Kapitel 4
 
 
 
Das Rasseln, Poltern und die Flüche, die aus der Küche des Horstes drangen, waren keine Geräusche, die Lucivar normalerweise mit seiner lieblichen Frau in Verbindung brachte. Er zögerte einen Augenblick. Dann setzte er Daemonar in der Nähe der Seitentür ab, die auf den Teil des Hofes hinausging, der den stürmischen Balgereien eines eyrischen Jungen und eines Wurfes Wolfsjungen gewachsen war – und der von einer gewölbten Schildkuppel umgeben war, die den Jungen und die Welpen davor bewahren sollte, den Berg hinunterzustürzen.
»Bleib hier«, sagte er.
Beim Überqueren der Türschwelle zögerte er erneut. Der Befehl würde den Jungen ein oder zwei Minuten draußen halten, aber nicht viel länger. Doch wenn er Daemonar aussperrte, bliebe ihm nicht einmal diese kurze Zeitspanne, herauszufinden, was Marian derart aus der Fassung gebracht hatte, bevor sein Sohn sein Missvergnügen laut genug kundtäte, um bis nach Riada gehört zu werden. Also ließ er die Tür offen, durchquerte den gewaltigen Vorraum und erreichte den Türbogen, der in die Küche führte.
»Marian?«, fragte er leise.
Der Klang seiner Stimme erschreckte sie so sehr, dass sie gegen einen der Metalleimer trat – und Wörter von sich gab, die er noch niemals zuvor aus ihrem Munde gehört hatte.
»Deine Schwester«, keuchte sie, während sie Lumpen, Wischlappen und Besen aufsammelte. »Diese Ungeheuer mit ihren madenzerfressenen Spatzenhirnen!«
Bei dem Word Maden zuckte er ein wenig zusammen. Dann stellte er sich in Verteidigungsstellung auf. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Er wusste nicht recht, weshalb die Besichtigung eines alten Hauses diese Reaktion hervorrufen sollte, aber – beim Feuer der Hölle! – irgendetwas hatte Marian zutiefst verärgert.
»Mein Zuhause wird sauber sein.«
Ihm war nicht ganz klar, ob es sich bei der Aussage um einen Verzweiflungsschrei oder eine Kampfansage handelte.
»Unser Zuhause ist sauber«, erwiderte er möglichst gelassen.
Sie drehte sich so schnell zu ihm um, dass er unwillkürlich zwei Schritte zurückwich.
»Behandele mich bloß nicht so gönnerhaft, Lucivar Yaslana. Wage es ja nicht!«
Er hob die Hände in Brusthöhe, zum Zeichen, dass er die Waffen streckte, und hielt den Mund. Es war sinnlos, vernünftig mit ihr reden zu wollen, bevor sie nicht wieder etwas mehr nach Marian und weniger nach einer hysterischen, Besen schwingenden Harpyie klang.
»In meinem Zuhause gibt es keine Spinnweben in den Ecken, und in den Mauern huschen keine Ratten umher, und es gibt auch keine vermodernden Leichen.«
Bloß gut, dass er ihr nichts von dem teilweise aufgefressenen Hasen erzählt hatte, den die Wolfsjungen in einem abgelegenen Zimmer zurückgelassen hatten. Er hatte den Kadaver – und die Maden – beseitigt, oder etwa nicht? Und er hatte alles emsig geschrubbt, damit es nicht mehr so stank.
Vielleicht hatte er nicht gründlich genug geschrubbt?
»Mama!«
Lucivar machte einen kleinen Schritt und blockierte so den Zugang zur Küche. Daemonar, der auf die Tür zugerannt kam, stieß mit seinem Bein zusammen.
Bevor der Junge seinen Trotz zum Ausdruck bringen konnte, jammerte Marian: »Sie glauben, dass wir so leben!« Dann verwandelte sich das Jammern in ein Knurren, als sie hinzufügte: »Ich muss putzen.«
Da er ihr im Laufe der letzten Jahre beigebracht hatte, sich mit Gegenständen zu verteidigen, die sich normalerweise in ihrer Reichweite befanden, stand jetzt eine erboste Frau vor ihm, deren Hände voller potenzieller Waffen waren.
»Na schön.« Er stupste Daemonar mit dem Fuß zurück. Nachdem der Junge das Knurren seiner Mutter vernommen hatte, war er instinktiv leise und vorsichtig geworden – und beobachtete das Ganze aus sicherer Entfernung, indem er sich hinter seinem Vater versteckte. »Warum schaue ich später nicht in der Taverne vorbei und besorge uns etwas zum Abendessen?« Als sie die Zähne entblößte, fügte er hinzu: »Es ist nur ein Vorschlag, Marian, keine Kritik.«
Schließlich ließ ihr wilder Blick soweit nach, dass er seine geliebte Gattin in der erbosten Frau wiedererkannte, die da vor ihm stand.
»Das wäre schön«, sagte sie.
Ohne Marian aus den Augen zu lassen, bückte Lucivar sich und hob Daemonar auf seine Schultern. »Wir werden dir ein wenig Platz machen.«
Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern drehte sich direkt um und ging in den Hof hinaus. Als er die Tür geschlossen hatte, und sich auf das gegenüberliegende Ende des Rasens zubewegte, fing er allmählich an, sich zu entspannen.
Erst jetzt ging ihm vollständig auf, was er soeben getan hatte, und er blieb wie angewurzelt stehen.
Er war ein eyrischer Kriegerprinz. Er trug schwarzgraue Juwelen. Er war der drittmächtigste Mann im ganzen Reich Kaeleer. Und er war eben vor einer Haushexe davongelaufen, die Purpur trug!
Selbstverständlich galten die normalen Kampfregeln im Umgang mit einer Ehefrau nicht, wodurch er definitiv ins Hintertreffen geriet, wenn es darum ging, mit ihr fertig zu werden.
Eine kleine Hand patschte ihm ins Gesicht. Er drehte den Kopf und sah seinen Sohn an.
»Mama war gruselig«, sagte Daemonar.
»Ooooh ja!« Er gab Daemonar einen schmatzenden Kuss, der das Kind zum Lachen brachte. »Komm schon, mein Junge. Wir werden einfach noch ein bisschen länger draußen spielen.«
Und hoffentlich wären Ehefrau und Sohn in ein paar Stunden so erschöpft, sodass er beide ins Bett stecken konnte, bevor er zu seinem Gespräch mit Daemon zur Burg aufbrach.
003
»Aus dem Haus lässt sich einiges machen«, sagte Jaenelle, die vor dem Spiegel an ihrem Frisiertisch saß und einen Saphir-Rubin-Ohrring an ihrem linken Ohr befestigte. Ihr Blick begegnete dem seinen, während sie ein trockenes Lachen von sich gab. »Aber ich glaube, der Zustand, in dem sich das Haus befindet, hat Marian ein wenig aus der Fassung gebracht.«
Verdammt. Er hatte gehofft, die reizende Haushexe könnte vielleicht ihren Ehemann ein wenig beruhigen, bevor Lucivar herkäme. Wenn Marian selbst die Fassung verloren hatte, würde Lucivar als wandelnder Brandherd in der Burg eintreffen.
»Ihr werdet die Sache also durchziehen.« Er hatte den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht. Das Spukhaus stellte nicht die geringste Gefahr dar. Es war lediglich ein törichter Zeitvertreib. Die Dunkelheit wusste, welch niederträchtige Dinge die Königinnen in Terreille angestellt hatten, um sich die Zeit zu vertreiben, und dieser Plan würde niemandem schaden. Doch etwas an der Sache störte ihn. Er kam bloß nicht dahinter, was es war.
»Ja, Daemon, wir werden die Sache durchziehen.«
Sie befestigte den anderen Ohrring am rechten Ohr, woraufhin seine Aufmerksamkeit von etwas gefesselt wurde, das viel interessanter als ein altes Haus war.
Er hatte ihr langes goldenes Haar immer geliebt, hatte geliebt, es mit den Händen zu berühren oder die Strähnen auf seiner Haut zu spüren. Doch die kurzen Haare, die auf Surreals Drängen hin gut geschnitten und frisiert waren, umrahmten ihr Gesicht sehr hübsch und legten ihren Hals bloß. Und das faszinierte ihn in diesem Augenblick.
Der Punkt, an dem sich die Linien ihres Nackens und ihrer rechten Schulter trafen, war etwas Besonderes. Nicht auf der linken Seite; nur auf der rechten. Es war ein verlockender Duft. Ein besonderer Geschmack. Es war nichts, das sie sich auf die Haut sprühte, und unter der Haut befand sich keine Duftdrüse. Doch für Kriegerprinzen war diese besondere Stelle wie Katzenminze für einen Kater. Sie wollten den Duft einatmen, an der Stelle lecken, den Mund darüber schließen und …
Immer mit der Ruhe, Junge. Fang nichts an, was du erst viel später zu Ende führen kannst.
Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie oft er von hinten an sie herantrat und sie an jener Stelle küsste, immer einen Augenblick verweilend, um sie ganz zu schmecken, bis ihm aufgefallen war, dass Lucivar das Gleiche tat, auch wenn dessen Küsse rasch und freundschaftlich ausfielen. Bis ihm aufgefallen war, dass sämtliche Kriegerprinzen im Ersten Kreis das Gleiche taten, sogar Kaelas und Jaal; die Faszination wirkte also nicht nur auf menschliche Männer.
Und Jaenelle war nicht die Einzige, die diese besondere Stelle besaß. In Terreille war ihm dieses Verhalten nicht aufgefallen, aber jede Königin in Kaeleer hatte diese besondere kleine Stelle – eine Stelle, die nur diejenigen Kriegerprinzen ansprach, die ihr dienten.
Womit er wieder bei Jaenelles Haaren angelangt war. Als sie ihr Haar noch lang trug, hatte es die verlockende Stelle bedeckt, außer sie trug die Haare hochgesteckt oder hatte sie zu Zöpfen geflochten. Jetzt lenkte ihre Frisur das Auge geradezu auf ihren Nacken, hinab zu jener Stelle und …
»Alles in Ordnung?«, fragte Jaenelle. »Deine Augen sind ganz glasig.«
Es kostete ihn einige Kraft, seine Libido zu bezähmen, aber schließlich gelang es ihm. Genauer gesagt, gelang es Jaenelles leicht verwirrtem und leicht belustigtem Blick. Überhaupt war dies kein Abend, an dem er einfach seinen Gedanken nachhängen konnte.
»Alles in Ordnung.« Er zögerte und beschloss dann, sie besser vorzuwarnen. »Nach dem Abendessen wird Lucivar vorbeischauen.«
Sie griff nach einem Parfumflakon, den er ihr neulich geschenkt hatte, und benetzte die Stellen an ihrem Hals, an denen man ihren Puls sehen konnte, mit je einem Tropfen. »Ist er über etwas verärgert?«
»Ja.« Leugnen war zwecklos.
Sie stellte den Flakon auf den Frisiertisch zurück und wandte sich Daemon zu. Es war ihm leichter gefallen, mit ihrem Spiegelbild zu reden, als von ihren saphirblauen Augen in Bann geschlagen zu werden.
»Weißt du, worum es geht?«, fragte Hexe.
Er schüttelte den Kopf. »Aber es ist … eine Sache zwischen Brüdern.«
Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu und legte das Armband mit den vielen Edelsteinen an, das er ihr vor ihrer Hochzeit geschenkt hatte, im Laufe der Wochen, als er befürchtet hatte, sie würde sich für immer von ihm abwenden. »Dann werde ich heute Abend in meinen Räumen bleiben. Es klingt so, als würde euch eine Unterhaltung dann leichter fallen.«
»Ich denke schon.« Er hätte sie nicht darum gebeten, sich fernzuhalten, doch er war erleichtert, dass sie einsah, wie sehr ihre Gegenwart jeglichen Versuch beeinträchtigen würde, der Sache auf den Grund zu gehen.
Sie trat auf ihn zu und gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Ihr werdet das schon regeln. Das schafft ihr beiden immer.«
Er gab seinem inneren Bedürfnis nach, schlang die Arme um sie und liebkoste jene besondere Stelle in ihrem Nacken.
 
Die mentale Signatur wogte durch die unteren Räumlichkeiten der Burg und kündigte Lucivars Laune an, noch bevor er die Schwelle des Arbeitszimmers überschritten hatte. Arroganz. Zorn. Und Kränkung.
Daemon lehnte sich an den Ebenholzschreibtisch und wartete darauf, dass sein Bruder durch die Tür stürzen würde, egal ob sie geöffnet oder geschlossen war.
Wenn er es sich recht überlegte, war an diesem Tag schon genug zu Bruch gegangen. Mithilfe der Kunst öffnete er die Tür des Arbeitszimmers, kurz bevor der Eyrier eintrat.
Lucivars Stimmung war explosiv, und die meisten Menschen hätten rasch das Weite gesucht, um dem Gewittersturm zu entkommen, der alles auf der Stelle zertrümmern würde, was sich ihm in den Weg stellte. Doch der Zorn kümmert Daemon nicht. Sie waren schon früher aneinandergeraten, und das würde ganz ohne Zweifel auch in Zukunft wieder geschehen. Und die Arroganz gehörte einfach zu Lucivar und machte ihn zu dem, der er war. Aber die Kränkung … Das war die Wunde, die sie mit einer Lanzette würden öffnen müssen.
»Bastard«, sagte Lucivar und fing an, in dem Raum aufund abzulaufen.
»Mistkerl.« Er beobachtete, wie Lucivar sich in dem Zimmer umsah, und es wie ein künftiges Schlachtfeld betrachtete.
Wenn Lucivar nicht völlig entspannt war und sich in vertrauter Umgebung befand, vollzog er diese Einschätzung gewohnheitsmäßig. Er nahm die Möbelstücke nicht nach ihrer künstlerischen Gestaltung oder um ihres ästhetischen Wertes willen wahr. An einem Zimmer interessierte ihn nicht die Behaglichkeit. Er sah nur Waffen, Fallen und Verteidigungsmöglichkeiten. Dass er das Arbeitszimmer unter diesen Gesichtspunkten abschätzte, ließ nichts Gutes für das bevorstehende Gespräch ahnen.
»Was ist mit deinem Rücken los?«, fragte Lucivar, als er am Schreibtisch vorüberpirschte, während seine goldenen Augen mit einem forschenden Blick die Einzelheiten in sich aufnahmen.
Hätte ich mir denken können, dass es ihm auffällt, dachte Daemon, der sich mit den Händen auf dem Schreibtisch abstützte. »Jaenelle hat die Katze angeschrien.« Obwohl Jaal genauso oft bei ihnen war wie Kaelas, war allen klar, dass sich der Ausdruck »die Katze« lediglich auf die weiße Riesenwildkatze bezog, nicht auf den Tiger.
»Wenn du zu dumm bist, dich mit einem Schild zu schützen, hast du es verdient, verletzt zu werden.«
Er spürte, wie sein Temperament sich regte, leicht an den Fesseln seiner Selbstbeherrschung zerrte.
»Ich weiß, warum wir heute aus der Bibliothek geworfen worden sind.«
Daemon blinzelte. Gab sich Mühe, sich auf das neue Thema einzustellen.
»Daemonar ist noch ein kleiner Junge«, knurrte Lucivar. »Er begreift nicht, dass es sich bei den verfluchten Büchern um Kostbarkeiten handelt.«
Da war die Kränkung, die auf einmal an die Oberfläche gelangte. Und unter der Kränkung gab es noch etwas anderes. Etwas, das ihm Sorge bereitete.
»Richtig«, sagte Daemon vorsichtig. »Er ist noch ein kleiner Junge. Die Bibliothek ist kein angemessener Ort für ihn.«
»Ist kein angemessener Ort für einen ungebildeten Eyrier. Willst du das nicht damit sagen?«
Es war jemandem gelungen, Lucivar an einem der wenigen Punkte zu treffen, an denen er wirklich verletzlich war.
Daemons Temperament fuhr die Krallen aus. Er stieß sich vom Schreibtisch ab. »Wer hat dir diesen Stich versetzt?«
»Was?« Lucivar blieb abrupt stehen. Er öffnete leicht die Flügel, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Zu der hitzigen Gefühlsmischung, die das Zimmer erfüllte, gesellte sich nun auch noch Argwohn.
»Wer?« Denn wer auch immer seinem Bruder wehgetan hatte, würde in einem tiefen Grab enden – und das Miststück würde zu dem Zeitpunkt, wenn er es dort deponierte, nicht unbedingt tot sein.
»Ich bin nicht wie ihr! Ich kann nicht wie ihr sein. Weder wie der eine noch wie der andere.
Ein mentales Schlittern auf emotionalem Eis. Daemon versuchte, sein Temperament im Zaum zu halten, obgleich es am liebsten mit ihm durchgegangen wäre. Es ging also doch um ihn.
Diese Wahrheit traf ihn wie ein Messerstich mitten ins Herz.
»Nein, du bist nicht wie ich. So wenig, wie ich wie du bin.« Er kehrte an den Ebenholzschreibtisch zurück und lehnte sich dagegen, die Holzkante mit den Händen umklammernd. »Worum geht es, Lucivar? Im Bergfried warst du sauer auf mich, und du bist es immer noch. Warum?«
Verletzlich. Zerbrechlich. Er ertrug es nicht, Lucivar in diesem Zustand zu sehen.
»Ich bin nicht so gebildet wie ihr«, stieß Lucivar in Richtung Wand hervor, Daemons Blick ausweichend.
Soll ich ihn umarmen oder umbringen? »Eyrier schätzen diese Art Bildung nicht. Ich lerne aus Büchern, weil es mir Spaß macht. Abgesehen davon ist Wissen aber auch eine andere Art von Waffe.« Er hielt inne, um das Schlachtfeld und den Gegner einzuschätzen, und fügte dann hinzu: »Außerdem liest du nicht gerne.«
»Ich kann lesen.« Eine rasche, beinahe automatisch hervorgebrachte Verteidigung.
»Ich weiß, dass du lesen kannst«, versetzte Daemon trocken. »Seit unserer ersten Begegnung – oder was ich für unsere erste Begegnung hielt – habe ich dich bedrängt und drangsaliert und dein Ego verletzt, um dich zum Lernen anzuspornen. Genauso wie du mich bedrängt und drangsaliert und mein Ego verletzt hast, bis ich ein paar grundlegende Waffenfertigkeiten erlernt habe.«
Im Laufe ihrer jahrhundertelangen Versklavung waren sie immer wieder in Streit geraten, ohne zu begreifen, weshalb sie nicht anders konnten, als sich gegenseitig anzutreiben und das Wissen und die Fähigkeiten zu teilen, die sie erworben hatten. Selbst nachdem sie erfahren hatten, dass sie Brüder waren, war ihnen nicht klar gewesen, dass dieses Bedürfnis, die schwächere Seite des anderen zu beschützen, seinen Ursprung in einer Kindheit hatte, an die sie sich nicht erinnern konnten.
Lucivars Schultern lockerten sich ein wenig, und ein kurzes, aber echtes Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Du kannst lesen«, sagte Daemon, »aber das Lesen bereitet dir keine Freude. Es ist dir immer schwer gefallen. Vielleicht liegt es nicht allein an dir, Lucivar. Das eyrische Volk hat eine stark ausgeprägte mündliche Tradition, in der Geschichten überliefert werden, aber die Leute legen keinen großen Wert auf das geschriebene Wort.«
»Marian liest viel«, murmelte Lucivar. »Sie mag Bücher.«
»Dann ist es vielleicht kulturell bedingt. Lesen ist ein weiblicher Zeitvertreib, etwas, das die Männer nachsichtig verspotten können.«
»Ich verspotte nichts«, sagte Lucivar. Dann fügte er kaum hörbar hinzu: »Das würde ich niemals wagen.«
Jetzt umkreisten sie das Herzstück der Verletzung. Folglich lehnte Daemon sich einfach zurück und wartete ab. Und fühlte, wie sich Erinnerungen in ihm regten.
»Vielleicht gehört es dazu, ein eyrischer Mann zu sein«, sagte Lucivar. »So wie es normal ist, stärker zu sein und mehr Muskeln zu haben als Frauen.«
»Vielleicht.«
Lucivar holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Beinahe hätte Daemon vor Erleichterung aufgeseufzt. Sie hatten das Schlimmste ohne allzu viele Blessuren hinter sich gebracht.
Dann sah Lucivar ihm in die Augen, und die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor. »Ich will es aber für Daemonar. Die Bildung. Diese Art von Wissen. Ich will nicht, dass er sich gehemmt fühlt. Ich möchte nicht, dass er das Gefühl hat … weniger wert zu sein.«
Daemon richtete sich kerzengerade auf. Dann sog er die Luft scharf ein, weil sein Rücken schmerzte. Doch seine Stimme klang kalt, wenn auch nicht scharf genug, um zu verletzen. »Wenn du mir auf diese Weise sagen möchtest, dass du dich mir – abgesehen von meinen dunkleren Juwelen – auf irgendeine andere Art und Weise unterlegen fühlst, werde ich dich grün und blau schlagen.«
Lucivar lächelte sein träges, arrogantes Lächeln. »Versuch’s doch.«
Sie befanden sich wieder auf vertrautem Boden. Einfach so.
Und da sie sich wieder auf vertrautem Boden befanden, gestattete sich Daemon ein entnervtes Schnauben. »Ich bin nicht blind, Mistkerl. Das Lesen macht dir also keinen Spaß. Deswegen wird nicht gleich das Gebirge einstürzen.«
»Daemonar ist aus der Bibliothek ausgesperrt worden.«
Daemon warf die Hände in die Luft. »Er ist ein kleiner Junge. Im Moment interessiert ihn an den Büchern nur, dass er sie herumwerfen oder zerreißen oder anknabbern kann. Lucivar! Sein Großvater ist der Höllenfürst und der stellvertretende Bibliothekar und Geschichtsschreiber des Bergfrieds. Wenn der Junge erst einmal ein Alter erreicht hat, in dem er begreifen kann, was sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt, glaubst du dann wirklich, du kannst seinen Großvater davon abhalten, ihn in die Bibliothek zu zerren und ihm alles zu zeigen, was sie ihm zu bieten hat? Und wenn wir schon einmal dabei sind, meinst du wirklich, du kannst mich davon abhalten, Daemonar Bücher zu kaufen und Geschichten vorzulesen und ihm auf diese Weise die andere Seite seiner Ausbildung zu ermöglichen?«
Lucivar neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Die andere Seite?«
»Man steht auf einem Berg und schmeckt den Wind. So hast du mal versucht, mir das Leben als Eyrier zu erklären. Und du begreifst in dem Moment mehr von all dem, was dich umgibt, als ich je wissen werde. Ich kann Daemonar etwas über Bücher erzählen, aber du bist der Einzige, der ihm das beibringen kann.«
Lucivar ließ sich die Worte durch den Kopf gehen und nickte schließlich. Dann trat er einen Schritt zurück und wandte sich der Tür zu. »Warum genehmigen wir uns nicht den Drink, von dem wir gesprochen haben?«
»Dieses Miststück ist nun schon viele Jahrhunderte tot. Wenn du zulässt, dass sie dich weiter trifft, hast du es verdient, verletzt zu werden.«
Verdammt. Das hatte er nicht sagen wollen. Er hatte nicht vorgehabt, diese Erinnerung zu teilen. Doch er sah mit an, wie Lucivar sich ihm wieder zuwandte. Sah den Blick in den Augen seines Bruders, der nach einer Erklärung verlangte.
»Du bist noch nie gut im Lesen gewesen«, sagte Daemon. Nein. Das war kein glücklicher Anfang. »Ich habe nur wenig Erinnerungen an meine Kindheit, bevor ich bei Dorothea lebte. Den Großteil meines Lebens habe ich mich nicht an viel erinnern können. Aber jetzt geschieht es manchmal … Es ist oft mehr die Erinnerung an ein bestimmtes Gefühl, die den Rest wieder hochsteigen lässt.«
Lucivar sagte nichts, sondern nickte nur.
»Ich kann mich daran erinnern, wie es sich angefühlt hat, von Vater umarmt zu werden. Ich kann mich an seine Stimme erinnern, ihren Rhythmus, wenn er eine Geschichte vorgelesen hat.« Daemon hielt inne, um die Bilderflut zu ordnen, die auf ihn einstürmte. »Du warst nicht gut im Lesen, aber du hast eine Geschichte aufgesogen wie ein Schwamm, wenn jemand sie dir vorgelesen oder erzählt hat. Du hast dich an alle möglichen Dinge erinnern können, hast alle möglichen Dinge in der Geschichte gesehen.«
»Und vermutlich habe ich alles als Kampf interpretiert.«
»Natürlich. Du bist eyrisch.« Daemon zuckte mit den Schultern. »Es gab da eine Lehrerin. Ich entsinne mich nicht, wie sie hieß und kann mich nicht an ihr Gesicht erinnern. Ich glaube, sie hat mich unterrichtet, aber du bist auch oft da gewesen. Sie hat dich immer gepiesackt. Nicht körperlich, aber sie hat dir deutlich zu verstehen gegeben, dass du nur ihre Zeit verschwendest.
»Eines Tages hat sie uns als Hausaufgabe gegeben, eine Geschichte zu lesen. Eine Herausforderung für mich; für dich ein unmögliches Unterfangen. Sie hat es getan, damit du dich schlecht fühlst. Und dir war so elend zumute, weil du sie nicht lesen konntest.
»Du musst bis zur nächsten Stunde nach Hause gegangen sein, denn ich kann mich nicht erinnern, dass du da gewesen wärest, als Vater am Abend kam. Ich bat ihn, mir die Geschichte vorzulesen, anstatt des nächsten Kapitels meines Gutenachtbuches. Zuerst weigerte er sich, weil es meine Hausaufgabe war, und ich sie selbst lesen sollte. Ich flehte ihn an, also gab er nach und las sie mir vor. Aber als ich ihn bat, sie mir ein drittes Mal vorzulesen, wollte er wissen, warum.«
»Warum hast du ihn mehr als einmal darum gebeten?«, fragte Lucivar. »Du hättest die Geschichte gleich beim ersten Mal kapiert.«
Daemon blickte zu Boden. »Mir lag an seinem Tonfall, seinem Rhythmus, seiner Aussprache der einzelnen Wörter.« Er sah auf. »Ich wollte dir die Geschichte vor dem Unterricht vorlesen, und ich wollte sie so vorlesen, wie er sie vorlas.«
Nun blickte Lucivar zu Boden.
»Kleine Flunkereien ließ Vater uns normalerweise durchgehen, aber er ließ nicht zu, dass wir ihn belogen«, sagte Daemon. »Und er hat es immer gewusst, wenn wir es versucht haben. Also musste ich ihm sagen, warum ich die Geschichte so gut kennen lernen musste. Und ich habe ihm erzählt, dass die Lehrerin gemein zu dir war, weil du eyrisch bist und nicht so gut lesen konntest wie ich. Er hat nichts gesagt.«
Lucivar fluchte leise. »Wenn er nichts sagt, ist es am schlimmsten.«
Daemon nickte. »Er hat die Geschichte wieder und wieder gelesen, dann hat er sie mich vorlesen lassen und hat mit mir geübt, bis ich zufrieden war.«
»Ich glaube, an den Teil kann ich mich noch erinnern.« Lucivar klang, als sei ihm ein wenig unbehaglich zumute. Er starrte ins Leere. »Du hast mich vor dem Unterricht abgefangen und hast mir die Geschichte vorgelesen. Und die Lehrerin war wütend, weil ich ihre Fragen zur Handlung der Geschichte beantworten konnte.«
»Jenes letzte Mal ließ er sie zurückkommen, weil wir vorbereitet waren, ihr auf dem Schlachtfeld entgegenzutreten. Doch in der nächsten Stunde hatten wir eine andere Lehrerin.«
Sie starrten einander an. Prinz der Dunkelheit. Höllenfürst. Mittlerweile kannten sie den Mann so gut, dass keiner von beiden darüber spekulieren wollte, noch nicht einmal unter vier Augen, was der Hexe zugestoßen sein mochte, die dumm genug gewesen war, einem Kind Saetans wehzutun.
»Wie wäre es jetzt mit dem Drink, Bastard? Dann kannst du mir alles über dieses Spukhaus erzählen.«
Daemon stieß sich vom Schreibtisch ab und trat zu Lucivar an die Tür. »Hat Marian denn nichts darüber gesagt?«
»Marian war zu aufgebracht über irgendwelche Spinnweben, als dass ich mich vernünftig mit ihr hätte unterhalten können. Beim Feuer der Hölle! Wenn sie das nächste Mal derart aus der Fassung gerät, schleppe ich dich in den Horst, damit du dich mit ihr herumschlagen kannst.«
»Nimm lieber Falonar«, erwiderte Daemon. »Er hat immer noch einen Denkzettel verdient, weil er Surreals Herz gebrochen hat.«
»Kommt nicht in Frage. Marian würde sich wahrscheinlich im Zaum halten und höflich sein, weil er nicht zur Familie gehört.« Lucivar schenkte Daemon ein boshaftes Lächeln. »Ich lasse den Hurensohn einfach einen Nachmittag lang auf Daemonar aufpassen.«
Ihre Körper berührten sich kurz. Eine Schulter streifte die andere.
»Du hast etwas Niederträchtiges an dir, Bruder«, sagte Daemon und öffnete die Tür. »Das gefällt mir.«
004
Lucivar schlüpfte ins Bett und kuschelte sich an Marian. Er war entspannter, als er den gesamten Tag über gewesen war. Betrunken war er nicht. Ganz und gar nicht. Doch er hoffte dennoch, dass ihr der Sinn nicht nach mehr als ein wenig Kuscheln stand.
Marian rührte sich. Gab ein schläfriges Seufzen von sich. »Du bist zu Hause.«
Er streifte ihre Wange mit den Lippen. »Ja. Es ist spät, mein Schatz. Schlaf jetzt.«
Sie bewegte sich ein wenig und schmiegte sich enger an ihn. »Dein Vater ist vorbeigekommen, kurz nachdem du weggegangen bist.«
So viel zum Thema Zufriedenheit. »Warum?«
»Ich glaube, er wollte mit dir sprechen, aber es hat ihn nicht überrascht, dass du zur Burg aufgebrochen warst, um Daemon zu besuchen.«
Hätte er damit rechnen sollen, dass Saetan auftauchen würde? Vielleicht. Aber es gab Dinge, die er einem Bruder anvertrauen konnte, den er seit Jahrhunderten kannte, nicht aber einem Vater, dessen Bekanntschaft er erst vor neun Jahren gemacht hatte.
»Saetan hat Daemonar den ganzen Abend lang Geschichten vorgelesen. Er hat eine wunderbare Erzählstimme. Ich glaube, sie haben beinahe jedes Märchenbuch durchgelesen, das wir besitzen. Auf der Hälfte des letzten Bandes ist Daemonar eingeschlafen.«
Lucivar lächelte. »Das hat dir also eine kleine Verschnaufpause verschafft.«
Ihre Atmung veränderte sich, und ihr Körper war nicht länger schläfrig, sondern hellwach.
»Bevor er aufgebrochen ist, hat er etwas Interessantes gesagt.«
»Er sagt die ganze Zeit über interessante Dinge.«
Keinerlei Belustigung. Aber ihr Körper zeigte ihm, dass sie nicht wütend war, und dass er sich keine Sorgen machen musste. Doch er wünschte sich, es wäre ein wenig heller in dem Zimmer, damit er ihr Gesicht sehen könnte.
»Er hat gesagt, Kinder seien nicht die Einzigen, die gerne einer Geschichte lauschen.«
Er verspannte sich. Konnte die Reaktion seines Körpers auf diese Worte nicht unterbinden. Sein Vater mochte interessante Dinge sagen, aber manchmal redete der Mann verdammt noch mal zu viel!
»Niemand in meiner Familie hat Wert auf das Lesen gelegt«, sagte Marian. »Selbst wenn ich mir ein Buch als Geschenk gewünscht habe, wurde es als hinausgeworfenes Geld betrachtet. Deshalb war ich erleichtert, dass du so nachsichtig bist und mich Bücher kaufen lässt und mir gestattest, am Abend meine Zeit lesend zu verbringen.«
»Ich bin nicht nachsichtig«, meinte er grollend. Neidisch manchmal, weil Tintenkleckse auf einer Seite ihr so viel Vergnügen bereiteten; aber nicht nachsichtig. »Es ist dein Geld und deine Zeit. Du kannst mit beidem machen, was du willst.«
»Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass es dir Freude bereiten könnte, diese Geschichten zu teilen.«
Eine Woge der Scham strich über ihn hinweg. Und eine gesunde Portion Überlebenswillen, denn er wusste, dass Daemon oder Saetan sich auf ihn stürzen würden, wenn sie sich dieses Gefühls bewusst wären – oder bewusster, als sie es ohnehin schon waren.
»Er hat vorgeschlagen, einen Familienleseabend einzuführen, einmal pro Woche. Nur wir – du, ich, Jaenelle, Daemon und er. Und Surreal auch, wenn sie Interesse hat.«
Er bewegte sich. Na gut: Er wand sich. »Ihr braucht das nicht zu tun. Ihr habt die in Frage kommenden Bücher bestimmt schon gelesen.«
»Nicht, wenn wir neue Geschichte aussuchen. Und im Winter, wenn es zu kalt ist, um viel zu tun, könnte ich vielleicht ein paar Geschichten mit dir teilen, die mir gefallen haben. Aber nicht die Liebesromane. Ich könnte dir nicht die …«
»Die …?«
»Ich könnte dir diese Stellen nicht vorlesen.«
»Vielleicht könnte ich diese Stellen ja selbst lesen.« Wenigstens gäbe es dabei einen Anreiz.
»Komm bloß nicht auf dumme Gedanken. Es ist schon spät.«
»Sehr wohl, Lady«, erwiderte er kichernd.
Er zog die Decke über sie beide und schmiegte sich schützend an Marian.
»Lucivar?«
»Hmm?«
»Ich hätte Lust auf diesen Geschichtenabend. Es wäre ein solches Vergnügen.«
»Ich werde mit Daemon darüber sprechen.« Und der würde sich mit Begeisterung auf die Idee stürzen. Die Entscheidung war also bereits getroffen.
Beim Einschlafen dachte er darüber nach, dass sein Vater hergekommen war, um mit ihm zu sprechen und Daemonar vorzulesen.
Nein, er war noch nicht sehr viele Jahre mit Saetan wiedervereint, aber der Mann verstand seine Kinder durchaus.
Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
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