Kapitel 8
 
 
 
Lucivar stützte sich mit den Ellbogen auf dem Küchentisch ab, hielt sich den Kopf mit beiden Händen – und drückte zu.
Was war bloß mit den Rihlanern los, dass sie unbedingt alles auf Papier festhalten mussten? Und warum bekam ausgerechnet er diesen Mist geschickt? Wenn Jhinka ein Dorf in Ebon Rih – oder sonst einem Teil von Askavi – angriffen, wollte er es erfahren, weil er sich dann in den Blutrausch begeben würde, um sich der Sache anzunehmen. Aber wozu im Namen der Hölle brauchte er fünf eng beschriebene Seiten vom Haushofmeister irgendeiner Königin, die ihn davon in Kenntnis setzen sollten, dass alles in Ordnung war? Und wenn er sich schon durch diesen Wortsalat kämpfen musste, warum konnte der Narr, der ihn fabriziert hatte, nicht wenigstens die Höflichkeit besitzen, leserlich zu schreiben?
Der Dunkelheit sei Dank, dass Daemon sich um die gesamten Familiengeschäfte kümmerte. Aus Gründen, die ihm immer schleierhaft gewesen waren, mochte Daemon Papierkram.
Es machte ihm nichts aus, sich zweimal im Monat zu treffen, um den Zustand der Besitzungen und das Kapital der Familie SaDiablo zu besprechen. Diese Treffen waren notwendig, und das dhemlanische Anwesen, das Teil seines Erbes war, und die Menschen, die auf dem Land arbeiteten, lagen in seinem Verantwortungsbereich. Doch Daemon ließ ihn nicht stapelweise verfluchte Papiere lesen, nur um ihn wissen zu lassen, alles sei in Ordnung.
Normalerweise verglich er die Schreibarbeit, die für den Kriegerprinzen von Ebon Rih anfiel, mit einem angestoßenen Zeh: Man biss einfach die Zähne zusammen und bahnte sich humpelnd einen Weg. Doch heute regnete es, Marian war nicht da, und Daemonar und ein Wolfsjunges vertrieben sich die Zeit damit, indem sie im Zimmer nebenan viel Lärm verursachten. Im Sommer hätte er dem Jungen die Kleider ausgezogen und hätte die beiden aus dem Haus geworfen, wobei er sich gedacht hätte, dass ein bisschen Wasser den beiden gewiss nicht schaden konnte – solange es ihm gelang, den Jungen und den Welpen sauber und trocken zu bekommen, bevor ihre Mütter heimkehrten. Doch es war ein kühler Herbsttag und ein kalter Regen fiel. Ihm blieb also nichts übrig als die Schreibarbeit und den Lärm zu ertragen und …
Klopf, klopf, klopf.
»Ich mach auf!«, rief Daemonar, erhob sich in Windeseile und rannte auf die Tür zu. »Ich mach auf!«
Aber sicher doch, Junge, dachte Lucivar, während er sich vom Küchentisch abstieß. Sobald du groß genug bist, um den Riegel zu erreichen – und die zusätzlichen Schlösser.
Er machte sich das Leben einfacher, indem er den Jungen und den Welpen mit einem Schutzschild umgab, das sie davon abhielt, durch die Tür zu stürmen, sobald er sie öffnete.
Der dhemlanische Jüngling an der Tür war ein Krieger, der Aquamarin. Er war in eine Botenuniform gekleidet.
»Ich habe eine Eilzustellung für Prinz Lucivar Yaslana«, sagte der Krieger und hielt einen cremefarbenen Briefumschlag empor.
Als Lucivar nach dem Umschlag griff, erschuf er mithilfe der Kunst einen hautengen roten Schutzschild um seine Hand und seinen Unterarm. Einen Schild zu erschaffen, bevor er etwas von einem Fremden entgegennahm, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Dass der Krieger die Augen aufriss, verriet ihm, dass es dem Jungen jedoch nicht in Fleisch und Blut übergegangen war.
»Du erschaffst keinen Schutzschild, bevor du etwas von jemandem in Empfang nimmst, den du nicht kennst?«
»Es sind doch bloß Briefe!«
»Und bei Paketen?«
»Manchmal.«
Lucivar starrte ihn an.
»Es würde die Kraft meiner Juwelen ziemlich schnell erschöpfen, wenn ich bei jeder Sendung einen Schild erschaffe«, protestierte der Krieger. »Abgesehen davon wird alles an den Briefstationen überprüft, bevor man uns die Bündel übergibt, die wir ausliefern sollen.«
Lucivar starrte ihn einfach nur weiter an.
Auf der Stirn des Kriegers bildeten sich Schweißperlen.
»Erstens«, sagte Lucivar, »erfordert es nur sehr wenig Kraft, um einen Schild aufrechtzuerhalten, nachdem man ihn einmal erschaffen hat – außer die Kraft verbraucht sich, weil etwas den Schild angreift. Zweitens siehst du alt genug aus, um der Dunkelheit dein Opfer dargebracht zu haben. Es besteht also kein Grund, weswegen du nicht dein Geburtsjuwel verwenden solltest, um dich zu schützen, während du die Kräfte deines Aquamarinjuwels anzapfst, um auf den Winden dieser Farbe zu reisen und deine Botschaften so schnell wie möglich abzuliefern. Drittens, selbst wenn du glaubst, die Gefahr sei nur sehr gering, zeugt es von dümmlicher Arroganz, ohne Schutzschild unbekannte Gefilde zu betreten – und das ist keine Arroganz, die ich in meinem Herrschaftsgebiet dulden werde.« Er starrte den Krieger unverwandt an und wartete ab.
»Dann sollten sich also sämtliche Boten, die nach Ebon Rih kommen, mit einem Schutzschild versehen, bevor sie die Briefe entgegennehmen?«, fragte der Krieger nach einer Weile.
»Richtig. Und wenn man achselzuckend darüber hinweggehen sollte, werde ich jemandem in den Hintern treten – und ich werde dabei nicht wählerisch sein. Vergiss auf keinen Fall, diese Botschaft an denjenigen zu überbringen, der das Sagen in der Briefstation hat.«
»Sehr wohl, Prinz.«
Dem Krieger gelang es, sich so weit zu beherrschen, dass er steifbeinig den Hof überqueren konnte. Dann stürmte er Hals über Kopf die Treppenstufen zu dem Landeplatz hinunter, von dem aus er auf den Aquamarinwind aufspringen und Ebon Rih fluchtartig verlassen konnte.
Lucivar schloss die Tür und sperrte ab, bevor er Daemonar und das Wolfsjunge aus dem Schutzschild entließ. Anschließend ging er in die Küche zurück, wobei er murmelte: »Keine Schilde? Was bringen sie diesen Jungs bloß bei?« Da der Bote aus Dhemlan gekommen war, würde er mit Daemon darüber sprechen müssen. Nein, er würde ihm einen Brief schreiben. Daemon würde begreifen, wie viel Mühe ihn das gekostet hatte, und das wiederum würde garantieren, dass die Botschaft die ganze Aufmerksamkeit seines Bruders erhielt.
Sieh dir das nur einmal an, dachte Lucivar, während er den Umschlag öffnete. Da ich nun sesshaft und gesellschaftsfähig geworden bin, jedenfalls mehr oder weniger, kann ich ein noch größerer Mistkerl sein als früher, ohne auch nur mein Zuhause verlassen zu müssen.
Er warf einen Blick auf Daemonar und den Welpen, die dicht beieinandersaßen und sich still verhielten. Die Stille würde nur ein paar Minuten andauern, also zog er das schwere Papier aus dem Briefumschlag und warf den Umschlag auf die anderen Papiere, die bereits auf dem Küchentisch ausgebreitet lagen. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit dem Inhalt des Briefes.
»Deine Gegenwart wird zu einem privaten Rundgang durch das Spukhaus erbeten«, las er laut. Eine Einladung von Jaenelle und Marian. Mehr als eine Einladung. »Deine Gegenwart wird erbeten« war eine Formulierung, die im Protokoll vorkam, und die sanften Worte änderten nichts an der Tatsache, dass es sich im Grunde um einen Befehl handelte. Besonders wenn die Worte von seiner Königin und seiner Ehefrau kamen. Doch …
Lucivar drehte sich um, um auf die Uhr am anderen Ende der Küchenanrichte zu blicken.
»Beim Feuer der Hölle, Marian«, murmelte er. »Du hast mir nicht viel Zeit gelassen, jemanden zu finden, der auf das kleine Ungeheuer aufpasst und ein Dorf mitten in Dhemlan zu erreichen.«
Er las die Einladung noch einmal durch, und die Beleidigung, die in den Wörtern mitschwang, ließ ihn in Zorn geraten. Er war ein Kriegerprinz, und er war der Herrscher von Ebon Rih. Und diese... Einladung... hatte trotz der formellen und korrekten Formulierung einen Beigeschmack von Sklave.
Es war egoistisch, ihm diesen verdammten Fetzen Papier zu schicken; besonders zumal Marian ihm gestern von der Besichtigung hätte erzählen können, damit er nicht auf Befehl springen und herumhetzen musste, um jemanden zu suchen, der sich um den Jungen kümmerte. Hätte es sich um irgendjemand anderen als Marian und Jaenelle gehandelt, hätte er dieser Person gründlich die Meinung gesagt. Und vielleicht würde er das auch noch tun, auch wenn es sich bei der einen Frau um seine Gattin und bei der anderen um seine Schwester handelte.
Und genau das, verdammt noch mal, blieb ihm beinahe in der Kehle stecken. Jaenelle und Marian stammten beide ursprünglich aus Terreille, aber sie hatten sich nie zuvor wie die Luder verhalten, die in jenem Reich lebten. Bis jetzt.
Er schloss die Augen und zwang sich, ganz langsam und tief durchzuatmen. Ein Mann ließ sich bei seinen Entscheidungen nicht von einer Beleidigung lenken, die sich in Worten versteckte. Ein Mann ließ sich bei seinen Entscheidungen von seiner Ehre lenken – und vom Protokoll. Deshalb würde er den Befehl befolgen, auch wenn es in ihm gärte. Er würde seine Frau nicht enttäuschen, und er würde sich seiner Königin nicht widersetzen. Doch …
Er hatte das Spukhaus noch nicht zu Gesicht bekommen – die Ladys hatten darauf bestanden, dass Daemon und er das Haus erst sähen, wenn es fertig war – folglich wusste er nicht genau, wo sich das verdammte Dorf befand.
Zuerst einmal das Dringendste erledigen. Er musste jemanden finden, der …
Das Wolfsjunge winselte auf. Daemonar jaulte.
Lucivar schlug die Augen auf und schleuderte die Einladung in Richtung der Anrichte, während er sich aufmachte, Junge und Welpe voneinander zu trennen. Doch noch bevor er diesen ersten Schritt getan hatte, wusste er, dass es sich nicht um eine der gewöhnlichen Rangeleien zwischen dem Jungen und dem Welpen handelte. Binnen der Augenblicke, die er nicht aufgepasst hatte, hatte sich mehr ereignet, denn Daemonar hatte von echtem Zorn gepackt die Faust erhoben, und der Welpe hatte die Zähne gefletscht, und es war klar, dass beides kein leeres Drohgebaren war.
Angesichts dieser bevorstehenden Katastrophe gab Lucivar ein Geräusch von sich, das durch den Horst donnerte – das unverwässerte Urgebrüll eines wütenden erwachsenen, eyrischen Mannes.
Alle drei versteiften sich.
Als Lucivar den Jungen und den Welpen anstarrte, die wiederum ihn anstarrten, dachte er: Mutter der Nacht! Ich klinge wie mein Vater!
Der Gedanke brach etwas in seinem Innern los, wie ein Stein, der eine Lawine auslöst. Er spürte die Kaskade, spürte den Druck des Sturmes auf seiner Haut, in seinen Knochen. Es war nicht abzusehen, was da herannahte und wie lange er es zurückhalten konnte. Doch die Kinder kamen natürlich an erster Stelle.
Deshalb setzte er sich in Bewegung und nahm Daemonar auf einen Arm, den Welpen auf den anderen. Er ließ die Papiere auf dem Küchentisch verschwinden und setzte den Jungen und den Welpen ab – und sah sich dem nächsten Problem gegenüber, während er die ganze Zeit über den Sturm krampfhaft unterdrückte.
Er war allein, sie hingegen waren zu zweit – und es galt eine gefährliche Erkenntnis zu verhindern, die sich bis in ihr Knochenmark fressen würde und noch lange nachdem die eigentliche Erinnerung verschwunden war, vorhanden wäre. Um wen auch immer er sich zuerst kümmerte, das andere »Kind« würde immer wissen, dass es nicht so wichtig war, weniger Bedeutung hatte. Und zwischen dem Jungen und den Wölfen hätte sich für immer etwas geändert.
Also untersuchte er mit der einen Hand den Welpen und stieß auf eine wunde Stelle, die von einem Tritt herrühren konnte, während er mit der anderen Hand dem Jungen den Strumpf herunterzog. Der Welpe hatte Daemonar so fest gebissen, dass die Haut an der Knöchelinnenseite aufgerissen war. Lucivar strich mit dem Daumen über den Kratzer, um das Blut wegzuwischen, bevor es Daemonar auffiel.
»Es ist alles in Ordnung mit euch«, sagte er in der Hoffnung, besänftigend auf sie einzureden. Allerdings gelang es ihm nicht, den wilden Zorn ganz aus seiner Stimme zu tilgen. »Nichts verletzt, nichts gebrochen.« Und keiner von beiden schlimmer verwundet als der andere. Der Dunkelheit sei Dank!
Er hielt sie beide fest gepackt und hörte mit den Besänftigungsversuchen auf. »Es ist mir egal, was ihr getan habt. Es ist mir egal, wer angefangen hat. Wenn das hier noch einmal vorkommen sollte, dürft ihr nicht mehr miteinander spielen.«
Der Welpe winselte, und Daemonar schob eine zitternde Unterlippe vor.
Als Lucivar das Kratzen von Krallen auf dem Steinboden hörte, drehte er den Kopf und erblickte Tassle, der im Türrahmen stand. Mithilfe einer leichten mentalen Berührung zeigte er dem Wolf die Erinnerung an das, was soeben vorgefallen war.
Tassle fletschte die Zähne und knurrte beide Kinder an.
»Hier«, sagte Lucivar und setzte den Welpen auf den Boden. »Warum kümmerst du dich heute Nachmittag nicht um deinen Nachwuchs, und ich sehe zu, dass ich mit meinem fertig werde?«
Wenigstens hoffte er, dass er sich um seinen Sohn kümmern können würde. Er hoffte, der Gefühlssturm, den jenes Geräusch hervorgerufen hatte, würde ihn nicht außer Gefecht setzen.
Tassle packte seinen Welpen im Genick und marschierte von dannen.
Lucivar betrachtete die Spur von Welpenurin, die er wegwischen musste, dann sah er seinen Sohn an, dem jetzt die Tränen in den Augen standen. Mit einem Seufzen hob er Daemonar hoch und strich dem Jungen beruhigend über den Rücken.
»Will Mama«, schniefte Daemonar. »Will Mama jetzt.«
»Ich auch, mein Junge. Ich auch.«
Er brachte Daemonar in den Salon und ließ sich im Schaukelstuhl nieder. Das Schaukeln und der Beruhigungszauber, mit dem er den Jungen belegte, führten dazu, dass Daemonar binnen kurzer Zeit fest eingeschlafen war.
Sobald sich Lucivar sicher war, dass der Junge nicht aufwachen würde, rief er eine Flasche mit einer Salbe herbei, die Jaenelle für »Alltagswehwehchen« hergestellt hatte, und rieb den Kratzer damit ein, um die Wunde zu reinigen. Gleichzeitig bediente er sich einfacher Heilkunst, um »alles wieder gut zu machen.«
Dann ließ er die Flasche verschwinden, schaukelte seinen Sohn … und widmete sich dem Sturm, der in seinem Innern tobte.
Es war keine Erinnerung. Nicht wirklich. Mehr als würde man ein Gefühl erneut durchleben. Er wusste nicht, wo oder wann, aber er war noch klein. Älter als Daemonar jetzt war, aber nicht viel älter. Er steckte in dem kleinen Jungenkörper, saß auf einer Bank, ganz in sich zusammengesunken, während das Echo jenes Geräusches gegen seine Haut drückte, auf seine Knochen. Sich in sein Herz rammte.
Die Stimme seines Vaters. Aber das Geräusch hatte etwas Schreckliches an sich gehabt.
Todesqualen hatten darin mitgeschwungen.
Seine Schuld. Er konnte sich nicht erinnern, warum, aber dessen war er sich sicher.
Prothvar würde Bescheid wissen.
Der Gedanke trieb ihm die Tränen in die Augen. Er blinzelte sie zurück.
Prothvar war mittlerweile tot. Wirklich tot. Er war vor über fünfzigtausend Jahren im Blutrausch ums Leben gekommen, im Krieg zwischen Terreille und Kaeleer, aber gemeinsam mit Andulvar und Mephis war er einer der Dämonentoten gewesen, die das Schattenreich weiterhin beschützt hatten. In gewisser Hinsicht war der Krieg, dem Jaenelle letztes Jahr ein Ende gesetzt hatte, ohnehin nur eine Fortführung des ersten Krieges gewesen, da Hekatah hinter beiden Konflikten gesteckt hatte.
Als Prothvar sein Dasein für Jaenelles Netze aufgegeben hatte, um die Angehörigen des Blutes davor zu schützen, wenn Jaenelle ihre gesamte Macht entfesselte, war er in gewisser Hinsicht auf das letzte Schlachtfeld jenes alten Krieges getreten.
Prothvar war also mittlerweile tot. Wirklich tot. Andulvar und Mephis ebenso.
Was immer an dem Tag geschehen sein mochte, als er seinen Vater dazu veranlasst hatte, jenes donnernde Geräusch von sich zu geben, hatte sein Leben verändert, hatte ihn verändert. Dessen war er sich sicher. Jetzt musste er herausfinden, warum.
Es gab nur einen einzigen Menschen, den er fragen konnte.
Er schloss die Augen – und spürte, wie ihm eine einzelne Träne das Gesicht hinunterrann. Er wusste nicht recht, ob die Träne dem Jungen galt, der er einst gewesen war, oder den Familienangehörigen, die tot waren.
Während er seinen Sohn wiegte, überkam ihn das Gewicht jener alten Erinnerung, die nur aus einem Gefühl bestand – und erdrückte alles andere.
012
Surreal zog Rainier bei seiner Ankunft augenblicklich in den Salon des Stadthauses.
»Hast du auch so eine gekriegt?«, fragte sie und hielt ihm eine cremefarbene Einladung entgegen.
»Nein«, erwiderte er, nachdem er sie gelesen hatte.
Sein nachdenkliches Stirnrunzeln entging ihr nicht. »Was?«
»Nun ja, Jaenelle und Marian wissen beide, dass jeder, den sie zu dem Rundgang in dem Spukhaus einladen, kommen wird – besonders sämtliche Familienmitglieder. Warum das Ganze also wie eine Art Gehorsamsprüfung aufziehen?« Er musterte ihre absichtlich ausdruckslose Miene. »Königinnen – besonders junge Königinnen – unterziehen gelegentlich ihren Ersten Kreis einer Prüfung, indem sie Forderungen stellen, die zwar nicht schädlich sind, andererseits aber auch nicht sehr rücksichtsvoll formuliert. Der Wortlaut der Einladung macht einen Teilnahmebefehl daraus, und da die Besichtigung heute Abend stattfindet, wird von dir erwartet, dass du jegliche Pläne oder Verpflichtungen über den Haufen wirfst, die du vorher vielleicht hattest, und dem Befehl Folge leistest.«
»Vielleicht wollten sie sichergehen, dass die Einladungen nicht ignoriert werden.«
»Vielleicht.« Doch Rainier wirkte nicht wirklich überzeugt.
Die Sache klang nicht nach Jaenelle oder Marian, aber vielleicht waren sie nervös geworden, was die Besichtigung des Spukhauses betraf, und hatten sich keine Gedanken über die Formulierung der Einladungen gemacht.
Surreal steckte sich das Haar hinter die spitz zulaufenden Ohren. »Egal. Uns bleibt nicht viel Zeit, also habe ich um eine schnelle Mahlzeit gebeten. In ein paar Minuten essen wir. Ich werde mich inzwischen umziehen. Du sprichst mit Helton und findest heraus, wo sich dieses Dorf befindet.«
»Surreal.« Rainier sah peinlich berührt aus. »Ich bin nicht eingeladen.«
»Hast du mir nicht erst kürzlich weismachen wollen, du würdest mir als offizieller Begleiter zur Verfügung stehen, wann immer ich einen brauche?«
»Ja, das habe ich gesagt.«
»Dann ist es also abgemacht. Ich werde mich umziehen, und du findest heraus, wie wir zu dem Spukhaus kommen.«
Er lächelte sie an, als er die Salontür öffnete. Sie erwiderte das Lächeln im Vorübergehen. Dann rannte sie die Treppe hinauf. Doch vor ihrem Schlafzimmer hielt sie kurz inne. Rainiers Bemerkung, dass der Wortlaut der Einladung nach einer Prüfung klang, ging ihr nicht aus dem Kopf – besonders da die Einladung nur ein paar Minuten vor ihm eingetroffen war, sodass kaum Zeit für ein rasches Essen blieb, bevor sie aufbrechen mussten.
Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete ihr der Umstand, dass sie erst neulich von jemandem gehört oder gelesen hatte, dem eine ähnliche Prüfung gestellt worden war, aber sie konnte sich nicht entsinnen, wer das gewesen war – oder warum.
013
Der Horst lag ruhig da. Viel zu ruhig. Außerdem brannte keine einzige Lampe oder Kerze, obwohl der Regen und die Wolken die Nacht hier in Ebon Rih früher als gewöhnlich hatten einbrechen lassen.
Marian ließ die Eingangstür offen, nahm ihren Umhang ab und hängte ihn an den Kleiderständer. Mithilfe der Kunst schuf sie eine kleine Kugel Hexenlicht, die sie mitten in das Zimmer hineinwarf. Dann rief sie das Jagdmesser herbei, das Lucivar ihr gegeben hatte. Sie hantierte die ganze Zeit in der Küche mit Messern; aus diesem Grund hatte er entschieden, dass es praktisch wäre, wenn sie ein Messer als Waffe bei sich trüge.
Es fühlte sich anders an – weil es für einen anderen Zweck bestimmt war. Doch das konnte sie akzeptieren. Ja, sie hatte es sogar bereitwillig angenommen. Sie war nicht mehr die furchtsame Haushexe, die sie bei ihrer Ankunft in Kaeleer gewesen war, und konnte – und würde – das Messer einsetzen, um ihre Familie zu beschützen.
Mithilfe der Kunst ließ Marian das Hexenlicht vor sich her schweben und schlich auf die Küche zu. Dann blieb sie stehen. Schnüffelte. Senkte das Hexenlicht näher an den Fußboden und musterte die verräterischen Flecken getrockneten Urins, die nicht weggewischt worden waren. Sie hob die Hand und ließ die Kerzen in der Lampe auf dem Küchentisch aufflammen.
Der weiche Schein der Lampe erfüllte die Küche.
Nichts war in Unordnung.
Sie ging weiter durch den Horst, vorbei an dem Zimmer, in dem Lucivar sich seinen Geschäften als Prinz von Ebon Rih widmete, und auf den Familientrakt zu.
Und dann stieß sie in dem Zimmer, das ihnen als Familiensalon diente, auf ihren Ehemann und Sohn – ein Zimmer, das für Erwachsene gemütlich war, gleichzeitig aber auch dem wilden Herumtoben eins kleinen eyrischen Jungen standhalten konnte. Lucivar saß in dem Schaukelstuhl. Daemonar lag auf seinem Schoß. Beide schliefen fest.
Marian betrachtete den Türrahmen. Sie konnte ein ganz leichtes Vorhandensein von Macht spüren. Der Schutzschild um das Zimmer würde Lucivar warnen, sobald jemand oder etwas die Türschwelle überquerte. Und sobald das passierte, noch bevor er ganz wach war oder die Augen aufgeschlagen hatte, wäre er angriffsbereit.
*Lucivar*, rief sie sanft an einem mentalen Faden entlang.
Sein Atem ging anders und verriet ihr, dass er wach war und bei vollem Bewusstsein. Er öffnete die Augen nicht, doch er ließ den Schild sinken, sodass sie das Zimmer betreten konnte.
Sie ging in das Zimmer, rief die Kugel Hexenlicht zurück zu ihrer Hand und legte sie dann in eine Schale aus farbigem Glas, die auf einem Tisch in der Nähe der Tür stand.
Als sie das Zimmer durchquerte, schlug Lucivar die Augen auf. Einen Moment lang war da verblüffter Ärger zu sehen, als sei er aus irgendeinem Grund wütend auf sie gewesen, könne sich jetzt aber nicht mehr entsinnen, weshalb. Dann sah er ihre rechte Hand an – und lächelte.
Verwirrt über seine Heiterkeit, blickte sie nach unten.
»Es ist dunkel und still gewesen«, sagte sie mit einem Schnauben, während sie das Jagdmesser verschwinden ließ.
Lucivars Lächeln wurde breiter. »Hast du Angst um mich gehabt, mein Schatz?«
»Vielleicht.« Sie beugte sich hinab, legte ihm eine Hand auf die Schulter, während sie mit der anderen leicht den Kopf ihres Sohnes berührte, und gab Lucivar einen zärtlichen Kuss. »Sollte ich fragen, wieso ihr beiden so müde seid, dass ihr um diese Zeit schlaft?«
»Du willst es nicht wissen.«
Sie glaubte ihm aufs Wort.
Lucivar wandte den Kopf und sah aus dem Fenster. »Die Sonne ist untergegangen.«
»Das ist sie, ja.«
Er blickte auf Daemonar hinab. »Sollen wir ihn aufwecken, damit er erst später schläft, oder ihn einfach ins Bett bringen und akzeptieren, dass der morgige Tag sehr, sehr früh beginnen wird?«
»Bist du in der Verfassung, mit ihm fertig zu werden?«
»Nein.« Es klang wie ein Stöhnen. »Außerdem muss ich zum Bergfried fliegen und mit dem Höllenfürsten sprechen.«
»Dann lass ihn uns zu Bett bringen. Ich habe in der Taverne vorbeigeschaut und habe uns Abendbrot mitgebracht. Wir können essen, wenn du zurückkommst.«
Lucivar verlagerte Daemonar und erhob sich. »Schön.« Als sie den Türrahmen erreichten, blieb er stehen.
»Was?«, erkundigte sich Marian.
Lucivar starrte ins Leere. »Keine Ahnung. Bloß … Es ist ein ereignisreicher Nachmittag gewesen, und ich habe das Gefühl, dass ich etwas vergessen habe.«
014
Lucivar betrat den kleinen Salon im Bergfried und schätzte binnen weniger Sekunden die Situation ein. Die Vorhänge waren zugezogen. Ein loderndes Feuer brannte im Kamin, und reichlich Holz lag in dem kupfernen Korb. Alles war behaglich für eine kalte, verregnete Nacht hergerichtet. Sein Vater trug einen wollenen Morgenrock über Hemd und Hose und Haus- anstatt von Straßenschuhen. Sein Haar war sauber, sah aber aus, als sei es nicht mit einer Bürste, sondern mit den Fingern gekämmt worden.
Nicht ungepflegt, entschied er. Lediglich bequem.
»Ich habe keinen Besuch erwartet«, sagte Saetan trocken.
Lucivar zuckte mit den Schultern und beäugte dann das Buch in Saetans Schoß. »Wird Marian dieses Buch lesen wollen?«
»Wahrscheinlich.«
»Pfff.«
Das Geräusch brachte Saetan zum Lächeln, als er das Buch zuklappte und auf einen Tisch neben ein Tablett legte, auf dem sich eine Karaffe mit Yarbarah, eine Karaffe Brandy und zwei Rabenglasbecher befanden. »Wenn du mit einer Frau zusammenleben möchtest, musst du auf den Strömungen ihrer Launen reiten, mein Junge.«
Lucivar hob einen hölzernen Stuhl hoch, der an der Wand stand und brachte ihn dorthin, wo Saetan saß. Dann setzte er sich rittlings darauf, die Arme auf die Rückenlehne gestützt. »Wir haben mittlerweile einen Code. Wenn Marian vermutet, dass die Geschichte sie zum Weinen bringen wird, legt sie einen polierten Stein auf den Tisch neben ihren Sessel. Wenn ich den Stein sehe, soll ich sie weinen lassen, ohne mich groß um sie zu kümmern.«
»Du erträgst es sicher nicht, im Zimmer zu bleiben, wenn das passiert, oder?«
»Nein.«
Eine lange Pause entstand. Dann sagte Saetan: »Was beschäftigt dich, Lucivar?«
Er erzählte Saetan von Daemonar und dem Wolfsjungen – und sah Wachsamkeit in den Augen seines Vaters auflodern.
»Ich kann mich nicht an dich erinnern«, sagte Lucivar, der das Gefühl hatte, vorsichtig sein zu müssen. »Ich kann mich nicht an die frühen Jahre erinnern, in denen du da gewesen bist. Daemon kann sich an etwas mehr erinnern, glaube ich, und wenn er mir von etwas erzählt, kann ich manchmal die restlichen Lücken füllen, wie bei einer Geschichte, die ich vor langer Zeit gehört habe.« Er hielt inne. »Ich kann mich nicht an dich erinnern, aber ich erinnere mich an dieses Geräusch. Obwohl ich es gewesen bin, der es heute Nachmittag ausgestoßen hat, und es nicht das Gleiche gewesen ist, nicht wirklich jedenfalls, habe ich die Erinnerung an jenes Geräusch gespürt, das gegen meine Haut drückte und auf meinen Knochen lastete. Es ist mehr als das gewöhnliche Gebrüll, das einen Jungen davon abhalten soll, eine Dummheit zu begehen.«
Keine Antwort. Nur ein heftiger – und sichtbarer – Versuch, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren.
»Komm schon«, sagte Lucivar. »Du hast uns schon etliche Geschichten aus der Zeit erzählt, als Daemon und ich noch klein waren.«
Immer noch keine Antwort. Dann fragte Saetan eine Spur zu sanft: »Und diese Geschichte musst du unbedingt auch noch in Erfahrung bringen?«
Oh, die Formulierung gefiel ihm ganz und gar nicht, und er konnte die Warnung heraushören, aber er nickte trotzdem. »Ja. Ich muss.«
Saetan drehte den Kopf zur Seite und starrte ins Feuer. Lucivar wartete.
»Schon als kleiner Junge bist du ein ausgezeichneter Krieger gewesen«, sagte Saetan, den Blick immer noch auf das Feuer gerichtet. »Andulvar sagte, du seiest der Beste, den er je zu Gesicht bekommen hätte, und wenn du heranwachsen und die zu deinen Instinkten passende körperliche Kraft haben würdest, könntest du alles überwinden, das sich dir in den Weg stellt.«
Das war ein großes Kompliment, zumal es vom Dämonenprinzen kam. Doch es gab mehr als die eine Art des Kampfes, und Andulvar hatte nie in Daemons Augen geblickt, wenn der Sadist eiskalt geworden war. Hätte er es getan, dann hätte er gewusst, dass es einen Menschen gab, gegen den nicht einmal ein schwarzgrauer eyrischer Kriegerprinz antreten und es überleben konnte.
»Du und Daemon …« Saetan strich sich mit einem Finger über die Stirn, während sich sein Mund zu einem grimmigen Lächeln verzog. »Selbst als ihr noch so jung wart, habt ihr die Schwächen des jeweils anderen erkannt – oder was ihr für Schwächen gehalten habt – und ihr habt daran gearbeitet. In deinem Fall sind es die Worte gewesen. In seinem … Mutter der Nacht, Lucivar. Es hat Zeiten gegeben, da wusste ich nicht recht, ob ich mich scheckig lachen oder euch beiden die Hälse umdrehen sollte. Du hast versucht, ihm das Kämpfen beizubringen. Und auf beiden Seiten gab es so viel Frustration, weil ihr nicht begriffen habt, warum dein Bruder nicht so mit den Waffen umgehen konnte wie du.«
»Es widerstrebt ihm mittlerweile nicht mehr so sehr, diese Seite des Kampfes zu erlernen«, sagte Lucivar. Allerdings war Daemons Hauptmotivation beim Erlernen einiger Schlagfolgen mit den eyrischen Stangen der Umstand, dass Jaenelle einen Partner benötigte, mit dem sie jeden Tag üben konnte, um weiterhin ihre Kraft und ihre Muskulatur wieder aufzubauen. Und von den Übungsstangen war es nur ein kleiner Schritt bis hin zu den mit Klingen bewehrten Stangen, mit denen man ebenso elegant und wild kämpfen konnte wie mit einem Schwert.
Nicht dass er dies Daemon gegenüber erwähnen würde. Noch nicht.
Saetans Reaktion bestand aus einem leisen schnaubenden Lachen. Doch er hatte den Blick weiterhin unverwandt auf das Feuer gerichtet. »Damals konnte Daemon sich nicht gegen dich behaupten, also arbeitete Prothvar mit dir, brachte dir die Bewegungsabläufe bei und wie man die Waffen hält. Er ließ sogar extra eyrische Waffen mit stumpfen Klingen für dich anfertigen, die nicht zu schwer für Kinderhände waren.«
Das hatte Prothvar ihm nie erzählt. Oh, man hatte ihm gesagt, sein dämonentoter »Cousin«, bei dem es sich um Andulvars Enkelsohn handelte, sei einer seiner Übungspartner gewesen, als er noch ein Kind war. Doch er hatte nicht gewusst, dass Prothvar derart an seiner frühen Ausbildung beteiligt gewesen war. Und er fragte sich, was aus den kleinen Waffen geworden war. Wahrscheinlich hatte seine Mutter sie weggeworfen, als sie ihn der Hohepriesterin von Askavi übergeben hatte, um ihn vor Saetan zu verstecken – woraufhin sie selbst ihn ebenfalls verloren hatte.
»Du hast ein paar Tage bei mir auf der Burg gewohnt, und Prothvar war auch da, um mit dir zu üben.«
Ein Zittern lag in Saetans Stimme, welches rasch mit seiner üblichen Selbstbeherrschung niedergekämpft wurde.
»Er hatte immer so sehr darauf geachtet, Illusionszauber zu verwenden und das Schlimmste zu verbergen, wenn er mit dir und Daemon zusammen war, obwohl er sowieso immer ein ledernes Wams trug. Ich weiß nicht, wie es dir gelungen ist, aber du hast ihn überredet, dir seine tödlichen Verletzungen zu zeigen. Wahrscheinlich ist es unvermeidbar gewesen. Er war ein älterer Cousin, ein erfahrener Krieger, der auf dem Schlachtfeld ums Leben gekommen war, und du warst noch klein und hattest eher eine romantische Vorstellung von einer Schlacht, statt die bittere und blutige Wirklichkeit zu sehen.«
Lucivar rührte sich nicht. Wagte kaum zu atmen.
Einhundert Mann kehrten aus dem Blutrausch zurück. Fünfzehn von ihnen waren tot.
Die Anfangszeilen der Geschichte von der letzten Schlacht des Dämonenprinzen, der Entscheidungsschlacht in dem Krieg, der Terreille und Kaeleer vor fünfzigtausend Jahren beinahe zerstört hätte. Über Generationen hatten Eyrier einander diese Geschichte erzählt, aber Lucivar hatte sie von den Männern gehört, die tatsächlich dort gewesen waren. Also wusste er, dass Andulvar und Prothvar in der Schlacht gekämpft hatten – und dass sie die Anführer des Heeres gewesen waren, das angetreten war, um Hekatah SaDiablos Versuch zu beenden, die Herrschaft über die beiden Reiche der Lebenden an sich zu reißen. Beide Männer waren so tief im Blutrausch gewesen und so darauf konzentriert, die Schlacht zu gewinnen, dass sie die Hiebe, die sie eigentlich hätten niederstrecken müssen, gar nicht gespürt hatten. Stattdessen hatten sie sich einfach von einem Herzschlag zum nächsten in Dämonentote verwandelt – und sie hatten ihren Feinden die Gurgeln herausgerissen, hatten gierig das Blut verschlungen, um ihr eigenes totes Fleisch zu nähren, während sie töteten und töteten und töteten.
Obwohl Andulvar und Prothvar Yaslana nicht länger zu den Lebenden zählten, änderte der Umstand, dass sie aus dem Blutrausch zurückkehrten, den Lauf der Geschichte der beiden Reiche.
»Es wäre nichts weiter passiert«, sagte Saetan leise, »wenn du nicht gleich im Anschluss in mein Arbeitszimmer gelaufen wärst. Du hast so aufgeregt ausgesehen, dass ich dachte, du seiest gekommen, um mir von einer neuen Technik oder einem neuen Flugkunststück zu erzählen, welche du gemeistert hast. Stattdessen hast du mich gefragt, wann du deine eigenen tödlichen Verletzungen erhalten könntest. Und als ich in dem Augenblick meinen wunderbaren kleinen Jungen angesehen habe, sah ich Andulvar und Prothvar vor mir, wie sie ausgesehen hatten, als sie von jenem Schlachtfeld und aus dem Blutrausch zurückkehrten. Ich habe Mephis vor mir gesehen, bei seiner Ankunft im Dunklen Reich, nachdem er am gleichen Tag gestorben war. Und ich erinnerte mich an die schmerzhafte Suche nach Peyton und Ravenar – und wie schmerzlich es war, nie zu erfahren, was ihnen zugestoßen war. Aber vor allem sah ich Andulvar und Prothvar, und ich konnte dich in ihrer Begleitung sehen – als Junge, als erwachsener Mann -, wie du von einem Schlachtfeld heimkehrst, aber nicht mehr zu den Lebenden gehörst. Und dieser Schmerz war nicht in Worte zu fassen. Nur in ein Geräusch.«
Lucivar schloss die Augen. Die Worte legten sich auf seine Brust, bis sie schmerzte.
Er hatte bereits im Blutrausch auf Schlachtfeldern gestanden – und manchmal war er der Einzige gewesen, der zurückgekehrt war. Deshalb hatte er einen klaren Blick dafür. Der Blutrausch war kein Kampfschauplatz mit sichtbaren Markierungen, aber ein Krieger konnte ihn spüren, wusste genau, ab wann die Grenze überschritten war, kannte die Form des inneren Schlachtfelds. Wenn ein Mann einmal in den Blutrausch geriet, diesen inneren Kampfschauplatz betrat, hatte er sich der Schlacht vollkommen verschrieben. Es gab kein Zurück, kein Ausweichen. Deshalb war der Kampf im Blutrausch von einer Wildheit gekennzeichnet, die alles überstieg, was sich auf einem herkömmlichen Schlachtfeld abspielte. Kriegerprinzen konnten ganz klar zwischen den beiden Dingen unterscheiden.
Nachdem er in die Burg gezogen war, um Jaenelle zu dienen, hatte er eines Abends Prothvar überrascht, bevor sein Cousin sich fertig angezogen hatte. Bevor die Illusionszauber an ihrem Platz waren. Er hatte die Wunden mit den Augen eines Kriegers betrachtet – und dass Prothvar derart verletzt aus dem Blutrausch zurückgekehrt war, sagte ihm mehr über den Krieger, als sämtliche Geschichten, die er in den Jagdlagern über ihn gehört hatte. Als Jugendlicher hatte er geglaubt, die Geschichten über Prothvars Fähigkeiten seien übertrieben, wie Geschichten es nun einmal zu sein pflegten.
Als Mann, der den Körper seines Cousins ansah, hatte er begriffen, dass die Geschichten ihm noch nicht einmal annähernd gerecht wurden.
Er konnte sie sehen, als stände er neben Saetan und warte darauf, dass sie die Grenze überschritten und aus dem Blutrausch zurückkehrten.
Er wartete auf sie.
In dem Augenblick überkam ihn ein Verdacht, und ihm war, als könne er Daemons Lippen an seinem Ohr spüren und die Stimme seines Bruders hören.
Wörter können Waffen sein, und unser Vater ist sehr geschickt mit dieser besonderen Klinge. Sieh hin – und zwar genau. In dem, was er dir nicht gesagt hat, liegt der Grund verborgen, weshalb er dir die Geschichte nicht erzählen wollte.
Also dachte er darüber nach, was er soeben erfahren hatte. Und er dachte über das Wenige nach, was Andulvar über die Schlacht gesagt hatte.
Dann sah er seinen Vater an und dachte: Lügner.
Während Saetan ein Taschentuch herbeirief und sich unauffällig die Nase putzte, trat Lucivar an den Tisch und schenkte Yarbarah in einen Rabenglasbecher ein. Er erwärmte den Blutwein über einer Zunge Hexenfeuer und streckte Saetan dann das Glas entgegen.
Saetan ließ das Taschentuch verschwinden und griff nach dem Becher.
Lucivar ließ das Gefäß nicht los.
Der Widerstand reichte. Er erhielt Saetans ganze Aufmerksamkeit, als er ihm den Becher überließ, nach dem zweiten griff – und ein weiteres Glas Yarbarah erwärmte und einschenkte.
Eyrische Krieger tranken ein kleines Glas Yarbarah im Rahmen mancher Zeremonie, aber normalerweise würde kein lebender Mann je einen ganzen Becher trinken.
Er kehrte zu seinem Stuhl zurück und nippte an dem Blutwein, den Blick unverwandt auf das Gesicht seines Vaters gerichtet.
»Onkel Andulvar hat mir erzählt, dass du dich geweigert hast, in dem Krieg zu kämpfen. Du hast gesagt, als Hüter hättest du kein Recht, dich in die Belange der Reiche der Lebenden einzumischen.«
»Ja«, erwiderte Saetan, dessen Stimme kaum noch ein Flüstern war. »Das habe ich gesagt.«
»Es muss ihn ziemlich geärgert haben, als er aus dem Blutrausch zurückkehrte und dich dort stehen sah, einen Schritt von der Grenze entfernt – der entscheidende Schritt, der dich von dem Kampf getrennt hat.«
Der Hauch eines grimmigen Lächelns erschien auf Saetans Zügen und war im nächsten Augenblick verschwunden. »Ich glaube nicht, dass er mir jemals verziehen hat. Nicht vollständig.«
»Komisch, dass er sich nie Gedanken darüber gemacht hat, warum du überhaupt dort gewesen bist.«
»Es war ein Schlachtfeld voller Männer im Blutrausch, Lucivar. Tausende wurden niedergemetzelt.«
»Also war der Höllenfürst dort, um seinen engsten Freund und dessen Enkel zu finden und ihnen zu helfen, sich in Dämonentote zu verwandeln.«
»Ja.«
Lucivar lächelte nur und sagte: »Lügner.«
Keine Antwort. Nur sichtbare Selbstbeherrschung.
»Ich bin ein genialer Krieger im Blutrausch, und ich glaube, ich durchschaue dich besser, als Andulvar es je getan hat.«
Immer noch keine Antwort. Er erwartete auch keine.
»Die entscheidende Schlacht«, sagte Lucivar sanft. »Der richtige Ort – und die richtigen Männer – die Hekatahs Versuch, die Reiche unter ihre Kontrolle zu bringen, Einhalt gebieten konnten. Der Mann, der Hekatah Einhalt gebieten konnte. Solange Andulvar Yaslana, der Dämonenprinz, Krieger in die Schlacht führen konnte, schwanden Hekatahs Aussichten auf den Sieg mit jedem Kampf. Deshalb musste sie ihn ausschalten, ihn vollständig vernichten.
»Du hattest erklärt, dass du nicht an den Kämpfen teilnehmen würdest. Ein Hüter hat nicht das Recht, sich in die Belange der Lebenden einzumischen. Das hast du gesagt. Du hältst dich an deinen Ehrenkodex, koste es, was es wolle. Sowohl Hekatah als auch Andulvar wussten das.«
»Worauf willst du hinaus, Lucivar?«
Er vernahm die Warnung. Sah etwas Tödliches in den goldenen Augen seines Vaters aufflackern, bevor Saetan seine ganze eindrucksvolle Selbstbeherrschung wiedergewann. Doch er würde nicht aufhören, würde etwas ansprechen, das fünfzigtausend Jahre lang verborgen gewesen war.
»Das Heer, das an dem Tag gegen Andulvar und seine Männer angetreten ist, all die Männer im Blutrausch – sie waren nur Kanonenfutter. Sie sollten die Kraft in Andulvars schwarzgrauen Juwelen aufzehren, ihn verwunden, schwächen, die Männer um ihn her töten. Doch Hekatah hatte nicht erwartet, dass sie siegen würden. Ein weiteres Heer sollte das Schlachtfeld erreichen. Frische Krieger, die dazu ausersehen waren, gegen Überlebende anzutreten, die schon seit Stunden gekämpft hatten. Das waren die Krieger, die die Schlacht gewinnen sollten. Sie sollten siegreich aus dem Blutrausch zurückkehren.
»Doch sie erreichten das Schlachtfeld nie, stimmt’s? Denn sie trafen auf einen anderen Feind. Einen, mit dessen Gegenwart sie nicht gerechnet hatten. Einen, der nicht mit der Klinge kämpfte. Einen, dessen Macht und Können und Wut … Tja, wie du schon sagtest – Tausende wurden niedergemetzelt.«
Er erwartete keine Reaktion von Saetan, und es gab auch keine. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er überhaupt wollte, dass Saetan zugab, gegen den Ehrenkodex verstoßen zu haben.
»Wenn Andulvar, Prothvar und ihre überlebenden Männer an jenem Tag nicht siegreich aus dem Blutrausch zurückgekehrt wären, hätte Hekatah den Krieg zwischen Kaeleer und Terreille gewonnen, und beide Reiche wären zu dem Albtraum geworden, zu dem Terreille viele Jahre später tatsächlich werden sollte.« Lucivar trank einen Schluck Yarbarah als persönliche Ehrbezeigung für die gefallenen Krieger. »Ich werde also nicht fragen, warum du an dem Tag dort gewesen bist. Aber ich danke dir, dass du dort gewesen bist – und dass du den einen vorsichtigen Schritt vom Blutrausch entfernt gestanden hast.«
Sie sahen einander an und wussten beide, dass inmitten des Schweigens der Verrat eines Mannes an sich selbst zwischen ihnen hing – und ein Geheimnis, das ein Geheimnis bleiben würde.
»Gibt es sonst noch etwas?«, wollte Saetan nach einer Weile wissen.
Lucivar starrte in seinen Becher. Es wäre ein Leichtes, es einfach abzutun und nicht anzusprechen. Schließlich fühlten sie sich beide emotional angeschlagen. Aber …
»Ich kann mich nicht an dich erinnern, aber du hast im Laufe meiner ersten Jahre meinen inneren Wesenskern geformt, und deine Leidenschaft und dein Ehrgefühl waren die Schmiede, die diesen Kern unzerbrechlich werden ließen, trotz allem, was danach mit mir geschehen ist. Ich weiß nicht, was ohne das aus mir geworden wäre, aber ich bin mir sicher, ich wäre es nicht wert gewesen, Hexe zu dienen. Dafür möchte ich dir ebenfalls danken, und … ich bin stolz, dich zum Vater zu haben.«
»Genau wie ich stolz bin, dich zum Sohn zu haben«, erwiderte Saetan sanft.
Zeit zu gehen, Junge, bevor du noch ganz rührselig wirst. Mithilfe der Kunst ließ er den Becher zurück auf das Tablett schweben. Dann stand er auf und streckte sich. »Tja, ich mache mich besser auf den Heimweg. »Wenn das kleine Ungeheuer aufwacht, und Marian sich alleine um ihn kümmern muss …« Er runzelte die Stirn.
»Was?«, fragte Saetan.
Lucivar massierte sich das Genick. »Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass ich etwas vergessen habe.«
»Hmm. Tja, entweder fällt es dir von selbst wieder ein, oder du wirst es merken, wenn es dich einholt und dich in den Hintern beißt.«
Lucivar lachte. »Darauf darf ich mich dann wohl freuen.«
Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
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