Kapitel 13
 
 
 
Lucivar starrte den Boten an, ohne zu lachen. Er grinste noch nicht einmal. Die Anstrengung ließ seine Muskeln schmerzen, aber er verzog keine Miene, als er die mit einem Schutzschirm umhüllte Nachricht von dem Krieger entgegennahm, der ebenfalls von einem dichten Schirm umgeben war.
»Danke, Krieger«, sagte er.
»Gern geschehen, Prinz.«
Das möchte ich bezweifeln, dachte Lucivar, während er beobachtete, wie der Bote den Hof überquerte – und dann die Treppen hinunterrannte, die zu dem Landenetz führten. Vielleicht hatte er das letzte Mal, als der junge Hund an der Tür gewesen war, ein wenig zu bedrohlich geklungen.
Mit gerunzelter Stirn schloss er die Tür und sperrte ab, weil es bereits Abend war. Da war doch noch eine Nachricht gewesen.
Die Nachricht, die er nun vor sich hielt, wies Daemons Handschrift auf, doch nicht die sorgfältigen Schriftzüge, die er so gut kannte.
Er sah sich die Rückseite der Nachricht an. Das offizielle Familienwappen der SaDiablos, in rotes Wachs gedrückt.
Er erbrach das Siegel und faltete das Papier auf.
 
Lucivar,
wenn du zu Hause bist, dann bleibe dort, bis du von mir hörst.
Daemon
 
»Bleibe dort« war dreifach unterstrichen.
»Ich hatte nicht vor wegzugehen«, murmelte Lucivar auf dem Weg in die Küche, wo Marian gerade die Überreste ihres Essens wegräumte.
Etwas nagte an seinem Gedächtnis. Etwas, das mit Marian und einer Nachricht zu tun hatte.
Dann drehte sich seine geliebte Haushexe an der Spüle um und sah ihn an.
»Wer war das?«, fragte sie.
»Eine Botschaft von Daemon. Er will, dass ich heute Abend zu Hause bleibe.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.« Obwohl … Er wusste es beinahe. Die Nachricht ergab beinahe Sinn.
Da trat Marian einen Schritt auf ihn zu. Der Blick in ihren Augen. Die Art, wie sich ihre Flügel leicht öffneten und wieder schlossen. Etwas lag in ihrer mentalen Signatur, und wurde mit ihrem Körperduft verströmt. Etwas hatte sich seit ihrer Rückkehr geändert.
Er ließ das Papier verschwinden und streichelte ihre Hüften, wobei er sie näher an sich heranzog, bis ihre Körper einander leicht berührten. Er schenkte ihr ein träges Lächeln. »Lust, ein bisschen zu kuscheln?«
Sie wiegte sich in den Hüften und drängte sich an ihn, während sie ihm die Arme um den Hals schlang.
Es dauerte nur einen Herzschlag lang, und sein Blut war nicht mehr nur warm, sondern glühend heiß.
»Ich hatte gehofft, du hättest vielleicht Lust auf mehr.« Sie ließ ein Bein an dem seinem entlanggleiten, hakte sich dann mit dem Bein hinter seinem Oberschenkel ein und drängte sich noch näher an ihn. Öffnete sich ihm.
Als sie mit der Zunge seine Lippen umspielte und Einlass begehrte, zählte er die Tage und wusste, was los war. Sie wurde während ihrer fruchtbaren Tage stets zu einer tollkühnen, aggressiven Geliebten. Er war sich ziemlich sicher, dass ihr nicht klar war, nach welchem Muster sie ihn zum Sex aufforderte, anstatt darauf zu warten, dass er sie einlud, doch es handelte sich um ein Muster, das er inzwischen wiedererkannte – und von ganzem Herzen genoss. Da sie noch nicht für ein weiteres Baby bereit waren, würde er seinen Verhütungstrank die nächsten Tage ein wenig länger ziehen lassen müssen. Nur um ganz sicherzugehen.
Dann öffnete er den Mund für sie – und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
»Marian?« Er keuchte auf, als sie den Kuss beendete und stattdessen ihre Lippen auf seinen Hals presste. »Komm mit mir, mein Schatz. Ich tue alles, was du willst.«
Sie knabberte an ihm. »Ich habe mir gedacht, wir könnten hier anfangen und uns bis zum Bett vorarbeiten.«
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben!
»Das könnten wir tun«, sagte er, als sie das Bein sinken ließ und ihn rittlings auf einen Stuhl zuschob. »Oh ja! Das könnten wir tun.«
018
Die Kugel Hexenlicht schwebte in die Küche, gefolgt von Rainier. Er legte die beiden Schürhaken und den Dolch auf den Küchentisch.
»Das Hexenlicht lässt langsam nach«, sagte er. »Hast du dich hier drin nach etwas Brauchbarem umgesehen?«
Surreal starrte in Richtung des Korridors, dann sah sie Rainier an.
»Ich habe ihnen die andere Lampe dagelassen«, sagte er.
»Die andere … Du hast sie dort alleine zurückgelassen?«
Seine Züge wurden hart und spiegelten die Art von Wut, bei der Surreal am liebsten einen Schritt zurückgewichen wäre, doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Das durfte sie nicht. Sie war ihm rangmäßig überlegen, zumindest hinsichtlich der Juwelen, die sie trugen, und sie musste ihm zeigen, dass sie an seine Selbstbeherrschung glaubte – selbst wenn es gerade nicht so aussah, als besäße er welche.
»Ich bin dein Begleiter, nicht der ihre. Sie haben dir nicht gehorcht. Wenn sie bei uns bleiben wollen, werden wir sie so gut es geht beschützen. Wenn nicht …« Er zuckte mit den Achseln. »Sie haben die Wahl.«
Surreal hatte nicht damit gerechnet, dass Rainier eine solch unerbittliche Grenze ziehen würde. Natürlich wäre er nicht derart unnachgiebig, wenn die Kinder sich nicht ihr, sondern ihm widersetzt hätten. Doch die Männer des Blutes in Kaeleer – besonders die Kriegerprinzen – verstanden keinen Spaß, wenn sich jemand einer Hexe widersetzte; es sei denn, sie verlangte etwas, das als unzumutbar betrachtet wurde.
»Es sind Kinder«, gab sie zu bedenken, obgleich sie wusste, dass es zwecklos war, vernünftig mit ihm reden zu wollen. »Wir haben sie eingeladen, sich uns anzuschließen.«
»Wir haben es unserem ›Gastgeber‹ leicht gemacht, aber ich glaube, diese Kinder wären so oder so Teil dieses kranken Spiels geworden. Woher haben sie gewusst, dass Angehörige des Blutes an diesem Abend herkommen würden?«
»Vielleicht, weil keine Bauarbeiter mehr zu sehen waren?« Surreal hielt inne. Hatte es überhaupt Bauarbeiter gegeben? Oder nur die Schwarzen Witwen? Würden Kinder nach Einbruch der Dunkelheit einfach in der Nähe eines alten Hauses warten, wenn ihnen niemand einen Hinweis gegeben hätte, dass es etwas Interessantes zu sehen geben würde? Sie hätte so etwas jedenfalls nicht getan – es sei denn, sie wäre mit jemandem verabredet gewesen, um ihn umzubringen.
»Also gut«, sagte sie. »Sehen wir nach, ob sich hier etwas Brauchbares finden lässt. Ein Einkaufskorb oder eine Tragetasche. Irgendetwas, das wir nehmen können, um alles, was wir finden, mit uns herumzuschleppen.«
Sie ging zur Spüle. Wasser wäre gut. Sie hatte einen Krug frisches Wasser in ihrem persönlichen Schrank gelagert; einem mithilfe der Kunst erschaffenen Ort, der es den Angehörigen des Blutes erlaubte, Dinge zu transportieren, ohne dadurch körperlich belastet zu werden. Wenigstens konnte Lucivar ihr nicht vorwerfen, keine Vorräte bei sich zu haben, und Rainier besaß wahrscheinlich ebenfalls einen Krug Wasser und vielleicht sogar etwas zu essen. Doch sie würden sich der Kunst bedienen müssen, um Dinge aus ihren persönlichen Schränken herbeizurufen, und sie wollte lieber abwarten, bis es keine andere Wahl mehr gab, bevor sie etwas tat, das zur Schließung eines weiteren Ausgangs führte.
Sie drehte beide Hähne auf und wartete. In den Leitungen rasselte und gurgelte es – und schließlich kam rostfarbenes, übelriechendes Wasser daraus hervorgeschossen, wobei der Strahl immer wieder nachließ und schließlich zu einem bloßen Tröpfeln wurde. Surreal ließ das Wasser in der Hoffnung laufen, es würde letzten Endes doch noch klar werden. Sie war gerade im Begriff, sich wegzudrehen, um Rainier beim Durchsuchen der Schubladen und Schränke zu helfen, da...
Pling, pling. Pling, pling, pling.
Winzige weiße Brocken fielen zusammen mit dem Wasser aus den Hähnen und landeten mit einem Pling im Spülbecken. Mineralablagerungen in den Leitungen, die losgelöst worden waren, als sie das Wasser anstellte?
Statt in den Ausguss gespült zu werden, bewegten sich die Bröckchen und fingen an, ein Muster zu bilden. Sie begannen, eine winzige Pfote zu bilden.
»Tja, es hat hier tatsächlich einen Tragekorb gegeben«, sagte Rainier, der die Tür eines Unterschranks schloss und sich wieder aufrichtete. »Aber es sieht aus, als hätten seit einiger Zeit Mäuse darin genistet.«
Aus dem Hahn kamen keine Mineralpartikelchen, erkannte Surreal schaudernd. Es waren winzige Knochen. Aber wie gelangten Mäuse in Wasserleitungen?
Genau wie alles andere. Dabei wurde nachgeholfen.
Vielleicht war die Hauptwasserleitung nicht verseucht. Vielleicht waren es nur die Küchenleitungen. Rainier hatte gesagt, dass Mäuse in einem der Schränke genistet hatten. Sollte es in einem anderen Teil des Hauses ein Badezimmer geben, konnten sie vielleicht von dort Frischwasser bekommen.
»Das Wasser hier können wir nicht gebrauchen«, sagte Surreal entschieden und entfernte sich von der Spüle.
»Na gut«, erwiderte Rainier, der gerade eine Schublade öffnete. »Wir können …«
Sie stieß ein Jaulen aus und machte einen Satz zurück, wobei sie schmerzhaft gegen die Spüle stieß. Große Spinnen mit behaarten Beinen strömten aus der Schublade, die Rainier soeben aufgerissen hatte. Er tänzelte fluchend rückwärts. Die Spinnen fielen zu Boden und krabbelten in alle Richtungen. Und während die Spinnen davonkrochen … kicherten sie.
Surreal trat auf die Spinne, die ihr am nächsten war – und spürte nichts unter ihrem Stiefel. Der Boden war leer, als sie den Fuß hob.
Illusionszauber, die wenige Augenblicke nach Verlassen der Schublade wieder verschwanden. Gerade genug Zeit, um jeden im Zimmer zu Tode zu erschrecken.
Sie hatte das Gefühl, gegen eine Wand geschleudert worden zu sein. In gewisser Weise war dem auch so. Unter anderen Umständen hätte sie einen Schutzschild um sich erschaffen und gewusst, dass sie vor den Spinnen in Sicherheit war. Die verspannten Muskeln rührten daher, dass sie ihren Instinkten und ihrer Ausbildung zuwidergehandelt hatte, indem sie keinen Schutzschild erschuf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rainier mit scharfer Stimme.
»Ja, klar.« Nein. Die Mistviecher hatten gekichert! »Sind das alle gewesen?«
Rainier näherte sich der Schublade und beugte sich gerade so weit vor, um hineinsehen zu können. Dann griff er nach einem der Schürhaken, die auf dem Küchentisch lagen, und schob damit die Schublade zu. »Hinten ist eine übrig. Da sie gerade eine Maus verspeist, gehe ich mal davon aus, dass es sich um die echte Spinne handelt.« Er sah sich in der Küche um und stieß ein Seufzen aus, bei dem es sich auch um einen leise gemurmelten Fluch gehandelt haben konnte. »Was im Namen der Hölle...«
*Es ist Tersa*, sagte Surreal. Sie waren allein, und sie wusste selbst nicht, warum sie das nicht laut aussprechen wollte. Doch sie wollte die Worte auf gar keinen Fall laut aussprechen.
*Was?*, fragte Rainier, der ihrem Beispiel folgte und ebenfalls die Stimme senkte.
*Die Spinnen. Die Maus in dem Glas. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Tersa hinter diesen Zaubern steckt.*
*Willst du damit etwa sagen, Daemon Sadis Mutter ist Teil dieses perversen Ortes? Dass sie zu den Leuten gehört, die gerdae versuchen, uns umzubringen?*
*Nein! Tersa würde niemals …* Wie viel wusste Rainier über Tersa? Er musste ihr begegnet sein, aber wie viel wusste er? *Jemand muss sie in die Irre geführt und dazu gebracht haben, Illusionszauber für diesen Ort zu erschaffen. Sie würde Kindern niemals absichtlich Schaden zufügen, Rainier. Und so wahr die Sonne nicht in der Hölle scheint, würde sie niemals Daemon schaden.*
*Uns werden also Dinge begegnen, die merkwürdig und gespenstisch sind, aber größtenteils gutartig, wohingegen andere Dinge wirklich versuchen, uns an den Kragen zu gehen?*
Sie zögerte.
*Nein*, sagte Rainier sanft. *So einfach ist es nicht. Durch meinen Dienst am Dunklen Hof habe ich das Privileg genossen, Zeit mit drei der genialsten und kreativsten Schwarzen Witwen im ganzen Reich zu verbringen. Deshalb weiß ich aus meinen Gesprächen mit Jaenelle, Karla und Gabrielle, dass Illusionszauber und Verworrene Netze Schichten bilden und sich miteinander vermischen können. Es ist gleichgültig, was Tersa beabsichtigt haben mag. Falls sich in einem ihrer harmlosen Illusionszauber der Todeszauber einer anderen Schwarzen Witwe verbirgt, wird er uns dennoch umbringen.*
*Ich weiß.* Vorsichtig ließ Surreal den Dolch in die Scheide in ihrem Stiefel gleiten. Dann griff sie nach dem anderen Schürhaken und benutzte ihn, um einen Schrank aufzustemmen. »Sehen wir uns einmal an, was es hier sonst noch so gibt.«
Spinne, Spinne. Wer hatte die Spinne gefunden?
Sie war nicht mehr so tapfer, wenn sie nicht auf ihre Macht zurückgreifen konnte, nicht wahr? Nicht so tapfer, nicht so wild, nicht so verdammt arrogant.
Vielleicht sollte er dieses Luder Surreal als Vorlage für eine seiner Figuren nehmen. Schließlich würden die Angehörigen des Blutes, trotz der sie umgebenden Gefahren, immer noch geil auf Sex sein.
Landry Langston würde sie zur Geliebten haben, während sie in dem Geisterhaus in der Falle saßen. Heißer, schneller Sex. Sie würde natürlich einen Orgasmus haben müssen. Leserinnen erwarteten das … Landry würde natürlich mit dem Leben davonkommen, doch es würde ihm nicht gelingen, sie aus der letzten Falle zu retten. Würde er ihren Verlust bedauern?
Oder vielleicht sollte er in dem Roman zeigen, wie grausam Hexen waren, wenn sie Männer benutzten. Die Hexe in der Geschichte könnte Landry benutzen und somit seine eigenen Qualen noch steigern, während er versuchte, einen Ausweg aus dem Haus zu finden und die Leute in Sicherheit zu bringen, die zusammen mit ihm eingesperrt wären. Wenn er dann vor der Wahl stand, sich selbst zu opfern, um sie zu retten, oder lebend aus dem Haus zu entkommen, war es gerechtfertigt, sie dem Schicksal zu überlassen, das sie verdient hatte.
Ja. Er würde sie zurücklassen, als sei sie wertlos, ein Nichts.
War das letzten Endes denn nicht genau das, was die Angehörigen des Blutes ihm angetan hatten?
 
»Sechs Kerzen«, sagte Rainier und legte sie auf den Küchentisch. »Schade nur, dass ich keine Kerzenständer gefunden habe.«
»Ich schon.« Surreal stellte zwei angeschlagene Tassen auf den Tisch.
Er sah zuerst die Tassen an und dann sie.
Sie biss sich auf die Zunge, um ihn nicht naiv zu nennen. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich gelegentlich in Häusern wie diesem gewohnt habe. Du hast die Streichhölzer?«
Er zog die Streichholzschachtel aus der Tasche. Sie hielt eine Kerze empor und wartete, bis er den Docht angezündet hatte. Dann neigte sie die Kerze so weit, dass das Wachs in eine Tasse tropfen konnte. Dasselbe tat sie mit der anderen Tasse, nachdem sie eine andere Kerze in das abkühlende Wachs gepresst und sie entzündet hatte.
Als sie die erste Kerze in das Wachs drückte, drehte Rainier die Flamme in der Öllampe zurück.
»Hoffentlich finden wir in den anderen Zimmern mehr Vorräte, aber vorerst wird es das hier tun«, sagte Surreal.
Ein Geräusch im Korridor.
Rainier griff nach einem Schürhaken und ging auf das Geräusch zu. Sie ließ ihren Dolch aus der Stiefelscheide gleiten und wartete ab.
Die Kinder kamen in die Küche geschlurft. Sie wirkten verängstigt und trotzig. Surreal konnte beide Gefühle verstehen, doch im Moment würden sie sich mit ihrem Trotz bei Rainier nicht gerade beliebt machen.
Als niemand etwas sagte, ging sie zu der Tür, die in dem Raum am weitesten von ihnen entfernt lag, und öffnete sie vorsichtig.
Nichts fiel heraus oder sprang ihr entgegen. Ja, sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wozu der kleine Raum dienen sollte. Sie machte die Tür wieder zu und versuchte es bei der nächsten. Eine Vorratskammer. Das war vielversprechend – besonders als sie ein paar Einmachgläser auf den Regalen erblickte. Sie machte auch diese Tür wieder zu und versuchte dann die letzte, die dem Herd gegenüberlag, zu öffnen.
In dem Augenblick, als sie den Türknauf berührte, spürte sie Unbehagen in sich aufsteigen. »Rainier.«
Er trat näher und nahm eine kampfbereite Stellung ein. Langsam öffnete sie die Tür, bereit, allem Widerstand zu leisten, was versuchen sollte, die Tür schnell aufzustoßen.
Nichts geschah.
Als sie die Tür vollständig aufzog, machte Rainier einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Dann noch einen.
»Sieht aus, als hätten wir den Weg hinunter in den Keller gefunden«, sagte er.
Ein Vibrieren fuhr durch den Türknauf, und lief durch das Holz der Tür, als er einen weiteren Schritt auf die Treppe zuging.
»Wenn wir uns in einem Buch befänden …«, setzte er an.
»Wäre einer von uns töricht genug, sich eine Kerze zu schnappen und nach unten in den dunklen, gespenstischen Keller hinabzusteigen, wo etwas nur darauf warten würde, dieser törichten Person den Garaus zu machen.« Der Türknauf klapperte und zog an ihrer Hand. »Rainier, weg da!«
Er wirbelte herum und sprang in dem Augenblick zurück, als sich der Türknauf ihrem Griff entriss, und die Tür krachend zufiel.
»Und die törichte Person ist, nachdem sie den Fuß der Treppe erreicht hat und die Tür auf geheimnisvolle Weise ins Schloss fällt …«, sagte Rainier.
»Nicht nur zusammen mit einem der bösen Geister eingesperrt, sondern befindet sich außerdem noch im Dunkeln, weil der plötzliche Luftzug dem Narren die Kerze ausgeblasen hat.«
Rainier hob eine Augenbraue. »Wie bitte?«
Sie lächelte ihn an. »Selbstverständlich handelt es sich bei der törichten Person um einen Mann.«
»Selbstverständlich«, erwiderte er säuerlich. Doch er lächelte dabei.
Sie holte einen der Stühle, die um den Küchentisch herumstanden, und klemmte ihn unter den Türknauf. Als sie wieder zu Rainier sah, lächelte er nicht mehr. »Die Tür ist mit einem Zauber belegt«, erklärte sie.
Sie sah sein Zögern, seine Frustration. Er wollte die Tür mithilfe der Kunst verschließen, um das Grauen, das sich im Keller verbarg, im Keller einzusperren.
Sie warf den Kindern einen Blick zu. Sie hatten sich dem Tisch – und dem Licht – genähert, hatten jedoch noch immer nichts gesagt.
Zurück zur Vorratskammer. Sie konnten beide keine Spur von Macht um die Tür herum spüren, aber Rainier stemmte sich dennoch gegen die Tür, um sie aufzuhalten, und Surreal hatte nichts dagegen einzuwenden.
Sie schob den Dolch unter den Gürtel, nahm zwei Gläser von den Regalen und kehrte an den Tisch zurück. Nachdem sie die Einmachgläser mit dem Ärmel ihrer Jacke abgewischt hatte, hielt sie eines näher an die Kerzen, um sich den Inhalt genauer ansehen zu können. »Pfirsiche.«
Wie lange hatten die Einmachgläser dort gestanden? Wie lange war eingemachtes Obst überhaupt haltbar? Die Gläser waren nicht sehr staubig. Die Hexen, die diesen Ort erschaffen hatten, hatten gewiss etwas zu essen in Reichweite haben wollen für den Fall, dass sie Hunger bekämen. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um übrig gebliebene Vorräte.
Mit der Spitze ihres Dolches stemmte sie den Deckel von einem der Gläser. Das Plop, mit dem der Verschluss aufbrach, war ein gutes Zeichen. Also hob sie das Einmachglas hoch und schnupperte daran. Es roch nach Pfirsichen, aber... War da noch ein Hauch von etwas anderem?
Nachdem Surreal den Dolch an ihrer Hose abgewischt hatte, stocherte sie damit zwischen den obersten Pfirsichscheiben herum.
»Warum stocherst du mit dem dreckigen alten Messer da drin rum?«, fragte Ginger.
»Nicht in dem Tonfall, Mädchen«, knurrte Rainier. Dann fügte er auf einem mentalen Faden hinzu: *Warum stocherst du darin herum? Der Verschluss war in Ordnung, oder etwa nicht?*
*Er war in Ordnung*, erwiderte Surreal. *Aber willst du wirklich einem Einmachglas vertrauen, wenn drei Schwarze Witwen in diesem Haus am Werk gewesen sind?*
»Ich suche nach einer Schüssel«, sagte Rainier.
Er tat es und nahm seinen Hemdschoß, um den Staub davon abzuwischen.
Es war nicht viel Essen, um es unter ihnen aufzuteilen, dachte Surreal, während sie den Inhalt des Einmachglases in die Schüssel kippte. Doch ein wenig Nahrung und Flüssigkeit würden helfen, den Zeitpunkt zu verschieben, an dem sie sich der Kunst bedienen müssten, um die Vorräte herbeizuholen, die sie bei sich trugen, und …
»Was ist das?«, fragte Sage und beugte sich näher zu der Schüssel. »Sind da Weintrauben drin?«
»Mutter der Nacht«, sagte Rainier und wandte sich ab.
Ihr kam die Galle hoch, aber sie starrte die Mäuseköpfe unverwandt an, die den Pfirsichscheiben untergemischt waren.
»Tja«, sagte sie eine Spur zu sanft. »Kein Wasser, keine Nahrungsmittel. Und nichts, worauf wir vertrauen könnten.« Sie stellte das Einmachglas ab, ließ dann ihren Dolch in die Stiefelscheide gleiten und griff nach einer der Kerzen. »Es ist an der Zeit, sich oben umzusehen.«
»Was ist dort unten?« Ginger deutete auf die Kellertür. »Ihr seid nicht da runtergegangen.«
»Und das werden wir auch nicht tun«, sagte Rainier kategorisch. Er nahm die Öllampe und wies dann mit dem Schürhaken auf den Tisch. »Einer von euch nimmt die andere Kerze.«
»Vielleicht gibt es da unten etwas zu essen«, murmelte Ginger. Sie ging zu der Tür und deutete anklagend darauf. »Ich werde hinuntergehen, wenn ihr zu viel Angst habt.«
»Mach das ruhig, Süße«, sagte Surreal. »Aber ich sage es euch nur dieses eine Mal: Von jetzt an werden wir unser Bestes tun, um euch vor allem zu beschützen, was in diesem Haus vor sich geht, aber vor eurer eigenen Dummheit werden wir euch nicht beschützen. Wenn du die Tür aufmachen möchtest, nachdem wir euch gesagt haben, dass ihr es nicht tun sollt, dann tu es ruhig. Sollte dich dann etwas anfallen, werde selber damit fertig oder stirb.«
»Ihr müsst …«
Etwas auf der Kellertreppe schlug auf einmal mit solcher Wucht gegen die Tür, dass die Angeln ächzten.
Ginger lief zu den anderen Mädchen zurück.
»Vermutlich beantwortet das die Frage, oder?«, meinte Surreal.
»Vermutlich«, erwiderte Rainier. »Ich muss dir Recht geben. Du deckst uns den Rücken.«
»Abgemacht.«
 
Sie bekamen die erste große Überraschung nicht zu Gesicht. Egal. Es würde etliche andere Gelegenheiten geben, bei denen sie der noch begegnen konnten. Und da sie nun die Treppe in den ersten Stock emporstiegen, fing endlich der interessante Teil des Abenteuers an.
Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
bish_9783641026486_oeb_cover_r1.html
bish_9783641026486_oeb_toc_r1.html
bish_9783641026486_oeb_fm1_r1.html
bish_9783641026486_oeb_fm2_r1.html
bish_9783641026486_oeb_ata_r1.html
bish_9783641026486_oeb_ded_r1.html
bish_9783641026486_oeb_fm3_r1.html
bish_9783641026486_oeb_fm4_r1.html
bish_9783641026486_oeb_fm5_r1.html
bish_9783641026486_oeb_p01_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c01_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c02_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c03_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c04_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c05_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c06_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c07_r1.html
bish_9783641026486_oeb_p02_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c08_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c09_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c10_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c11_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c12_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c13_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c14_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c15_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c16_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c17_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c18_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c19_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c20_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c21_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c22_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c23_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c24_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c25_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c26_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c27_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c28_r1.html
bish_9783641026486_oeb_c29_r1.html
bish_9783641026486_oeb_bm1_r1.html
bish_9783641026486_oeb_bm2_r1.html
bish_9783641026486_oeb_ack_r1.html
bish_9783641026486_oeb_cop_r1.html