann solltest du sie nicht auf den Tisch
knallen. Wir alle wissen, dass du das niemals mit einem Buch machen
würdest, das tatsächlich uralt und spröde ist.«
Er schloss die Augen und versprach sich selbst,
dass er nicht winseln würde. »Ihr alle wisst Bescheid?«
»Nun ja, ich glaube nicht, dass die Jungs dir auf
die Schliche gekommen sind, aber der ganze Hexensabbat ist im
Bilde.«
Möge die Dunkelheit Erbarmen mit mir
haben!
»Komm schon, Papa. Nun mach schon Hooo ho
ho.«
Daemon steckte die Zungenspitze zwischen die Zähne
und biss so fest darauf, wie er konnte, damit ihm keine Dummheit
entfuhr.
Hätte er seinen Vater beim Sex erwischt – als
Saetan noch
körperlich dazu in der Lage gewesen war, Sex zu haben -, wäre es
weniger peinlich gewesen, als diese Stimme »Hooo ho
ho« sagen zu hören.
»Was meinst du?«, fragte Jaenelle.
Daemon beäugte den Audiokristall, der auf der Ecke
seines Schreibtisches lag, biss sich noch ein wenig fester auf die
Zunge und zählte – zweimal – bis zehn, bevor er sagte: »Es klingt
wie der Höllenfürst.«
Offensichtlich enttäuscht musterte sie den
Audiokristall. »Ich möchte nicht die Klangfarbe seiner Stimme
verlieren, aber ich habe durchaus versucht, den Kristall so
einzustellen, dass man die Stimme nicht wiedererkennen
sollte.«
Es gibt keine Möglichkeit, diese Stimme genug zu
verändern, dachte Daemon.
Dann hob sie den Kopf und sah ein wenig
hoffnungsvoller aus. »Selbstverständlich erkennst du seine
Stimme wieder, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand
anderes das auch tut. Nicht jetzt, da ich sie ein bisschen
verändert habe.«
In diesem Augenblick betrat Lucivar das
Arbeitszimmer. Daemonar hielt er in einem festen Griff, was
deutlich machte, dass die Diskussion, ob das kleine Ungeheuer auf
der Burg frei herumlaufen durfte, bereits hinter ihnen lag.
»Ich weiß nicht genau, woran Marian heute arbeitet,
aber sie hat uns dringend ans Herz gelegt, unser Zuhause zu
verlassen«, sagte Lucivar. »Hier sind wir also.«
*Wir können ihn nach oben ins Spielzimmer bringen*,
sagte Daemon auf einem schwarzgrauen Speerfaden.
*Dort gibt es genug Schilde und nichts
Zerbrechliches?*, erkundigte sich Lucivar.
*Allerdings.*
»Tja, ihr kommt gerade zum rechten Zeitpunkt«,
sagte Jaenelle und sah ihren Bruder und ihren Neffen strahlend an.
»Hört euch das an.«
»Hooo ho ho.«
Daemonar quietschte vergnügt und versuchte sich aus
Lucivars Griff zu befreien. »Opa! Opa!«
Da Daemon es nicht wagte, jemanden anzusehen,
starrte er auf seine Schuhe und ihm dämmerte allmählich, weshalb
sein Vater derart von Schuhwerk fasziniert war.
Jaenelle seufzte. »Na gut. Ich werde daran
arbeiten.«
Lucivar musterte sie beide und wich langsam zurück.
»Wir warten einfach in der Eingangshalle.«
»Ho ho! Ho ho!«, rief Daemonar. »Opa, ho ho!«
Sobald Lucivar und Daemonar sich sicher jenseits
der Tür befanden, sagte Jaenelle: »Meinst du, Daemonar wird die
Sache vergessen?«
Auf gar keinen Fall. »Natürlich. Er ist ja
noch klein.«
Sie gab ihm einen Kuss, der einen äußerst
interessanten Abend versprach. Dann sagte sie kläglich: »Danke für
die Lüge.«
Er legte die Hände an ihre Taille. »Gern
geschehen.« Erst zögerte er, doch eine nagende Neugier ließ ihn
schließlich fragen: »Was hättest du getan, wenn er sich geweigert
hätte?«
Jaenelle sah ihn lächelnd an.
Schmetterlinge füllten seinen Bauch und kitzelten
ihn gnadenlos, bevor sie sich in schwere, niedersinkende Steine
verwandelten.
»Tja«, sagte seine Liebste, »du verfügst ebenfalls
über eine wunderbare, tiefe Stimme. Wenn Papa sich also geweigert
hätte, hätte ich dich gefragt.«
Saetan betrat den Salon, in dem Geoffrey und
Draca, die Seneschallin des Bergfrieds, ihn auf seine Bitte hin
treffen sollten.
»Meine Freunde, diese Flasche Wein ist heute Abend
eingetroffen, mit den besten Empfehlungen von Prinz Sadi. Da sie
aus dem Weinkeller der Burg stammt, kann ich euch versichern, dass
es sich um einen ausgezeichneten Jahrgang handelt, der sich am
besten zusammen mit Freunden genießen lässt.«
Er rief drei Gläser herbei und öffnete den
Wein.
Draca sagte nichts, bis er ihr ein Glas reichte.
»Was … ss ist der Anlass … sss?«
Saetan grinste. »Meinem Sohn ist soeben klar
geworden, wie sehr sein Vater ihn liebt.«