Kapitel 28
 
 
 
Surreal hatte dem Mann, der den Salon betrat, einiges zu sagen.
»Du musst unbedingt mit deinem Bruder sprechen.«
»Ich spreche andauernd mit meinem Bruder«, sagte Daemon liebenswürdig. Er durchquerte das Zimmer und stellte sich neben die Fußbank vor ihrem Sessel.
»Ich meine es ernst, Sadi. Er benimmt sich völlig unvernünftig.«
»Lucivar benimmt sich unvernünftig? Woran merkst du das?«
Eingebildeter, arroganter Bastard. Er verspottete sie!
»Du weißt ja nicht, wie es ist«, meinte sie mürrisch. »Er kommt jeden Tag her – jeden einzelnen Tag – und starrt mich an, als sei ich ein Braten, und er überprüfe, ob ich schon durch sei.« Und genau das tat Lucivar tatsächlich, wie Surreal festgestellt hatte. »Vorhin ist er aufgetaucht und hat gesagt, nach Winsol müsse ich nach Ebon Rih kommen und mit ihm an meinen Kampffähigkeiten arbeiten – insbesondere in Sachen Selbstverteidigung.«
Sadi trug eine Miene höflichen Interesses zur Schau, doch es war schwer zu sagen, ob er mit seinen Gedanken nicht ganz woanders war.
»Er hat doch tatsächlich gesagt, ich könne in der Taverne unten in Riada wohnen, und er werde für Kost und Logis bezahlen – als wenn ich es mir nicht leisten könnte, selbst für mein Zimmer aufzukommen. Doch sollte ich mich als widerspenstig erweisen, werde er mich in ein Gästezimmer im Horst werfen und das Zimmer mit Schutzschilden versehen um sicherzugehen, dass ich dort bleibe. Außerdem werde er Daemonar zusammen mit mir in das Zimmer werfen. Das ist Erpressung!«
»Nein, mein Schatz«, sagte Daemon. »Erpressung wäre, wenn Lucivar dir sagte, solltest du seinen Bedingungen nicht zustimmen, würdest du es nicht nur mit ihm zu tun bekommen, sondern mit den ganzen übrigen Männern in der Familie, die unglücklich darüber sind, dass du verletzt worden bist. Und das würde Chaosti mit einschließen.«
Mist, Mist, Mist. Chaosti war der Kriegerprinz der Dea al Mon. Mütterlicherseits mit ihr verwandt. Chaosti wäre ganz genauso schlimm wie Lucivar. Vielleicht sogar noch schlimmer.
Nicht schlimmer. Niemand konnte schlimmer als Lucivar sein. Jedenfalls kein einzelner Mann. Sollten sie sich jedoch alle gegen sie verbünden …
»Du bist ungefähr so nützlich wie ein Eimer voll Pisse«, knurrte sie.
Daemon lächelte nur. »Rainier freut sich genauso. Er wird dir Gesellschaft leisten. Abends könnt ihr euch dann gegenseitig etwas vorjammern.«
Ihr schossen etliche äußerst schäbige Dinge durch den Kopf, die sich über Daemon sagen ließen, und die sie ihm gerne an den Kopf geworfen hätte. Doch er hielt ihr eine weiße Schachtel mit einem goldenen Band entgegen, und sie beschloss abzuwarten und zu sehen, ob die Bestechung es wert war, dass sie doch lieber den Mund hielt.
»Pralinen«, sagte Daemon.
Beim Feuer der Hölle. Für eine Schachtel Pralinen wäre sie heute sogar zu Lucivar nett.
»Wenn du sie nicht möchtest …«
»Versuch nur mal, mit der Schachtel von hier zu verschwinden, dann wirst du nämlich ohne deine Haut von hier verschwinden.«
Daemon grinste. »Das ist das Hexchen, das wir alle so sehr lieben. Jetzt weiß ich, dass es dir wieder besser geht.«
»Bastard.«
Lachend reichte er ihr die Schachtel. Dann gab er ihr einen Briefumschlag von vertrauter Größe. »Die hier liefere ich persönlich ab.«
Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag und las die Einladung zur ersten Besichtigung von Jaenelles und Marians Spukhaus.
»Du musst nicht hingehen«, sagte Daemon sanft. »Wir haben vollstes Verständnis.«
»Ich habe schon Schlimmeres zu Gesicht bekommen, ich habe schon Schlimmeres erlebt, und ich habe Schlimmeres getan. Ich möchte sehen, was Jaenelle und Marian geplant hatten. Vielleicht wird das dabei helfen, das perverse andere Spukhaus aus meinem Gedächtnis zu löschen.«
Sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie es ansprechen sollte, doch seit ihrer Rückkehr nach Amdarh war sie darauf bedacht gewesen, so viel wie möglich über Jarvis Jenkell und die Falle herauszufinden, die er der Familie SaDiablo gestellt hatte.
»Ich habe gehört, das Haus sei niedergebrannt«, stellte sie in möglichst beiläufigem Tonfall fest – und hoffte, dass nur sie das Hämmern ihres Herzschlags vernehmen konnte. »Hexenfeuer, nicht wahr?«
Er sagte nichts. Sah sie nur mit Augen an, die auf einmal ein wenig glasig, ein wenig schläfrig waren.
»War Jenkell noch am Leben, als das Feuer das Haus ergriff?«, fragte sie.
Immer noch nichts. Dann: »Wieso meinst du, sollte ich das wissen?«
»Du würdest es wissen, Sadi. Du würdest es wissen.«
Er musterte sie lange. Dann trat er den letzten Schritt weiter vor, sodass er genau neben ihrem Sessel stand. Er beugte sich über sie. Mit der einen Hand hielt er ihr Gesicht, während seine Lippen leicht über ihre Wange strichen.
Der Sadist flüsterte ihr ins Ohr: »Er war dankbar, als ich ihn sterben ließ.«
Sie erzitterte – und wusste, dass ihm das Zittern nicht entgangen war.
Daemon trat zurück. »Ich werde Jaenelle ausrichten, dass du zum Eröffnungsabend kommen wirst. Rainier hat ebenfalls vor zu erscheinen.«
Er verließ das Zimmer.
Sie legte die Schachtel und die Einladung beiseite und erhob sich, wobei sie zusammenzuckte, als ihre linke Seite ziehende Schmerzen durchzogen. Ihr Haupteinwand gegen dieses geforderte Kampftraining mit Lucivar bestand darin, dass ihre männlichen Verwandten nicht wissen sollten, wie schwach sie immer noch war. Nun ja, bis Winsol blieben ihr ein paar Wochen. Sollte es ihr gelingen, ihre Anverwandten bis dahin in Schach zu halten, würde sie sie überzeugen können, dass sie viel Aufhebens um nichts gemacht hatten.
Obwohl die anderen wahrscheinlich, wenn sie es sich genau überlegte, täglich Bericht von der Heilerin erstattet bekamen, die Sadi angeheuert hatte und die täglich bei ihr vorbeikam und ihren Gesundheitszustand besser kannte als sie selbst. Und Jaenelle hatte gewiss bis in die letzte Einzelheit begriffen, was das Gift ihr angetan hatte, und wie lange es dauern würde, bis sie wieder gesund war. Während Daemon sie im Stadthaus untergebracht und Helton Anweisungen bezüglich Mahlzeiten und Besuchern gab, hatte Jaenelle wahrscheinlich der Heilerin genau auseinandergesetzt, worauf zu achten sei, um sicherzugehen, dass der Heilungsprozess wie gewünscht voranschritt.
Vielleicht war es also törichte Sturheit gewesen, sich nicht von der besten Heilerin in ganz Kaeleer betreuen zu lassen, aber Jaenelle gehörte nun einmal zur Familie. Im Moment hätte sie sich erdrückt gefühlt, wenn die Familie sich zu sehr um sie gekümmert hätte. In ihren Augen war es Strafe genug, dass Helton sie umhegte. Wenigstens gebot ihm seine Position als Butler im Stadthaus Einhalt, und er musste sich zurückziehen, wenn sie ihn anfauchte.
Unglücklicherweise gingen ihre Familienmitglieder davon aus, angefaucht zu werden bedeute, dass sich ihr Geisteszustand verbessere, sodass es sie nur noch weiter ermunterte, ihr auf die Nerven zu gehen.
Sie hatten sie vollkommen in Ketten gelegt. Oh, sie gewährten ihr Atempausen und die Illusion von Unabhängigkeit, aber bis zu ihrer vollständigen Genesung würden Lucivar und Daemon weiter um sie kreisen, würden sie bewachen – und alles, was als Gefahr empfunden wurde, würde verschwinden, bevor es ihr so nahe kam, dass sie es bemerken konnte.
Sie würde also nach Ebon Rih aufbrechen, und sie würde einen Weg finden, um die Ketten zu sprengen, die ihre Familie um sie gewoben hatte. Bei Lucivar waren ihre Chancen in dieser Hinsicht größer, er würde eher einwilligen, sich zurückzuziehen. Sollte Daemon es andererseits für nötig empfinden, jene Ketten enger zu zurren …
Der Blick in seinen Augen. Der Klang seiner Stimme, wenn der Tonfall sowohl Verführung als auch Bedrohung verhieß.
Die Kälte war ihr bis in die Knochen gekrochen. Sie streckte sich auf dem Sofa aus, belegte die Decke, die Helton ihr vorhin gebracht hatte, mit einem Wärmezauber und wickelte sich darin ein.
War Jenkell noch am Leben gewesen, als das Feuer das Haus ergriff?
Sadi hatte ihre Frage nicht beantwortet.
Vielleicht war es auch besser so.
Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
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