Kapitel 13
Lucivar starrte den Boten an, ohne zu lachen. Er
grinste noch nicht einmal. Die Anstrengung ließ seine Muskeln
schmerzen, aber er verzog keine Miene, als er die mit einem
Schutzschirm umhüllte Nachricht von dem Krieger entgegennahm, der
ebenfalls von einem dichten Schirm umgeben war.
»Danke, Krieger«, sagte er.
»Gern geschehen, Prinz.«
Das möchte ich bezweifeln, dachte Lucivar, während
er beobachtete, wie der Bote den Hof überquerte – und dann die
Treppen hinunterrannte, die zu dem Landenetz führten. Vielleicht
hatte er das letzte Mal, als der junge Hund an der Tür gewesen war,
ein wenig zu bedrohlich geklungen.
Mit gerunzelter Stirn schloss er die Tür und
sperrte ab, weil es bereits Abend war. Da war doch noch eine
Nachricht gewesen.
Die Nachricht, die er nun vor sich hielt, wies
Daemons Handschrift auf, doch nicht die sorgfältigen Schriftzüge,
die er so gut kannte.
Er sah sich die Rückseite der Nachricht an. Das
offizielle Familienwappen der SaDiablos, in rotes Wachs
gedrückt.
Er erbrach das Siegel und faltete das Papier
auf.
Lucivar,
wenn du zu Hause bist, dann bleibe dort, bis du
von mir hörst.
Daemon
»Bleibe dort« war dreifach unterstrichen.
»Ich hatte nicht vor wegzugehen«, murmelte Lucivar
auf dem Weg in die Küche, wo Marian gerade die Überreste ihres
Essens wegräumte.
Etwas nagte an seinem Gedächtnis. Etwas, das mit
Marian und einer Nachricht zu tun hatte.
Dann drehte sich seine geliebte Haushexe an der
Spüle um und sah ihn an.
»Wer war das?«, fragte sie.
»Eine Botschaft von Daemon. Er will, dass ich heute
Abend zu Hause bleibe.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.« Obwohl … Er wusste es
beinahe. Die Nachricht ergab beinahe Sinn.
Da trat Marian einen Schritt auf ihn zu. Der Blick
in ihren Augen. Die Art, wie sich ihre Flügel leicht öffneten und
wieder schlossen. Etwas lag in ihrer mentalen Signatur, und wurde
mit ihrem Körperduft verströmt. Etwas hatte sich seit ihrer
Rückkehr geändert.
Er ließ das Papier verschwinden und streichelte
ihre Hüften, wobei er sie näher an sich heranzog, bis ihre Körper
einander leicht berührten. Er schenkte ihr ein träges Lächeln.
»Lust, ein bisschen zu kuscheln?«
Sie wiegte sich in den Hüften und drängte sich an
ihn, während sie ihm die Arme um den Hals schlang.
Es dauerte nur einen Herzschlag lang, und sein Blut
war nicht mehr nur warm, sondern glühend heiß.
»Ich hatte gehofft, du hättest vielleicht Lust auf
mehr.« Sie ließ ein Bein an dem seinem entlanggleiten, hakte sich
dann mit dem Bein hinter seinem Oberschenkel ein und drängte sich
noch näher an ihn. Öffnete sich ihm.
Als sie mit der Zunge seine Lippen umspielte und
Einlass begehrte, zählte er die Tage und wusste, was los war. Sie
wurde während ihrer fruchtbaren Tage stets zu einer tollkühnen,
aggressiven Geliebten. Er war sich ziemlich sicher, dass ihr nicht
klar war, nach welchem Muster sie ihn zum Sex aufforderte, anstatt
darauf zu warten, dass er sie einlud, doch es handelte sich um ein
Muster, das er inzwischen
wiedererkannte – und von ganzem Herzen genoss. Da sie noch nicht
für ein weiteres Baby bereit waren, würde er seinen Verhütungstrank
die nächsten Tage ein wenig länger ziehen lassen müssen. Nur um
ganz sicherzugehen.
Dann öffnete er den Mund für sie – und konnte
keinen klaren Gedanken mehr fassen.
»Marian?« Er keuchte auf, als sie den Kuss beendete
und stattdessen ihre Lippen auf seinen Hals presste. »Komm mit mir,
mein Schatz. Ich tue alles, was du willst.«
Sie knabberte an ihm. »Ich habe mir gedacht, wir
könnten hier anfangen und uns bis zum Bett vorarbeiten.«
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge
die Dunkelheit Erbarmen haben!
»Das könnten wir tun«, sagte er, als sie das Bein
sinken ließ und ihn rittlings auf einen Stuhl zuschob. »Oh ja! Das
könnten wir tun.«
Die Kugel Hexenlicht schwebte in die Küche,
gefolgt von Rainier. Er legte die beiden Schürhaken und den Dolch
auf den Küchentisch.
»Das Hexenlicht lässt langsam nach«, sagte er.
»Hast du dich hier drin nach etwas Brauchbarem umgesehen?«
Surreal starrte in Richtung des Korridors, dann sah
sie Rainier an.
»Ich habe ihnen die andere Lampe dagelassen«, sagte
er.
»Die andere … Du hast sie dort alleine
zurückgelassen?«
Seine Züge wurden hart und spiegelten die Art von
Wut, bei der Surreal am liebsten einen Schritt zurückgewichen wäre,
doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Das durfte sie nicht. Sie war
ihm rangmäßig überlegen, zumindest hinsichtlich der Juwelen, die
sie trugen, und sie musste ihm zeigen, dass sie an seine
Selbstbeherrschung glaubte – selbst wenn es gerade nicht so aussah,
als besäße er welche.
»Ich bin dein Begleiter, nicht der ihre. Sie haben
dir nicht gehorcht. Wenn sie bei uns bleiben wollen, werden wir sie
so gut es geht beschützen. Wenn nicht …« Er zuckte mit den
Achseln. »Sie haben die Wahl.«
Surreal hatte nicht damit gerechnet, dass Rainier
eine solch unerbittliche Grenze ziehen würde. Natürlich wäre er
nicht derart unnachgiebig, wenn die Kinder sich nicht ihr,
sondern ihm widersetzt hätten. Doch die Männer des Blutes in
Kaeleer – besonders die Kriegerprinzen – verstanden keinen Spaß,
wenn sich jemand einer Hexe widersetzte; es sei denn, sie verlangte
etwas, das als unzumutbar betrachtet wurde.
»Es sind Kinder«, gab sie zu bedenken, obgleich sie
wusste, dass es zwecklos war, vernünftig mit ihm reden zu wollen.
»Wir haben sie eingeladen, sich uns anzuschließen.«
»Wir haben es unserem ›Gastgeber‹ leicht gemacht,
aber ich glaube, diese Kinder wären so oder so Teil dieses kranken
Spiels geworden. Woher haben sie gewusst, dass Angehörige des
Blutes an diesem Abend herkommen würden?«
»Vielleicht, weil keine Bauarbeiter mehr zu sehen
waren?« Surreal hielt inne. Hatte es überhaupt Bauarbeiter gegeben?
Oder nur die Schwarzen Witwen? Würden Kinder nach Einbruch der
Dunkelheit einfach in der Nähe eines alten Hauses warten, wenn
ihnen niemand einen Hinweis gegeben hätte, dass es etwas
Interessantes zu sehen geben würde? Sie hätte so etwas jedenfalls
nicht getan – es sei denn, sie wäre mit jemandem verabredet
gewesen, um ihn umzubringen.
»Also gut«, sagte sie. »Sehen wir nach, ob sich
hier etwas Brauchbares finden lässt. Ein Einkaufskorb oder eine
Tragetasche. Irgendetwas, das wir nehmen können, um alles, was wir
finden, mit uns herumzuschleppen.«
Sie ging zur Spüle. Wasser wäre gut. Sie hatte
einen Krug frisches Wasser in ihrem persönlichen Schrank gelagert;
einem mithilfe der Kunst erschaffenen Ort, der es den Angehörigen
des Blutes erlaubte, Dinge zu transportieren, ohne dadurch
körperlich belastet zu werden. Wenigstens konnte Lucivar ihr nicht
vorwerfen, keine Vorräte bei sich zu haben, und Rainier besaß
wahrscheinlich ebenfalls einen Krug
Wasser und vielleicht sogar etwas zu essen. Doch sie würden sich
der Kunst bedienen müssen, um Dinge aus ihren persönlichen
Schränken herbeizurufen, und sie wollte lieber abwarten, bis es
keine andere Wahl mehr gab, bevor sie etwas tat, das zur Schließung
eines weiteren Ausgangs führte.
Sie drehte beide Hähne auf und wartete. In den
Leitungen rasselte und gurgelte es – und schließlich kam
rostfarbenes, übelriechendes Wasser daraus hervorgeschossen, wobei
der Strahl immer wieder nachließ und schließlich zu einem bloßen
Tröpfeln wurde. Surreal ließ das Wasser in der Hoffnung laufen, es
würde letzten Endes doch noch klar werden. Sie war gerade im
Begriff, sich wegzudrehen, um Rainier beim Durchsuchen der
Schubladen und Schränke zu helfen, da...
Pling, pling. Pling, pling, pling.
Winzige weiße Brocken fielen zusammen mit dem
Wasser aus den Hähnen und landeten mit einem Pling im
Spülbecken. Mineralablagerungen in den Leitungen, die losgelöst
worden waren, als sie das Wasser anstellte?
Statt in den Ausguss gespült zu werden, bewegten
sich die Bröckchen und fingen an, ein Muster zu bilden. Sie
begannen, eine winzige Pfote zu bilden.
»Tja, es hat hier tatsächlich einen Tragekorb
gegeben«, sagte Rainier, der die Tür eines Unterschranks schloss
und sich wieder aufrichtete. »Aber es sieht aus, als hätten seit
einiger Zeit Mäuse darin genistet.«
Aus dem Hahn kamen keine Mineralpartikelchen,
erkannte Surreal schaudernd. Es waren winzige Knochen. Aber wie
gelangten Mäuse in Wasserleitungen?
Genau wie alles andere. Dabei wurde
nachgeholfen.
Vielleicht war die Hauptwasserleitung nicht
verseucht. Vielleicht waren es nur die Küchenleitungen. Rainier
hatte gesagt, dass Mäuse in einem der Schränke genistet hatten.
Sollte es in einem anderen Teil des Hauses ein Badezimmer geben,
konnten sie vielleicht von dort Frischwasser bekommen.
»Das Wasser hier können wir nicht gebrauchen«,
sagte Surreal entschieden und entfernte sich von der Spüle.
»Na gut«, erwiderte Rainier, der gerade eine
Schublade öffnete. »Wir können …«
Sie stieß ein Jaulen aus und machte einen Satz
zurück, wobei sie schmerzhaft gegen die Spüle stieß. Große Spinnen
mit behaarten Beinen strömten aus der Schublade, die Rainier soeben
aufgerissen hatte. Er tänzelte fluchend rückwärts. Die Spinnen
fielen zu Boden und krabbelten in alle Richtungen. Und während die
Spinnen davonkrochen … kicherten sie.
Surreal trat auf die Spinne, die ihr am nächsten
war – und spürte nichts unter ihrem Stiefel. Der Boden war leer,
als sie den Fuß hob.
Illusionszauber, die wenige Augenblicke nach
Verlassen der Schublade wieder verschwanden. Gerade genug Zeit, um
jeden im Zimmer zu Tode zu erschrecken.
Sie hatte das Gefühl, gegen eine Wand geschleudert
worden zu sein. In gewisser Weise war dem auch so. Unter anderen
Umständen hätte sie einen Schutzschild um sich erschaffen und
gewusst, dass sie vor den Spinnen in Sicherheit war. Die
verspannten Muskeln rührten daher, dass sie ihren Instinkten und
ihrer Ausbildung zuwidergehandelt hatte, indem sie keinen
Schutzschild erschuf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rainier mit scharfer
Stimme.
»Ja, klar.« Nein. Die Mistviecher hatten
gekichert! »Sind das alle gewesen?«
Rainier näherte sich der Schublade und beugte sich
gerade so weit vor, um hineinsehen zu können. Dann griff er nach
einem der Schürhaken, die auf dem Küchentisch lagen, und schob
damit die Schublade zu. »Hinten ist eine übrig. Da sie gerade eine
Maus verspeist, gehe ich mal davon aus, dass es sich um die echte
Spinne handelt.« Er sah sich in der Küche um und stieß ein Seufzen
aus, bei dem es sich auch um einen leise gemurmelten Fluch
gehandelt haben konnte. »Was im Namen der Hölle...«
*Es ist Tersa*, sagte Surreal. Sie waren allein,
und sie
wusste selbst nicht, warum sie das nicht laut aussprechen wollte.
Doch sie wollte die Worte auf gar keinen Fall laut
aussprechen.
*Was?*, fragte Rainier, der ihrem Beispiel folgte
und ebenfalls die Stimme senkte.
*Die Spinnen. Die Maus in dem Glas. Ich bin mir
ziemlich sicher, dass Tersa hinter diesen Zaubern steckt.*
*Willst du damit etwa sagen, Daemon Sadis
Mutter ist Teil dieses perversen Ortes? Dass sie zu
den Leuten gehört, die gerdae versuchen, uns umzubringen?*
*Nein! Tersa würde niemals …* Wie viel wusste
Rainier über Tersa? Er musste ihr begegnet sein, aber wie viel
wusste er? *Jemand muss sie in die Irre geführt und dazu gebracht
haben, Illusionszauber für diesen Ort zu erschaffen. Sie würde
Kindern niemals absichtlich Schaden zufügen, Rainier. Und so wahr
die Sonne nicht in der Hölle scheint, würde sie niemals Daemon
schaden.*
*Uns werden also Dinge begegnen, die merkwürdig und
gespenstisch sind, aber größtenteils gutartig, wohingegen andere
Dinge wirklich versuchen, uns an den Kragen zu gehen?*
Sie zögerte.
*Nein*, sagte Rainier sanft. *So einfach ist es
nicht. Durch meinen Dienst am Dunklen Hof habe ich das Privileg
genossen, Zeit mit drei der genialsten und kreativsten Schwarzen
Witwen im ganzen Reich zu verbringen. Deshalb weiß ich aus meinen
Gesprächen mit Jaenelle, Karla und Gabrielle, dass Illusionszauber
und Verworrene Netze Schichten bilden und sich miteinander
vermischen können. Es ist gleichgültig, was Tersa beabsichtigt
haben mag. Falls sich in einem ihrer harmlosen Illusionszauber der
Todeszauber einer anderen Schwarzen Witwe verbirgt, wird er uns
dennoch umbringen.*
*Ich weiß.* Vorsichtig ließ Surreal den Dolch in
die Scheide in ihrem Stiefel gleiten. Dann griff sie nach dem
anderen Schürhaken und benutzte ihn, um einen Schrank aufzustemmen.
»Sehen wir uns einmal an, was es hier sonst noch so gibt.«
Spinne, Spinne. Wer hatte die Spinne
gefunden?
Sie war nicht mehr so tapfer, wenn sie nicht auf
ihre Macht zurückgreifen konnte, nicht wahr? Nicht so tapfer, nicht
so wild, nicht so verdammt arrogant.
Vielleicht sollte er dieses Luder Surreal als
Vorlage für eine seiner Figuren nehmen. Schließlich würden die
Angehörigen des Blutes, trotz der sie umgebenden Gefahren, immer
noch geil auf Sex sein.
Landry Langston würde sie zur Geliebten haben,
während sie in dem Geisterhaus in der Falle saßen. Heißer,
schneller Sex. Sie würde natürlich einen Orgasmus haben müssen.
Leserinnen erwarteten das … Landry würde natürlich mit dem
Leben davonkommen, doch es würde ihm nicht gelingen, sie aus der
letzten Falle zu retten. Würde er ihren Verlust bedauern?
Oder vielleicht sollte er in dem Roman zeigen, wie
grausam Hexen waren, wenn sie Männer benutzten. Die Hexe in der
Geschichte könnte Landry benutzen und somit seine eigenen
Qualen noch steigern, während er versuchte, einen Ausweg aus dem
Haus zu finden und die Leute in Sicherheit zu bringen, die zusammen
mit ihm eingesperrt wären. Wenn er dann vor der Wahl stand, sich
selbst zu opfern, um sie zu retten, oder lebend aus dem Haus zu
entkommen, war es gerechtfertigt, sie dem Schicksal zu überlassen,
das sie verdient hatte.
Ja. Er würde sie zurücklassen, als sei sie wertlos,
ein Nichts.
War das letzten Endes denn nicht genau das, was die
Angehörigen des Blutes ihm angetan hatten?
»Sechs Kerzen«, sagte Rainier und legte sie auf
den Küchentisch. »Schade nur, dass ich keine Kerzenständer gefunden
habe.«
»Ich schon.« Surreal stellte zwei angeschlagene
Tassen auf den Tisch.
Er sah zuerst die Tassen an und dann sie.
Sie biss sich auf die Zunge, um ihn nicht naiv zu
nennen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich gelegentlich in Häusern wie
diesem gewohnt habe. Du hast die Streichhölzer?«
Er zog die Streichholzschachtel aus der Tasche. Sie
hielt eine Kerze empor und wartete, bis er den Docht angezündet
hatte. Dann neigte sie die Kerze so weit, dass das Wachs in eine
Tasse tropfen konnte. Dasselbe tat sie mit der anderen Tasse,
nachdem sie eine andere Kerze in das abkühlende Wachs gepresst und
sie entzündet hatte.
Als sie die erste Kerze in das Wachs drückte,
drehte Rainier die Flamme in der Öllampe zurück.
»Hoffentlich finden wir in den anderen Zimmern mehr
Vorräte, aber vorerst wird es das hier tun«, sagte Surreal.
Ein Geräusch im Korridor.
Rainier griff nach einem Schürhaken und ging auf
das Geräusch zu. Sie ließ ihren Dolch aus der Stiefelscheide
gleiten und wartete ab.
Die Kinder kamen in die Küche geschlurft. Sie
wirkten verängstigt und trotzig. Surreal konnte beide Gefühle
verstehen, doch im Moment würden sie sich mit ihrem Trotz bei
Rainier nicht gerade beliebt machen.
Als niemand etwas sagte, ging sie zu der Tür, die
in dem Raum am weitesten von ihnen entfernt lag, und öffnete sie
vorsichtig.
Nichts fiel heraus oder sprang ihr entgegen. Ja,
sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wozu der kleine Raum dienen
sollte. Sie machte die Tür wieder zu und versuchte es bei der
nächsten. Eine Vorratskammer. Das war vielversprechend – besonders
als sie ein paar Einmachgläser auf den Regalen erblickte. Sie
machte auch diese Tür wieder zu und versuchte dann die letzte, die
dem Herd gegenüberlag, zu öffnen.
In dem Augenblick, als sie den Türknauf berührte,
spürte sie Unbehagen in sich aufsteigen. »Rainier.«
Er trat näher und nahm eine kampfbereite Stellung
ein. Langsam öffnete sie die Tür, bereit, allem Widerstand zu
leisten, was versuchen sollte, die Tür schnell aufzustoßen.
Nichts geschah.
Als sie die Tür vollständig aufzog, machte Rainier
einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Dann noch einen.
»Sieht aus, als hätten wir den Weg hinunter in den
Keller gefunden«, sagte er.
Ein Vibrieren fuhr durch den Türknauf, und lief
durch das Holz der Tür, als er einen weiteren Schritt auf die
Treppe zuging.
»Wenn wir uns in einem Buch befänden …«, setzte er
an.
»Wäre einer von uns töricht genug, sich eine Kerze
zu schnappen und nach unten in den dunklen, gespenstischen Keller
hinabzusteigen, wo etwas nur darauf warten würde, dieser törichten
Person den Garaus zu machen.« Der Türknauf klapperte und zog an
ihrer Hand. »Rainier, weg da!«
Er wirbelte herum und sprang in dem Augenblick
zurück, als sich der Türknauf ihrem Griff entriss, und die Tür
krachend zufiel.
»Und die törichte Person ist, nachdem sie den Fuß
der Treppe erreicht hat und die Tür auf geheimnisvolle Weise ins
Schloss fällt …«, sagte Rainier.
»Nicht nur zusammen mit einem der bösen Geister
eingesperrt, sondern befindet sich außerdem noch im Dunkeln, weil
der plötzliche Luftzug dem Narren die Kerze ausgeblasen
hat.«
Rainier hob eine Augenbraue. »Wie bitte?«
Sie lächelte ihn an. »Selbstverständlich handelt es
sich bei der törichten Person um einen Mann.«
»Selbstverständlich«, erwiderte er säuerlich. Doch
er lächelte dabei.
Sie holte einen der Stühle, die um den Küchentisch
herumstanden, und klemmte ihn unter den Türknauf. Als sie wieder zu
Rainier sah, lächelte er nicht mehr. »Die Tür ist mit einem Zauber
belegt«, erklärte sie.
Sie sah sein Zögern, seine Frustration. Er wollte
die Tür mithilfe der Kunst verschließen, um das Grauen, das sich im
Keller verbarg, im Keller einzusperren.
Sie warf den Kindern einen Blick zu. Sie hatten
sich dem
Tisch – und dem Licht – genähert, hatten jedoch noch immer nichts
gesagt.
Zurück zur Vorratskammer. Sie konnten beide keine
Spur von Macht um die Tür herum spüren, aber Rainier stemmte sich
dennoch gegen die Tür, um sie aufzuhalten, und Surreal hatte nichts
dagegen einzuwenden.
Sie schob den Dolch unter den Gürtel, nahm zwei
Gläser von den Regalen und kehrte an den Tisch zurück. Nachdem sie
die Einmachgläser mit dem Ärmel ihrer Jacke abgewischt hatte, hielt
sie eines näher an die Kerzen, um sich den Inhalt genauer ansehen
zu können. »Pfirsiche.«
Wie lange hatten die Einmachgläser dort gestanden?
Wie lange war eingemachtes Obst überhaupt haltbar? Die Gläser waren
nicht sehr staubig. Die Hexen, die diesen Ort erschaffen hatten,
hatten gewiss etwas zu essen in Reichweite haben wollen für den
Fall, dass sie Hunger bekämen. Höchstwahrscheinlich handelte es
sich um übrig gebliebene Vorräte.
Mit der Spitze ihres Dolches stemmte sie den Deckel
von einem der Gläser. Das Plop, mit dem der Verschluss
aufbrach, war ein gutes Zeichen. Also hob sie das Einmachglas hoch
und schnupperte daran. Es roch nach Pfirsichen, aber... War da noch
ein Hauch von etwas anderem?
Nachdem Surreal den Dolch an ihrer Hose abgewischt
hatte, stocherte sie damit zwischen den obersten Pfirsichscheiben
herum.
»Warum stocherst du mit dem dreckigen alten Messer
da drin rum?«, fragte Ginger.
»Nicht in dem Tonfall, Mädchen«, knurrte Rainier.
Dann fügte er auf einem mentalen Faden hinzu: *Warum
stocherst du darin herum? Der Verschluss war in Ordnung, oder etwa
nicht?*
*Er war in Ordnung*, erwiderte Surreal. *Aber
willst du wirklich einem Einmachglas vertrauen, wenn drei Schwarze
Witwen in diesem Haus am Werk gewesen sind?*
»Ich suche nach einer Schüssel«, sagte
Rainier.
Er tat es und nahm seinen Hemdschoß, um den Staub
davon abzuwischen.
Es war nicht viel Essen, um es unter ihnen
aufzuteilen, dachte Surreal, während sie den Inhalt des
Einmachglases in die Schüssel kippte. Doch ein wenig Nahrung und
Flüssigkeit würden helfen, den Zeitpunkt zu verschieben, an dem sie
sich der Kunst bedienen müssten, um die Vorräte herbeizuholen, die
sie bei sich trugen, und …
»Was ist das?«, fragte Sage und beugte sich näher
zu der Schüssel. »Sind da Weintrauben drin?«
»Mutter der Nacht«, sagte Rainier und wandte sich
ab.
Ihr kam die Galle hoch, aber sie starrte die
Mäuseköpfe unverwandt an, die den Pfirsichscheiben untergemischt
waren.
»Tja«, sagte sie eine Spur zu sanft. »Kein Wasser,
keine Nahrungsmittel. Und nichts, worauf wir vertrauen könnten.«
Sie stellte das Einmachglas ab, ließ dann ihren Dolch in die
Stiefelscheide gleiten und griff nach einer der Kerzen. »Es ist an
der Zeit, sich oben umzusehen.«
»Was ist dort unten?« Ginger deutete auf die
Kellertür. »Ihr seid nicht da runtergegangen.«
»Und das werden wir auch nicht tun«, sagte Rainier
kategorisch. Er nahm die Öllampe und wies dann mit dem Schürhaken
auf den Tisch. »Einer von euch nimmt die andere Kerze.«
»Vielleicht gibt es da unten etwas zu essen«,
murmelte Ginger. Sie ging zu der Tür und deutete anklagend darauf.
»Ich werde hinuntergehen, wenn ihr zu viel Angst
habt.«
»Mach das ruhig, Süße«, sagte Surreal. »Aber ich
sage es euch nur dieses eine Mal: Von jetzt an werden wir unser
Bestes tun, um euch vor allem zu beschützen, was in diesem Haus vor
sich geht, aber vor eurer eigenen Dummheit werden wir euch nicht
beschützen. Wenn du die Tür aufmachen möchtest, nachdem wir euch
gesagt haben, dass ihr es nicht tun sollt, dann tu es ruhig. Sollte
dich dann etwas anfallen, werde selber damit fertig oder
stirb.«
»Ihr müsst …«
Etwas auf der Kellertreppe schlug auf einmal mit
solcher Wucht gegen die Tür, dass die Angeln ächzten.
Ginger lief zu den anderen Mädchen zurück.
»Vermutlich beantwortet das die Frage, oder?«,
meinte Surreal.
»Vermutlich«, erwiderte Rainier. »Ich muss dir
Recht geben. Du deckst uns den Rücken.«
»Abgemacht.«
Sie bekamen die erste große Überraschung nicht zu
Gesicht. Egal. Es würde etliche andere Gelegenheiten geben, bei
denen sie der noch begegnen konnten. Und da sie nun die
Treppe in den ersten Stock emporstiegen, fing endlich der
interessante Teil des Abenteuers an.