Kapitel 15
 
 
 
Daemon klopfte an die Haustür. In seinem Kopf schwirrten Gedanken und Informationen umher.
Jarvis Jenkell war ein Angehöriger des Blutes. Das erklärte, wie er zwei Schwarze Witwen dazu gebracht hatte, den Fallenzauber zu erschaffen, der einen Menschen mit jeder Kunstanwendung immer weiter verstricken und an das Haus fesseln würde. Ein Landen, der die Schwestern des Stundenglases bat, diese Art Zauber zu erschaffen? Der Narr könnte sich glücklich schätzen, wenn er mit heilem Verstand und in einem Stück von dem Treffen zurückkehrte. Aber ein Angehöriger des Blutes, wie schwach seine Macht auch sein mochte, der mit einer beträchtlichen Summe lockte … Oh ja, er würde jemanden finden, der ihm half, sein Spielchen zu spielen.
Jaenelle hatte die Reiche von den Angehörigen des Blutes befreit, die durch Dorotheas und Hekatahs Makel verunreinigt gewesen waren, aber solche Hexen würde es dennoch immer wieder geben. Und anscheinend hatte Jenkell zwei von der Sorte gefunden.
Für sich genommen war der Einfall eines Kriminalromans, der in einem Geisterhaus spielte, welches von den Illusionszaubern einer Schwarzen Witwe gespeist wurde, faszinierend. Wenn die Hexe talentiert genug war, ließe sich nur durch eine direkte Berührung herausfinden, ob etwas eine Illusion war oder echt. Und natürlich konnte es einen teuer zu stehen kommen, wenn nicht gar das Leben kosten, etwas zu berühren.
Hinweise. Ging es bei Kriminalromanen nicht darum? Auf Hinweise zu stoßen? Wenn Jarvis Jenkell hinter diesem Spiel steckte und es wie eine Geschichte ablaufen ließ, gab es gewisse Elemente, die Teil des Spiels sein sollten. Die Geschichten begannen mit einem Toten – und endeten gewöhnlich mit einem Toten. Die Hauptfigur überlebte, aber es gab immer noch mehr Opfer, bevor der Feind endgültig zur Strecke gebracht wurde.
Aber es klang nicht danach, als läge es in Jenkells Absicht, jemanden sein kleines Spiel überleben zu lassen. Das wiederum bedeutete, dass Jenkell vorgehabt hatte, Surreal, Lucivar und ihn umzubringen. Es war gleichgültig, ob er sich auf diese Weise an den Angehörigen des Blutes dafür rächen wollte, dass sie ihn nicht als einen der ihren erkannt hatten, oder ob es eine Ohrfeige für Jaenelle sein sollte, weil sie zur gleichen Zeit einen ähnlichen Einfall gehabt hatte, oder ob Jenkell einfach seine Kräfte mit der Familie SaDiablo hatte messen wollen.
Im Moment zählte nur eines: Jenkell hatte Tersa benutzt, um ihrer eigenen Familie zu schaden.
Beinahe hätte Daemon ein zweites Mal geklopft, doch da öffnete Allista bereits die Tür. »Prinz Sadi.«
»Guten Abend, Lady Allista. Ich muss mit Tersa sprechen.«
Allista zögerte. »Wir wollten gerade eben zu Abend essen. Es ist leichter für sie, wenn ich ihr die Mahlzeit jeden Abend zur gleichen Zeit serviere. Kann die Sache warten?«
Daemon betrat das Haus und zwang Allista zurückzuweichen. »Nein. Frag sie …«
»Der Junge!« Tersa kam auf ihn zugeeilt, ihre Stimme und ihr Gesicht voll Freude.
Er würde ihr diese Freude nehmen müssen. Doch zuerst küsste er sie auf die Wange und sagte: »Liebes, wir müssen uns unterhalten.«
»Es ist Zeit, zu Abend zu essen. Nusskuchen gibt es erst nach dem Abendbrot. Obwohl … Ich glaube, heute Abend gibt es etwas mit Schokolade zur Nachspeise.« Ein abwesender Blick trat in ihre Augen, als würde sie auf einem Pfad wandeln, dem nur sie folgen konnte.
»Tersa.« Er sprach laut genug, um ihre Aufmerksamkeit erneut auf sich zu ziehen. »Wir müssen uns unterhalten. Es ist wichtig.« Er nahm sie am Arm und versuchte, sie ins Wohnzimmer zu führen.
»Aber …« Tersa stemmte sich dagegen, widersetzte sich. »Das Abendessen ist fertig. Wir sollten jetzt zu Abend essen.«
»Prinz«, protestierte Allista. »Kann die Sache …«
»Tersa!«, fuhr Daemon sie an. »Surreal steckt in Schwierigkeiten. Ich brauche deine Hilfe.«
Sie krümmte sich unter seinem Zorn. Dann ging eine Veränderung mit ihr vor sich, und er erblickte eine eiskalte Klarheit in ihren Augen. Diesen Blick hatte er zuvor schon an ihr gesehen. Er hielt nie mehr als ein paar Minuten an, und die Anstrengung, die es sie kostete, jenen Ort in ihrem Innern zu berühren, ließ sie gewöhnlich noch verwirrter zurück. Doch in jenen Minuten war sie beeindruckend. Jedes Mal, wenn er diesen Blick gesehen hatte, hatte er sich gefragt, wer sie gewesen war, bevor sie gebrochen wurde – und bevor ihr Geist zersplittert war.
Er ließ ihren Arm los und folgte ihr ins Wohnzimmer.
Nach kurzem Zögern schloss Allista die Tür hinter ihnen, um sie unter vier Augen zu lassen.
Tersa setzte sich auf das Sofa. Daemon kniete vor ihr nieder.
Ihr Mund wurde zu einem schmalen, missbilligenden Strich. »Du bist ein Kriegerprinz mit schwarzem Juwel. Du hast vor niemandem außer deiner Königin zu knien.«
Er nahm ihre Hände in die seinen; ein Körperkontakt, der ihr als Anker dienen würde, solange sie sich daran festhalten konnte. »Ich knie vor meiner Mutter als Sohn, der um Hilfe fleht.«
Sie runzelte die Stirn, und die Klarheit in ihren Augen verblasste ein wenig. Ihm blieb zu wenig Zeit um herauszufinden, was er wissen musste.
»Du hast einem Mann geholfen, ein Spukhaus zu errichten«, sagte er.
Sie nickte. »Dieser Langston. Er hat ein Haus wie Jaenelles erschaffen und er hat gesagt, ich könne ihm helfen. Es wird eine Überraschung für den Jungen sein. Und auch für andere Kinder, aber hauptsächlich eine Überraschung für den Jungen.«
Er verlor sie zu schnell. »Wer hat diesem Langston sonst noch geholfen? Erinnerst du dich?«
Verwirrung. »Ich habe Überraschungen erschaffen. Eine zum Beispiel …« Die Klarheit war verschwunden. Aus ihren Augen blickte wieder der Wahnsinn. »Nein. Wenn ich es dir erzähle, wird es keine Überraschung mehr sein.«
»Kannst du dich noch an die Überraschungen erinnern? Kannst du mir keinen Hinweis geben?«
»Nein! Du wirst dem Jungen die Überraschung verderben.« Ihre Stimme klang jetzt verletzt.
Er legte die Stirn an ihre Knie und kämpfte den Zorn in sich nieder. »Tersa.« Sie hatte sich angestrengt, diese Illusionszauber zu erschaffen, und Jenkell, dieser Bastard, hatte sie nur benutzt.
Er hob den Kopf und sah sie an. »Tersa, dieser Langston ist ein böser Mann. Er hat dich belogen. Er hat deine Zauber in seinem Spukhaus verwendet, aber da waren noch zwei andere Schwarze Witwen, die Zauber für ihn erschufen, und deren Zauber sollen allen wehtun, die das Haus betreten. Er hat keine Attraktion erschaffen, wie Jaenelle es tut. Er möchte uns umbringen.« Er rieb ihre Fingerknöchel mit den Daumen in dem Versuch, sie in dem Zimmer und bei seinen Worten zu halten. »Tersa, Surreal sitzt in dem Haus fest. Ich brauche deine Hilfe, um sie da herauszuholen, bevor ihr jemand wehtut.«
Er hatte ihr zu viel erzählt – oder nicht genug. Bei Tersa wusste man das nie.
»Liebes, gibt es irgendetwas, das du mir sagen kannst? Bitte
»Sie kichern«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Sie sind groß und behaart und sie kichern.«
Wer kichert?, fragte sich Daemon, doch er wagte nicht nachzufragen. Sie zerrte jegliche Information hervor, derer sie habhaft werden konnte. Es lag an ihm, herauszufinden, was die Informationen bedeuteten.
»Kribbel-krabbel«, sagte Tersa. Sie kniff die Lippen zusammen und gab ein ploppendes Geräusch von sich. Dann sagte sie: »Der kleine Mikal weiß es. Er wird dem Jungen von den Überraschungen erzählen.«
Sie sah niedergeschlagen aus. Selbst wenn Jenkell sonst niemanden verletzte, würde er dem Hurensohn an den Kragen gehen für den Schmerz, den er eben Tersa verursacht hatte.
»Vielen Dank, Liebes.« Daemon küsste ihre Hände und erhob sich. »Vielen Dank.«
Als er das kleine Haus verließ und sich zur Königin von Halaway aufmachte, fragte er sich, wie viel Schaden er soeben angerichtet haben mochte.
 
»Hier, Tersa«, sagte Allista, die ihre Schwester zu einem Stuhl am Küchentisch führte. »Setz dich, damit wir zu Abend essen können. Manny hat heute Abend eine wunderbare Suppe und einen Hühnchenschmortopf für uns gekocht. Setz dich, dann hole ich die Suppe.«
Keine Reaktion. Nur stumme Tränen. Tersa hatte keinen Ton von sich gegeben, seitdem Prinz Sadi fort war.
Normalerweise war er so umsichtig mit Tersa, so verständnisvoll, was das zerbrechliche Wesen ihres Geistes anging. Deshalb war es doppelt grausam von ihm, Tersa derart aus der Fassung zu bringen.
Sie würde es in ihrem Wochenbericht an den Stundenglassabbat erwähnen, da ein Teil ihrer Ausbildung darin bestand, sich um Tersa zu kümmern, aber was konnten sie schon tun? Daemon Sadi war der Kriegerprinz von Dhemlan und eine Schwarze Witwe. Wer konnte schon jemanden wie Sadi maßregeln? Nun, sein Vater konnte es. Aber sie fühlte sich nicht wirklich dreist genug, dem Hohepriester des Stundenglases einen Beschwerdebrief über seinen eigenen Sohn zu schicken. Vielleicht …
»Er hat die Überraschung verdorben«, flüsterte Tersa traurig. »Es wird keine Überraschung mehr für den Jungen sein.«
Die Überraschungen. Tersa hatte seit Wochen an diesen »Überraschungen« gearbeitet.
»Das ist jetzt nicht so wichtig«, sagte Allista. Sie stellte eine Schüssel vor Tersa ab. »Hier, Liebes. Iss deine Suppe.«
Tersa antwortete nicht – und Allista sah, wie eiskalte Klarheit die Augen der anderen Frau erfüllte.
»Er hat dem Jungen wehtun wollen«, sagte Tersa mit trügerischer Sanftmut. »Dieser Langston. Er hat versucht, mich zu benutzen, um dem Jungen wehzutun.«
Der Augenblick kam und ging. Doch während sie zu Abend aßen, gewann Allista die Gewissheit, dass sich hinter Tersas stiller Teilnahmslosigkeit ein Gewittersturm zusammenbraute.
021
Ganz außer Atem vom Treppensteigen stand Surreal in dem dunklen Korridor im ersten Stock und fluchte. Dieser rückwärtige Flur fühlte sich nicht groß genug an, um sechs andere Leute zu fassen. Zumindest hätte sie mit ihnen zusammenstoßen müssen. Und eine einzelne Lampe oder Kerze sollte in dieser Dunkelheit deutlich sichtbar leuchten.
»Rainier?«
Keine Antwort. Keine Atemgeräusche. Kein Anzeichen seiner Gegenwart.
*Rainier?*, rief sie erneut, indem sie auf einen mentalen Faden überwechselte.
*Surreal! Wo im Namen der Hölle steckst du?*
*Ich stehe im Korridor im ersten Stock.*
*Nein, tust du nicht.*
Mist. Er klang wirklich sauer.
Andererseits war nicht ausgeschlossen, dass er Recht hatte. Sie konnte nicht wirklich erkennen, wo sie sich befand. Außerdem hatte sie das Gefühl gehabt, die Treppe sei zu lang gewesen und habe sie noch dazu in eine eigenartige Richtung geführt. *Die Kerze ist ausgegangen, und ich habe keine Streichhölzer. Ich werde mich der Kunst bedienen müssen, um Licht zu machen.* Und damit würde sie einen weiteren Ausgang schließen. Sie brauchte dafür seine Zustimmung.
*Setz eine Zunge Hexenfeuer auf die Kerze*, sagte Rainier. *Versorge sie mit so viel Energie, dass sie mehrere Stunden lang brennt. Du kannst andere Kerzen damit anzünden, wenn du welche finden solltest, und zumindest weißt du dann, dass sie nicht ausgehen kann.*
*Außer sie wird mit mehr Energie ausgelöscht, als ich in sie hineinstecke*, erwiderte Surreal. Doch was er sagte, stimmte dennoch. Hexenfeuer wurde mit Macht erschaffen und benötigte keinerlei Brennstoff oder Luft. Ein Luftzug würde die Flamme nicht löschen. Wasser ebenso wenig. Ja, manchmal erschuf Marian sogar Hexenfeuer in Blütenform und ließ es in einer Glasvase voll Wasser treiben. Es war ein sehr schöner – wenn auch ein wenig gespenstischer – Anblick, Feuer mitten im Wasser schwimmen zu sehen.
*Na gut*, sagte sie. *Ich werde...*
Da war etwas. Ein leises, kaum wahrnehmbares Schlurfen und ein neuer, schwacher Duft, der sich mit dem moderigen Geruch des Korridors vermischte.
Sie machte einen Schritt nach rechts, weg von dem Geräusch – und weg von der Möglichkeit, von jemandem die Treppe hinuntergestoßen zu werden.
*Hier ist etwas*, sagte sie.
*Was denn?*
*Keine Ahnung. Ich habe das Hexenfeuer noch nicht erschaffen. *
Sie hielt den Schürhaken wie einen Schild vor sich erhoben, wich einen weiteren Schritt zur Seite aus und stieß mit der Hüfte an einen Tisch. Sie wirbelte um den Tisch herum und streckte den Arm aus, um die Kerze abzustellen. In diesem Augenblick konnte sie den Luftzug spüren, als etwas auf sie zugesprungen kam, spürte ein Messer oder Krallen nach ihrer linken, ungeschützten Seite schlagen.
Und sie zögerte einen Augenblick zu lange, bevor sie einen Schutzschild erschuf, der so eng war, dass er wie eine zweite Haut anlag.
Ein zweifacher Schnitt durch Hemd und Haut traf sie in dem Moment, bevor sich der Schild um sie bildete. Ein Zittern lief entlang von Nervenbahnen, die nicht sicher waren, ob sie Genuss oder Schmerz melden sollten. Dann … Schmerz.
Sie ließ den Schürhaken durch die Luft sausen. Es war ein Schlag mit der Rückhand, der jemanden so fest traf, dass er ihn gegen die gegenüberliegende Wand schleuderte.
Eine Kugel Hexenlicht schwebte über dem Tisch, noch bevor Surreal bewusst entschieden hatte, sie zu erschaffen. Doch sie konnte endlich ihr Gegenüber erkennen – und fluchte innerlich, als das Licht von dem Stundenglas reflektiert wurde, das an einer angelaufenen Silberkette um den Hals der Hexe hing.
Eine Schwarze Witwe, die zweifellos zu den Dämonentoten gehörte, wenn man betrachtete, wie deformiert der Kopf und das Gesicht von den Hieben waren, die sie umgebracht haben mussten. Und es war nicht die gleiche Schwarze Witwe, von der Surreal im Erdgeschoss angegriffen worden war.
»Wenn du dich mit mir einlassen willst, dann komm nur«, sagte Surreal. »Ich habe gerade große Lust, jemanden umzubringen.«
Die Schwarze Hexe lachte. »Du glaubst, du kannst mich umbringen? Hast du da nicht eine Kleinigkeit übersehen?«
»Na gut, vielleicht komme ich zu spät, um dich vom Leben zum Tode zu befördern, und vielleicht werde ich es nicht einmal schaffen, das Töten zu Ende zu führen. Aber wenn du nicht verschwindest, sorge ich dafür, dass du Dauergast in einem Teil der Hölle wirst, der dieses Haus hier wie ein Luxushotel aussehen lässt.«
»Selbst wenn du eine Dämonentote werden solltest, wirst du nicht über so viel Macht verfügen.«
»Weißt du, Süße, da mein Onkel der Höllenfürst ist, kann ich dich hinschicken, wo immer es mir passt. Dafür wird er schon sorgen.«
Die Schwarze Witwe zögerte. Dann lächelte sie, soweit es ihr verformtes Gesicht gestattete. »Du gehst nirgendwohin, noch nicht einmal in die Hölle. Ich kann warten, bis ich dich fertigmache, Miststück.« Sie glitt durch die Mauer und war verschwunden.
»Verflucht«, murmelte Surreal. »Schätzungsweise steht das Verwenden von Kunst nicht unter Strafe, wenn man erst einmal tot ist.« Oder Teil der Zauber, die in das Haus hineingewoben waren.
Sie stieß schnaubend die Luft aus und zuckte zusammen. Zuerst einmal musste sie sich um die Wunde kümmern und herausfinden, wie schlimm sie war – und ob sie gerade eben vergiftet worden war oder nicht. Dann würde sie sich um das kümmern, was immer als Nächstes auf sie zukam. Im Moment wusste sie nur zwei Dinge mit absoluter Sicherheit: Sie befand sich im Korridor im ersten Stock, und Rainier nicht.
*Rainier?*
Keine Antwort. Nichts, außer einer merkwürdigen, grauen Leere.
*Rainier!*
Ein Hörschutz musste ausgelöst worden sein, und zwar einer, der nicht nur normale Geräusche abblockte, sondern auch die Kommunikation mithilfe mentaler Fäden verhinderte.
Hatte es gegongt? Sie war zu beschäftigt gewesen, um darauf zu achten. Hatte Rainier es gehört, oder wurde dieses Geräusch ebenfalls von dem Hörschutz geblockt?
Sie ließ die erloschene Kerze auf dem Tisch zurück und nahm den Schürhaken und die Kugel Hexenlicht mit sich. Die erste Tür zu ihrer Rechten führte in ein Badezimmer. Ein schmaler Raum, in dem sie nur wenig Bewegungsfreiheit hätte, sollte sie in einen Kampf verwickelt werden. Aber vielleicht gab es dort sauberes Wasser, und genau das brauchte sie in diesem Moment.
»Verletzt, weil ich keinen Schutzschild hatte, und von meinem Begleiter getrennt«, sagte sie, als sie vorsichtig das Badezimmer betrat. »Lucivar wird so verflucht sauer sein!«
 
Interessant. Warum gab die Hexe so viel auf die Meinung eines Mannes, der gar nicht da war? Es war ja schließlich nicht so, als würde sie jemals hören, was er von ihren Fehlern hielt!
Ja. Ihm kam ein Gedanke. Diese spitzen Ohren würden eine wunderbare Trophäe abgeben. Ein Andenken an sie, wenn sie erst einmal in die Zauber in dem Haus eingegangen wäre.
Und dann würde sie sich keine Sorgen mehr darum machen müssen, irgendetwas zu hören.
 
Irgendwo in dem Haus gongte es zweimal.
*Surreal?*
Keine Antwort. Nichts, außer einer merkwürdigen, grauen Leere.
*Surreal!*
Rainier blieb stehen. Abwartend. Lauschend. Dann schob er sich zwischen den Kindern hindurch und stellte sich an eine der Öffnungen, die von dem Korridor abgingen. Er hielt die Lampe von sich gestreckt und versuchte, einen besseren Blick auf das Zimmer zu erhaschen.
Kein Zimmer. Es war der vordere Korridor.
Er sah Kester an und neigte dann den Kopf in Richtung der anderen Kinder. »Bleibt hier. Halte sie zusammen.«
Keine freche Antwort von dem Jungen. Keine Widerrede. Keine Bemerkungen. Vielleicht war den Kindern allmählich klar geworden, dass sie tun mussten, was ihnen gesagt wurde, wenn sie überleben wollten.
Er bewegte sich auf die vordere Treppe zu. War Surreal vielleicht immer noch dort unten?
»Surreal?«
Er spähte über das Treppengeländer. Unten gab es keinerlei Lichtquelle.
Der Gong war zweimal erklungen. Das erste Mal musste es wegen des Hexenfeuers gewesen sein, das sie erschaffen hatte, um die Kerze anzuzünden. Und das andere Mal?
Sie hatte etwas gespürt. Oder jemanden. Der zweite Gongschlag. Hatte es sich dabei um eine Waffe oder einen Schild gehandelt?
Sie hätten sich mit einem Schutzschild umgeben sollen, als sie merkten, dass etwas nicht stimmte. Sie hatten die Gefahr falsch eingeschätzt, der sie ausgesetzt waren – und sie hatten ihren Feind unterschätzt.
Sie war als Letzte die Treppe hochgekommen und hatte ihnen Rückendeckung verschafft. Das hätte eine sicherere Position sein sollen, da sie die Küche bereits durchsucht hatten.
Hätte es sein sollen.
Was hatte sich in dem Augenblick verändert – zwischen dem letzten Mädchen, das die Treppe hochgekommen war, und Surreal, die dann folgte?
Das letzte Mädchen.
Rainier drehte sich zu der Öffnung um, die zum rückwärtigen Korridor führte. Sieben Kinder waren mit ihm die Treppe heraufgestiegen. Aber es sollten nicht mehr sieben sein. Das vierte Mädchen. Das letzte Kind, das die Treppe heraufgekommen war. Es war keines der Kinder, die mit ihnen zusammen das Haus betreten hatten.
»Mutter der Nacht«, flüsterte er.
Er rannte zu dem Korridor an der Rückseite des Hauses zurück. An der Öffnung blieb er wie angewurzelt stehen. Vier Kinder drängten sich um eine verschlossene Tür, die Kester gewaltsam aufzubrechen versuchte, indem er immer wieder seine Schulter dagegenrammte.
Kein Geräusch. Kein Anzeichen, dass es Ärger gab. Die Mädchen hatten die Münder aufgerissen und schrien oder brüllten wahrscheinlich. Der vordere Korridor war nicht derart groß. Er hätte hören müssen, wie Kester versuchte, die Tür einzuschlagen.
Sobald er die Schwelle überquerte, konnte er die Schreie hören.
Beim Feuer der Hölle!
»Zurück!«, rief Rainier. Er setzte sich wieder in Bewegung und sammelte mit jedem Schritt mehr Schwung. Kester sah ihn gerade noch und hechtete aus dem Weg, als Rainier den letzten Schritt in einen Sprung und einen Tritt verwandelte.
Die Tür ging krachend auf und gab den Blick frei auf ein Zimmer, das keinerlei Möbel enthielt … allerdings auch nicht leer war.
Einen Augenblick lang erstarrte er bei dem Anblick der Brandmale und Narben auf dem jungen Körper der Fremden. Ein Illusionszauber musste die Verletzungen verborgen haben, genauso wie er ihre zerrissene, schmutzige Kleidung verborgen hatte. Bei dem Anblick wurde ihm übel – und noch übler wurde ihm von dem, was das Mädchen getan hatte.
Die Fremde trug durchbrochene Panzerhandschuhe, eine Art tödlicher Schmuck, den Hexen manchmal trugen. Die Finger liefen in rasiermesserscharfen Krallen aus. Und von den Krallen an den Mädchenhänden tropfte Blut.
Ihr Mund war blutverschmiert. Es rann ihr das Kinn hinab wie Bratensaft bei einem primitiven Festschmaus.
Sie war ein kindelîn tôt. Ein dämonentotes Kind – und ein tödliches Raubtier.
Ginger lag mit dem Rücken auf dem schmutzigen Holzboden. Ihr Hals, ihre Brust und ihre Arme waren von den Krallen zerfetzt.
Es gab keine Hoffnung mehr für sie.
Das kindelîn tôt sprang auf die Beine und rannte auf die rückwärtige Wand zu.
Rainer hechtete hinterher.
Die Kleine machte sich an der Wand zu schaffen, die Krallen der Panzerhandschuhe zerfetzten die alte Tapete, während sie nach etwas suchte.
In dem Augenblick, bevor er sie erreichte, war er nur noch ein Kriegerprinz im Blutrausch, und sie war nichts als ein Feind. Als er den Schürhaken auf ihren Rücken niedersausen ließ, legte er all seine Kraft und all seinen Zorn in den Hieb.
Er hörte, wie Knochen zerbrachen.
Sie fiel, nicht mehr in der Lage, ihre Beine zu benutzen. Sie war stark genug gewesen, um ein kindelîn tôt geworden zu sein, doch sie war nicht ausreichend in der Kunst bewandert, um sich mithilfe ihrer Macht wieder zu erheben.
Er stand über ihr und betrachtete die Wunden, die auf Folter hindeuteten. Sah den Wahnsinn und den Hass in ihren Mädchenaugen.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Du bist genau wie er«, sagte sie. Ihre Stimme klang rau vor Hass. »Du bist genau wie er.«
»Wie wer?«
Sie lachte. »Das verrate ich dir, sobald du tot bist. Ich werde meine hübschen Klauen in deine Brust graben, und du wirst mich tragen müssen. Wirst mir die Beine ersetzen müssen, weil du mir die meinen genommen hast. Und in deine Augen werde ich meine hübschen Klauen auch graben. Bloß zum Spaß.«
Sprach da der Wahnsinn, oder war es ein Echo des Menschen, der das Mädchen einst gewesen war?
Er wich einen Schritt zurück. Dann noch einen. Dann drehte er sich um und ging zu Ginger zurück.
So viel Blut, dachte er, als er sich neben das sterbende Mädchen kniete. Zu viel Schaden. Ihr blieb nicht genug Zeit, als dass er auch nur hätte versuchen können, sie zu heilen. Seine beschränkten Fähigkeiten in der Heilkunst reichten nicht aus, um etwas an ihrem Schicksal zu ändern.
Ihre Augen starrten ihn an, ohne ihn zu sehen.
Gab es einen Ort wie die Hölle für Landen? Sie verwandelten sich nicht in Dämonentote. Wenn ihre Körper starben, waren sie tot. Doch gab es einen Ort für ihre Geister, an dem sie eine gewisse Zeit verbrachten, bevor sie wirklich tot waren?
Er wusste es nicht, hatte niemals danach gefragt. Und in diesem Augenblick wollte er es wirklich nicht wissen.
»Sie hieß Anax«, sagte Kester. »Sie hat in dem Waisenhaus gelebt. Vor ein paar Wochen ist sie davongelaufen.«
War sie tatsächlich davongelaufen, oder waren die Verantwortlichen in dem Waisenhaus aufgrund von Anax’ Verschwinden lediglich davon ausgegangen? Jemand hatte das Mädchen gefoltert und getötet, hatte sie hier zurückgelassen, damit sie zu einem der Raubtiere werden konnte, die die Gäste jagten, die in diesem Haus in der Falle saßen.
»Ist in letzter Zeit sonst noch jemand aus dem Waisenhaus davongelaufen?«, fragte Rainier und blickte zu den anderen Kindern.
»Drei oder vier«, erwiderte Kester mit einem Schulterzucken, als sei es ihm völlig gleichgültig.
Rainier kämpfte das Verlangen nieder, den Jungen anzubrüllen, nicht derart kalt und gefühllos zu sein. Da Anax zu einem kindelîn tôt geworden war, musste sie eine Angehörige des Blutes gewesen sein. Und das bedeutete, dass ein Angehöriger des Blutes das Mädchen lange vor Kester und dessen Freunden kalt und gefühllos behandelt hatte.
Kein Lebenszeichen zeigte sich mehr in Gingers Augen. Er spürte keinen Atem, als er ihr eine Hand über Mund und Nase hielt.
»Sie ist tot.« Er stand auf.
»Was …« Kester musste hart schlucken. »Was machen wir nun mit ihr?«
Rainier ließ einen Herzschlag verstreichen. »Wir müssen sie zurücklassen.«
Sie sahen ihn an.
»Wir können sie nicht zurücklassen«, sagte Sage.
»Ihr könnt sie gerne tragen«, erwiderte er schroff. Er griff nach der Öllampe. »Ich werde es jedenfalls nicht tun.«
»Was wirst du denn dann tun?«, fragte Kester.
Rainier neigte den Kopf in Richtung der Wand. »Anax hat nach etwas gesucht. Und das werde ich finden.«
 
Es gab Wasser. Nicht so rostig, wie sie es erwartet hatte, was vielleicht kein gutes Zeichen war, da es bedeutete, dass jemand das Badezimmer in letzter Zeit regelmäßig benutzt hatte. Natürlich hatten die Schwarzen Witwen das Badezimmer benötigt, bevor sie jemand ins Anfangsstadium des Todes befördert hatte.
Surreal betrachtete die Toilette mit gerunzelter Stirn. Mussten Dämonentote pinkeln? Gab es Stoffwechselprodukte, wenn sie Yarbarah tranken, oder nahmen sie alles in sich auf, um das tote Fleisch und ihre Macht zu nähren?
Es war zu schade, dass sie nie daran gedacht hatte nachzufragen, als sie noch ein paar Dämonentote gekannt hatte.
Und wie stand es mit den Hütern wie Onkel Saetan? Früher pflegte er Mahlzeiten mit der Familie einzunehmen, wenigstens gelegentlich. Musste er also …?
»Nein«, sagte sie sich mit Bestimmtheit. Falls der Höllenfürst jemals etwas so Profanes tat und seinen Hintern auf einer Toilette parkte, wollte sie es lieber nicht wissen.
Außerdem gab es Dringenderes, über das sie sich den Kopf zerbrechen musste.
Sie drehte sich zur Seite, mit dem Rücken zur Badewanne, und musterte die Badezimmertür. Sollte sie sie zumachen und am Schloss drehen, um einen Überraschungsangriff aus dem Gang zu vermeiden, oder sollte sie sie offen lassen, damit sie notfalls schnell fliehen konnte?
»Sperr dich nicht in einer Kiste ein«, murmelte sie. Sie zog scharf den Atem ein, als sie die Jacke auszog. Das Hemd kam als Nächstes dran. Sie ließ beides auf den geschlossenen Toilettendeckel fallen. Dann stützte sie sich mit der Vorderseite ihrer Oberschenkel am Waschbecken ab und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Oberkörper im Spiegel betrachten zu können.
Beim Feuer der Hölle! Das Blut quoll zwischen ihrer Haut und dem Schild hervor, sodass sie das Ausmaß des Schadens nicht wirklich erkennen konnte – außerdem ließ sich so nicht sagen, ob die Blutung von alleine aufhören würde, oder ob sie die Wunden versorgen musste.
*Rainier?*, rief sie, als sie sich wieder auf die Füße sinken ließ.
Keine Antwort.
Den Schild zu senken, wäre eine Anwendung der Kunst. Ihn wiederherzustellen, wäre eine zweite. Ihre Tasche mit Heilvorräten herbeizurufen eine dritte. Dann eine weitere Entscheidung: die Tasche verschwinden lassen und auf diese Weise einen weiteren Ausgang verschließen, oder sie zurücklassen und hoffen, dass sie sie nicht noch einmal benötigte.
Sie konnte Rainier nicht erreichen. Würde er den Gong hören, der anzeigte, dass sie sich der Kunst bedient hatte? Wie viele Ausgänge hatten sie schon verschlossen? Wie viele waren noch übrig?
Wenn es überhaupt jemals welche gegeben hatte.
Es war im Grunde raffiniert. Wenn es sich hierbei um eine Geschichte gehandelt hätte, wäre sie fasziniert gewesen und hätte die Mühe zu schätzen gewusst, die es kostete, das Anwenden von Kunst zu vermeiden. Sie hätte mit Rainier darüber debattiert, auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt man sich der Kunst hätte bedienen sollen.
Doch da es sich nicht um eine Geschichte handelte, würde sie den Bastard finden, der dieses Haus erschaffen hatte, und ihn bei lebendigem Leib häuten, mit nichts als einem stumpfen Kartoffelschäler. Dann würde sie all seine Knochen zu Kieseln zermalmen, wobei sie sich Rückgrat und Gehirn für den Schluss aufheben würde, damit ihm auch ja nichts von der Vorstellung entging. Und dann würde ihn Onkel Saetan in die Finger bekommen!
»Netter Einfall, Süße«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, »aber zuerst hast du noch ein paar andere Dinge zu erledigen.«
Sie rief ihre Tasche mit den Heilvorräten herbei und fluchte insgeheim, als sie den Gongschlag hörte. Mit der kleinen Schere aus der Tasche schnitt sie beide Ärmel ihres Hemdes ab, dann halbierte sie einen Ärmel. Die Jacke und das Hemd hängte sie an den Knauf der Badezimmertür. Die Tasche mit den Heilutensilien stellte sie auf den Toilettendeckel.
Sie drehte das Wasser im Waschbecken auf und weichte ein Stück Stoff ein. Es gab kein heißes Wasser, und sie würde sich gewiss nicht wegen eines derartig überflüssigen Luxus der Kunst bedienen. Folglich biss sie in Erwartung des kalten Wassers auf ihrer Haut die Zähne zusammen, als sie den Schutzschild von sich abfallen ließ und das Blut abwusch.
Wieder auf Zehenspitzen betrachtete sie die Wunden, während sie die betreffende Körperpartie reinigte.
Nicht allzu schlimm, entschied sie kurz darauf. Zwei Striemen von den Fingernägeln des Luders liefen über ihre Rippen. Sie waren so tief, dass die Wunden gesäubert und verschlossen werden mussten, aber …
Surreal ließ sich erneut auf die Füße sinken. Die Stirn hatte sie in Falten gelegt. Warum ein doppelter Striemen? Warum hatte die Schwarze Witwe sie nicht mit allen vier Nägeln erwischt, insbesondere mit dem Ringfinger, an dem sich der Schlangenzahn und der Giftsack befanden?
»Nicht vorhanden«, flüsterte Surreal und drückte sich das nasse Tuch auf die Wunden.
Letztes Jahr hatte Hekatah Saetan, als sie ihn gefangen und als Geisel gehalten hatte, den kleinen Finger der linken Hand abgehackt und ihn Jaenelle geschickt.
Es war komisch, wie die Augen aufgehört hatten, den Verlust zu bemerken. Saetan trug nicht länger den Ring des Haushofmeisters an seiner linken Hand, sodass nichts die Aufmerksamkeit auf den fehlenden Finger lenkte. Sie würde jede Wette eingehen, dass ein dazu befragtes Familienmitglied erst einmal eine Minute nachdenken müsste, bevor es sich daran erinnerte, dass der Finger nicht mehr da war.
Der Schwarzen Witwe hatten der kleine Finger und der Ringfinger der rechten Hand gefehlt. Deshalb gab es nur einen Doppelstriemen und kein Gift.
Sie hatte noch einmal Glück gehabt, fragte sich aber, ob sich der Verlust ereignet hatte, bevor oder nachdem die Schwarze Witwe an dem Haus mitgearbeitet hatte.
Surreal öffnete das Glas mit der Reinigungssalbe und tupfte sich den Balsam auf die Wunden. Das würde gewöhnliche Entzündungen verhindern, bis sich eine Heilerin die Schnitte ansehen konnte. Dann zog sie ein dünnes Päckchen von der Größe ihrer Handfläche hervor und schälte behutsam eine Lage des darin enthaltenen Papiers ab. Diese Gaze aus Spinnenseide wurde von Heilerinnen in Kaeleer benutzt, wenn sie eine kleine Wunde schließen mussten und keine Zeit für eine vollständige Heilung hatten, oder wenn es einen Grund gab, weshalb die Wunde natürlich verheilen sollte. Die Seide war zu einem kleinen Netz gewoben, und die Stränge halfen, die Wunde geschlossen zu halten.
Sie drückte sich die Spinnenseide auf die Seite und zog das andere Stück Papier nicht ab, sondern verwendete es als Binde, um einen Teil des Blutes aufzusaugen.
Nachdem sie alles, was augenblicklich in ihrer Macht stand, getan hatte, schloss sie die Tasche mit den Heilutensilien wieder, überlegte es sich dann aber anders. Sie nahm die Schere heraus und ließ sie in ihre Hosentasche gleiten. Selbst eine kleine Waffe war besser als keine Waffe.
Sie wollte gerade den Schutzschild neu erschaffen, als ihr Blick auf die Toilette fiel – und sie fluchen musste.
»Tu, was immer dir möglich ist, bevor du dich mit einem Schutzschild versiehst«, murmelte sie. Sicher, Lucivar hatte ihr einen »Schild mit Eingriff« gezeigt, aber der funktionierte viel besser für jemanden, der aus einem Rohr pinkelte.
Lucivar gegenüber hatte sie das natürlich nicht erwähnt.
Sie hob den Toilettendeckel mit dem Schürhaken hoch. Keine unschönen Überraschungen, der Dunkelheit sei Dank. Eine Haushexe hätte von dem Anblick wohl allerdings Albträume bekommen.
Doch als sie über der Kloschüssel in die Hocke ging, glaubte sie ein Geräusch aus dem Badewannenabfluss zu vernehmen. Ein komisches Geräusch. Wie abgeschnittene Fingernägel, die in einem Metallrohr geschüttelt wurden.
 
Es dauerte nicht lange, bis er die Geheimtür gefunden hatte. Ja, es war sogar eine Spur zu einfach, sie zu finden.
Rainier verlängerte den Docht der Öllampe, um mehr Licht zu haben.
Vielleicht sollte es gar keine Geheimtür sein, vielleicht sollte die Tür nur harmonisch zu dem Zimmer passen. Er konnte lediglich einen kurzen Gang erkennen, der zu einer weiteren Tür führte, sowie Regale auf der rechten Seite.
Gefaltete Laken. Kunstvolle Pappschachteln, in denen Frauen Hüte und Handschuhe oder andere kleine Gegenstände aufbewahrten, die selten benutzt wurden. Bettwäsche. Wahrscheinlich eine Abstellkammer, die sich die Schlafzimmer zu beiden Seiten teilten.
Etwas Unheilvolles konnte er nicht entdecken, und er hörte auch nichts Verdächtiges. Falls jedoch das ganze Haus mit Hörschutzzaubern übersät war, die es den Menschen unmöglich machten, einander zu verstehen, war es natürlich nicht sonderlich beruhigend, nichts zu hören.
Bettwäsche.
Er stellte den Schürhaken beiseite. Ohne den rechten Fuß aus dem Zimmer zu bewegen, in dem sie sich befanden, betrat er mit dem linken die Abstellkammer.
Etwas knarrte. Vielleicht die Diele unter seinem Fuß. Vielleicht die Tür.
Rainer trat zurück und betrachtete die Tür.
Fallen und Spiele und Illusionen. Als sie das letzte Mal die Tür eines Wandschranks geöffnet hatten, hatte es einem Jungen das Leben gekostet.
»Kester«, sagte Rainier. »Stemm dich mit den anderen beiden Jungen gegen diese Tür und haltet sie offen.«
Während er darauf wartete, dass sie seinem Befehl gehorchten, erschuf er einen engen Schild um sich, kaum einen Fingerbreit über seiner Haut. Er beließ drei Öffnungen in dem Schild – einen für die Nahrungsaufnahme und zwei andere für die Stoffwechselendprodukte. Lucivar hatte ihm und den anderen Jungs diesen besonderen Kniff beigebracht, und sie alle hatten so oft blaue Flecken von Lucivars Überraschungsangriffen davongetragen, dass sie die Lektion einwandfrei gelernt hatten.
Normalerweise war ein enger Schild ein unauffälliger Schutz, da niemand mit Sicherheit wusste, ob er da war, außer man wurde berührt. Doch …
Irgendwo in dem Haus ertönte ein Gong.
In diesem verdammten Haus hatte das Verwenden von Kunst nichts Unauffälliges an sich.
Er warf den Jungen einen Blick zu und nickte. Sollte die Tür versuchen, ins Schloss zu fallen, würde er rechtzeitig vorgewarnt sein. Dann betrat er die Abstellkammer, die Lampe hoch erhoben.
Kopfkissenbezüge.
»Mädchen!«, rief er. »Kommt an die Tür.«
Er reichte Sage die Bezüge, dann gab er Dayle eine Schachtel mit spitz zulaufenden Kerzen und eine kugelförmige Laterne. Es wäre leichter, die Laterne zu tragen. Außerdem würde sie die Flamme schützen.
Nachdem er wieder in das Zimmer getreten war, in dem die Kinder warteten, stellte er die Kerze neben den Schürhaken. Er nahm Sage die Kopfkissenbezüge ab und schüttelte sie, um sicherzugehen, dass sich darin keinerlei Überraschungen verbargen. Dann zog er Anax die Panzerhandschuhe von den Händen und sah sie sich genau an, bevor er sie in einen Kissenbezug fallen ließ. Für seine Hand waren sie zu klein, aber sie waren auch nicht für ein Kind gemacht. Folglich würden sie wahrscheinlich höchstens Surreal oder Kester passen.
Aber zu diesem Zeitpunkt war jede Waffe, die sie tragen konnten, eine gute Waffe.
Er steckte eine Kerze in die Laterne und schuf eine gleichmäßige Flamme Hexenfeuer, die an dem Docht brannte – und versuchte nicht zusammenzuzucken, als der Gong ertönte.
»Bring mir die andere Kerze«, sagte er.
»Sie ist fast ganz heruntergebrannt«, sagte Henn und reichte ihm die Kerze in der Tasse.
Rainier starrte die Kerze an. Der Boden der Tasse war voll geschmolzenem Wachs.
Wie lange war es her, dass sie die Küche verlassen hatten? Nicht so lange, dass in der Zwischenzeit eine Kerze derart weit heruntergebrannt sein konnte.
»Mutter der Nacht«, murmelte er. »Stellt euch in einer Reihe auf.«
Als die Kinder in einer Linie standen, erschuf er um jedes von ihnen einen engen Schild, der seinem eigenen glich.
»Was hast du getan?«, fragte Kester.
»Ich habe einen Schutzschild um euch erschaffen«, entgegnete Rainier, der versuchte, nicht auf das Geräusch des Gongs zu achten, das in seinem Geist widerhallte. Er zündete eine neue Kerze an der alten an. »Er wird euch nicht davor bewahren, geschnappt zu werden, aber er wird verhindern, dass ihr verletzt oder getötet werdet.«
»Warum hast du das nicht schon früher gemacht?«, wollte Kester wissen.
Er steckte die Schachtel mit den Kerzen und den zweiten Kissenbezug in den Bezug, den er als Sack benutzte. Nachdem er die linke Faust um den Bezug geschlossen hatte, steckte er einen Finger durch den Ring an der Laterne. »Sage, halte du die andere Kerze. Kester und Henn, Ihr nehmt die Lampen.«
Er ging zu der Tür der Abstellkammer zurück und hob den Schürhaken mit der rechten Hand auf.
»Hey!«, rief Kester. »Ich hab dich was gefragt!«
»Man benötigt Kunst, um diese Schilde zu erschaffen. Eine Anwendung von Kunst pro Schild. Und jedes Mal, wenn Kunst verwendet wird, wird ein Ausweg aus diesem Haus verschlossen.«
Der Junge begriff nicht – oder wollte es nicht begreifen.
»Warum hast du diese Schilde nicht erschaffen, bevor Trist und Ginger umgebracht worden sind?«, fragte Kester.
Weil ich da noch dachte, wir hätten eine Chance, hier heil herauszukommen.
Aber Rainier antwortete nicht. Er ging einfach nur in die Abstellkammer.
022
Daemon saß an einem runden Tisch in Sylvias Familiensalon und starrte das Stück Papier vor sich an. Er kritzelte Muster auf das Papier, nur um sich Zeit zu verschaffen um... Nein, nicht um wirklich nachzudenken. Lediglich Zeit um sicherzugehen, dass er die richtige, zwar verständnisvolle, gleichzeitig aber missbilligende Miene aufgesetzt hatte. Dann sah er Mikal an, der ihm gegenübersaß. Er wagte es nicht, Sylvia anzusehen, die einen ganzen Schritt rechts hinter dem Stuhl ihres Sohnes stand. Er. Wagte. Es. Nicht.
»Sind das alle Vorschläge, an die du dich noch erinnern kannst, die du Tersa gemacht hast?«, fragte Daemon. Sie waren schlimm genug. Mäuseskelette, die durch ein Zimmer huschen würden, wobei die kleinen Knöchelchen über den Boden schepperten. Große Spinnen, die von der Decke fallen oder sich in einer Schublade verstecken konnten. Und das Mäuschen im Glas.
»Da waren noch die Augäpfel in den Trauben«, sagte Mikal zögernd.
»Die …« Ein rascher Blick in Sylvias Richtung. Oh, er hätte darauf bestehen sollen, unter vier Augen mit dem Jungen zu sprechen. Dies war wahrscheinlich viel mehr, als eine Mutter je über die Gedankengänge ihres männlichen Nachwuchses erfahren wollte.
»Der Zauber wird erst ausgelöst, wenn jemand anfängt, die Trauben zu essen.« Aus Mikals Stimme klang aufgeregter Eifer. Anscheinend hatte er ganz vergessen, dass sich seine Mutter im Zimmer befand, bloß weil er sie nicht sehen konnte. »Dann platzen ein paar Trauben auf, und der Illusionszauber lässt es aussehen, als seien dort Augen, ganz blutunterlaufen und schleimig.«
Jungchen, du bist selbst schuld, wenn du nie wieder eine Weintraube in diesem Haus zu Gesicht bekommst, dachte Daemon.
»Hast du die Maus im Glas gesehen?«, fragte Mikal. »Die ist …«
Ein Knurren. Eine Stimme, die kaum als weiblich zu erkennen war.
Mikal ließ die Schultern hängen und behielt klugerweise seine Meinung über das Mäuschen im Glas für sich.
»Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche«, sagte Daemon. »Danke, Mikal.«
Mikal glitt von seinem Stuhl. Dann zögerte er, beugte sich über den Tisch und sagte im Flüsterton: »Hat Tersa dir von den Käfern erzählt?«
023
Surreal hielt die Hände unter den Wasserstrahl, der aus dem Hahn kam, und säuberte sie, so gut es ging. Dann ließ sie Wasser in die hohlen Hände laufen und trank vorsichtig einen Schluck. Nicht offensichtlich verschmutzt. Wenn jemand allerdings Gift oder Drogen in die Wasserleitung gegeben hatte, hatte sie sich vielleicht längst so viel Schaden zugefügt, dass sie ohnehin sterben würde.
Aus dieser Überlegung heraus trank sie einen weiteren großen Schluck Wasser und stellte die Wasserhähne ab.
Sie rieb sich das Gesicht mit den nassen Händen und versuchte, die Müdigkeit abzuschütteln. So müde sollte sie eigentlich nicht sein. Sollte nicht …
Da war wieder dieses Geräusch. Dieses komische leise Rascheln aus dem Badewannenabfluss.
Surreal stützte sich mit einer Hand am Waschbecken ab und wandte sich der Badewanne zu. Sie zuckte zusammen, als die Bewegung ihre Wunde schmerzen ließ.
Ein kleiner schwarzer Käfer kam aus dem Abfluss gekrochen. Er krabbelte auf das andere Ende der Badewanne zu und gab dabei kleine Käfergeräusche von sich.
Es ist nur einer, dachte sie, während sie versuchte, ihre Atmung in den Griff zu bekommen. Es ist nur einer, und er kann nicht aus der Badewanne raus.
Ein weiterer kleiner schwarzer Käfer kletterte aus dem Abfluss.
Und noch einer. Und noch einer.
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben!
Sie konnte ihre Hände auf einen Leichnam legen, der ganz mit Maden bedeckt war. Sie konnte einen Mann zerlegen und dabei nichts als eine stumpfe Axt verwenden. Sie konnte einem Mann die Haut abziehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sie konnte einen Kopf aufheben, den eine wütende Wildkatze abgerissen hatte, und in einen Eimer fallen lassen, während die Krieger um sie her das verdammte Ding nicht einmal anfassen wollten.
Aber Käfer konnte sie nicht ausstehen. Sie mochte nicht, wie sie aussahen, mochte die klackernden Geräusche nicht, die ihre Körper von sich gaben. Und vor allem mochte sie das Knirschen nicht, wenn man auf sie trat. Bei dem Geräusch wurde ihr immer ganz schlecht, und sie bekam weiche Knie.
Es war ihr kleines Geheimnis. Jeder Mensch hatte ein Anrecht auf ein oder zwei irrationale Ängste.
Klack. Klack, klack, klack.
Sie sah zu, wie die Käfer anschwollen, während sie in die Badewanne strömten. Sah zu, wie sie immer größer und größer wurden, bis sie so lang wie ihre Hand waren und beinahe genauso breit. Größer und größer, bis …
Plop! Plop! Plop! Plop!
Sie zerplatzten. Ihre Panzer platzten in der Mitte auf und …
Sie spürte etwas. Auf ihrer Hand. Bloß ganz leicht, weil es sich an ihrem Schild befand und nicht direkt auf ihrer Haut.
Surreal blickte auf die Hand, mit der sie sich am Waschbecken abstützte. Sie war von einem Käfer bedeckt.
Einem einzigen Käfer.
Sie riss die Hand empor und schleuderte den Käfer durch die Luft. Und sie schrie.
 
Dieser durchdringende Schrei!
Was im Namen der Hölle konnte Surreal einen derartigen Schrei entlocken?
Rainier öffnete schwungvoll die Tür am anderen Ende der Abstellkammer und stürzte in ein leeres Zimmer, das demjenigen ähnelte, welches er soeben verlassen hatte.
»Surreal!«
Er lief durch das Zimmer, riss die Tür auf und rannte in dem Augenblick auf den Gang, in dem Surreal aus einem anderen Zimmer gelaufen kam. Er ließ den Schürhaken fallen und packte sie. Erst als er spürte, wie sein Schild auf einen anderen Schild traf, wurde ihm bewusst, dass sie am Oberkörper nichts außer einem Büstenhalter und ihrem grauen Juwel trug.
»Surreal!«
»Kä-Kä-Kä-«
Er drückte ihr die Kerze und den Kissenbezug in die zitternden Hände, griff nach dem Schürhaken und betrat das Zimmer, bereit zu bekämpfen, was immer ihr solche Angst eingejagt hatte.
Zu seiner Verblüffung stand er vor einer Badewanne, die mit riesigen aufgeplatzten Käfern angefüllt war.
»Kä-Kä-Käfer.«
Vor Erleichterung wurde ihm im ersten Augenblick ganz schwindelig. Oder vielleicht rührte das Schwindelgefühl daher, dass er sich selbst aus dem Blutrausch riss.
Er warf einen Blick über die Schulter und unterdrückte ein Grinsen. Die verdammten Dinger mussten ihr wirklich einen ordentlichen Schrecken eingejagt haben!
»Meinst du, sie sind genießbar?«, fragte er. Die Käfer waren so groß wie kleine Hummerschwänze, und das Fleisch sah aus wie gekochter Hummer, den man aus einer aufgeplatzten Schale zog.
»W-was? Das ist kein Fleisch. Das sind geborstene Käfergedärme!«
Rainier beobachtete, wie die Käfer sich wieder in kleine Insekten verwandelten, die eilig in den Abfluss krochen. Nichts weiter als ein Illusionszauber. Und höchstwahrscheinlich handelte es sich sogar bei den kleinen Käfern um eine Illusion, weil sie genau zum richtigen Zeitpunkt aus dem Abfluss kommen mussten. Da sich Surreal normalerweise weder von Blut noch Gedärmen aus der Fassung bringen ließ, war es seine Freundespflicht, sie nun zu necken, weil sie sich derart über Insekten aufgeregt hatte.
»Wenn man den Umstand ignoriert, dass es Insekten sind und keine …«
»Sprich weiter, und ich reiß dir das Gesicht ab und steck es dir in den Hintern.«
Die Drohung klang ernst.
Ihr Tonfall ärgerte ihn, zumal er den Blutrausch immer noch nicht weit hinter sich gelassen hatte. Doch er wollte ihr lieber gut zureden, anstatt ihr die Stirn zu bieten, da ansonsten mindestens einer von ihnen verletzt werden würde.
Rainier drehte sich zu ihr um. »Komm schon, Sur-«
Er hob die Hand und bewegte die Kugel Hexenlicht, um Surreal besser sehen zu können.
Ihre gold-grünen Augen waren glasig. Nicht glasig vor kalter Wut, sondern glasig vor Schreck. Und sie atmete merkwürdigen flach und ruckartig.
Die Sache hatte sie wirklich durcheinandergebracht.
»He«, sagte er sanft, wobei er sich so langsam bewegte, dass es sie nicht erschrecken würde. »Ein Illusionszauber. Mehr war das nicht.«
Sie zitterte. Es war ihr anzusehen, wie sehr sie sich anstrengte, ihre Selbstbeherrschung zurückzugewinnen, aber sie zitterte.
»Geh zurück in den Gang«, sagte er sachte. »Ich hole deine Kleidung.«
»Untersuch sie«, flüsterte sie und wich zurück.
Er holte ihr Hemd und ihre Jacke, schob das Hexenlicht vor sich her und verließ das Badezimmer.
Er legte alles, auch die Laterne und den Kissenbezug, auf einen Tisch im Korridor neben der nicht angezündeten Kerze ab. Dann besah er sich Surreals linke Seite.
»Wie schlimm ist es?«, fragte er. Seine Finger verharrten in der Luft knapp über dem blutbefleckten Netz, das die Wunde bedeckte.
»Nicht so schlimm, wie es hätte sein können. Die Schwarze Witwe, die mich angegriffen hat, hatte den Finger mit dem Schlangenzahn verloren, sodass ich mir keine Sorgen um Gift machen muss.«
Aber das Luder hatte vielleicht ihre anderen Fingernägel mit Gift überzogen. Er stand kurz davor, ihr das ins Gedächtnis zu rufen – als ihm klar wurde, dass es sinnlos war, es ihr zu erzählen. Sie war Kopfgeldjägerin gewesen. Sie wusste mehr über den Einsatz von Giften als er.
»Sollte sich irgendetwas Toxisches in mir befinden, werde ich es bald spüren«, sagte sie leise, wobei sie an ihm vorbeiblickte, weil der Korridor heller wurde.
»Wer auch immer dieses Haus erschaffen hat, hat hier wenigstens zwei kindelîn tôt gefangengesetzt. Und vielleicht sind es noch mehr.«
»Zusammen mit zwei dämonentoten Schwarzen Witwen. Keine berückenden Aussichten, falls sie sich alle gleichzeitig entscheiden sollten, dass sie jemanden zum Abendessen verspeisen möchten.«
Rainier blickte zu den Kindern zurück und trat dann näher an Surreal heran. *Irgendein Vorschlag?*
Sie seufzte. *Ich bin müde, Rainier. Wir sind erst seit zwei Stunden in diesem Haus, aber es kommt mir viel länger vor.*
*Ich glaube, wir sind schon länger hier, aber darüber sprechen wir später.*
*Mein Vorschlag lautet, zurück ins Erdgeschoss zu gehen. Wir durchsuchen den Salon noch einmal nach bösen Überraschungen. Dann erschaffen wir einen Schild um das Zimmer und versehen die Tür mit einem grauen Schloss. Das dürfte ungewollten Besuch fernhalten.*
*Das wird zwei weitere Ausgänge verschließen.*
*Ich weiß.*
Er nickte. *Die Haupttreppe sollte sich da vorne befinden.*
*Du gehst vor?*, fragte Surreal.
*Wir gehen vor.* Er schüttelte ihr Hemd und ihre Jacke aus und half ihr dann, beides anzuziehen. *Keine Widerrede. *
Sie zögerte. *Ich hatte nicht vor, dir zu widersprechen.*
Das zeigte ihm mehr als alles andere, dass sie Zeit benötigte, um ihr inneres Gleichgewicht wieder zu finden.
Sie sammelten ihre diversen Lichtquellen und Waffen wieder ein.
Rainier sah Kester an, legte einen Finger an die Lippen und deutete schließlich auf den Durchgang, der sie zurück zur Haupttreppe führen würde.
Er und Surreal gingen voraus. Die Kinder folgten ihnen. Der vordere Gang im ersten Stock sah beinahe genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Etwas stimmte daran nicht, aber er kam nicht darauf, was – und es war ihm auch egal, bis sie den Fuß der Treppe erreichten.
Da sagte Surreal: »Es ist anders.«
024
Daemon verschloss seinen Federhalter mit der Kappe und ließ ihn verschwinden. Er faltete das Papier und steckte es sich in die Innentasche seines schwarzen Jacketts. Im nächsten Augenblick sprang er auf und glitt an der wütenden Königin von Halaway vorbei auf die Salontür zu, wobei er sagte: »Danke für deine Hilfe, Lady Sylvia. Und Mikals ebenfalls. Ich weiß das zu schätzen.«
Als er die Tür öffnete, ballte sie die Hand zur Faust und versetzte ihm einen harten Schlag gegen die Schulter.
Er drehte sich mit einem Fauchen zu ihr um.
»Wage es ja nicht, Tersa zu kritisieren«, sagte Sylvia. »Wage es ja nicht, ihr deswegen ein schlechtes Gewissen einzureden.«
Sein Zorn wurde eisig, und er antwortete eine Spur zu sanft: »Du hast wohl vergessen, mit wem du sprichst, Lady
»Ich habe dein Gesicht gesehen, Prinz. Als Mikal das Zimmer verlassen hat, und du keine missbilligende Haltung mehr einnehmen musstest, habe ich dein Gesicht gesehen. Tersa mag die Alltagswelt, in der sie zu leben versucht, nicht begreifen, aber sie hat den Jungen verstanden. Wenn du noch in Mikals Alter wärst, wärst du genauso fasziniert von ihren gespenstischen Überraschungen gewesen wie er. Vor allem von diesen verdammten Käfern.«
In diesem Augenblick begriff er, warum sich sein Vater in die Königin von Halaway verliebt hatte. Er konnte sich vorstellen, wie Sylvia Saetan die Stirn geboten hatte, wenn er ihren Gerechtigkeitssinn gereizt hatte.
Doch er bezweifelte stark, dass Sylvia seinen Vater jemals geschlagen hatte.
»Keine Antwort?«, fragte Sylvia scharf.
»Mein Vater hat mir gesagt, dass ich eine Lady niemals anlügen soll«, erwiderte Daemon.
»Und?«
»Und deshalb bleibe ich dir eine Antwort schuldig.« Weil er gewiss nicht zugeben würde, dass sie Recht hatte! »Guten Abend, Sylvia. Ich finde alleine hinaus.«
Sylvia verwandelte sich schlagartig von einer wutentbrannten Frau zurück in eine besorgte Königin.
Sie berührte ihn am Arm, eine fürsorgliche Geste. »Viel Glück.«
»Danke.«
Als er Sylvias Haus verließ und auf den schwarzen Wind aufsprang, um in das Landendorf zurückzukehren, war ihm klar, dass sie mehr als Glück benötigen würden, um Surreal und Rainier lebend aus dem verdammten Spukhaus herauszuholen.
Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
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