Kapitel 8
Lucivar stützte sich mit den Ellbogen auf dem
Küchentisch ab, hielt sich den Kopf mit beiden Händen – und drückte
zu.
Was war bloß mit den Rihlanern los, dass sie
unbedingt alles auf Papier festhalten mussten? Und warum
bekam ausgerechnet er diesen Mist geschickt? Wenn Jhinka ein Dorf
in Ebon Rih – oder sonst einem Teil von Askavi – angriffen, wollte
er es erfahren, weil er sich dann in den Blutrausch begeben würde,
um sich der Sache anzunehmen. Aber wozu im Namen der Hölle brauchte
er fünf eng beschriebene Seiten vom Haushofmeister irgendeiner
Königin, die ihn davon in Kenntnis setzen sollten, dass alles in
Ordnung war? Und wenn er sich schon durch diesen Wortsalat
kämpfen musste, warum konnte der Narr, der ihn fabriziert hatte,
nicht wenigstens die Höflichkeit besitzen, leserlich zu
schreiben?
Der Dunkelheit sei Dank, dass Daemon sich um die
gesamten Familiengeschäfte kümmerte. Aus Gründen, die ihm immer
schleierhaft gewesen waren, mochte Daemon Papierkram.
Es machte ihm nichts aus, sich zweimal im Monat zu
treffen, um den Zustand der Besitzungen und das Kapital der Familie
SaDiablo zu besprechen. Diese Treffen waren notwendig, und das
dhemlanische Anwesen, das Teil seines Erbes war, und die Menschen,
die auf dem Land arbeiteten, lagen in seinem Verantwortungsbereich.
Doch Daemon ließ ihn nicht stapelweise verfluchte Papiere lesen,
nur um ihn wissen zu lassen, alles sei in Ordnung.
Normalerweise verglich er die Schreibarbeit, die
für den Kriegerprinzen von Ebon Rih anfiel, mit einem angestoßenen
Zeh: Man biss einfach die Zähne zusammen und bahnte
sich humpelnd einen Weg. Doch heute regnete es, Marian war nicht
da, und Daemonar und ein Wolfsjunges vertrieben sich die Zeit
damit, indem sie im Zimmer nebenan viel Lärm verursachten. Im
Sommer hätte er dem Jungen die Kleider ausgezogen und hätte die
beiden aus dem Haus geworfen, wobei er sich gedacht hätte, dass ein
bisschen Wasser den beiden gewiss nicht schaden konnte – solange es
ihm gelang, den Jungen und den Welpen sauber und trocken zu
bekommen, bevor ihre Mütter heimkehrten. Doch es war ein kühler
Herbsttag und ein kalter Regen fiel. Ihm blieb also nichts übrig
als die Schreibarbeit und den Lärm zu ertragen und …
Klopf, klopf, klopf.
»Ich mach auf!«, rief Daemonar, erhob sich in
Windeseile und rannte auf die Tür zu. »Ich mach auf!«
Aber sicher doch, Junge, dachte Lucivar,
während er sich vom Küchentisch abstieß. Sobald du groß genug
bist, um den Riegel zu erreichen – und die zusätzlichen
Schlösser.
Er machte sich das Leben einfacher, indem er den
Jungen und den Welpen mit einem Schutzschild umgab, das sie davon
abhielt, durch die Tür zu stürmen, sobald er sie öffnete.
Der dhemlanische Jüngling an der Tür war ein
Krieger, der Aquamarin. Er war in eine Botenuniform
gekleidet.
»Ich habe eine Eilzustellung für Prinz Lucivar
Yaslana«, sagte der Krieger und hielt einen cremefarbenen
Briefumschlag empor.
Als Lucivar nach dem Umschlag griff, erschuf er
mithilfe der Kunst einen hautengen roten Schutzschild um seine Hand
und seinen Unterarm. Einen Schild zu erschaffen, bevor er etwas von
einem Fremden entgegennahm, war ihm in Fleisch und Blut
übergegangen. Dass der Krieger die Augen aufriss, verriet ihm, dass
es dem Jungen jedoch nicht in Fleisch und Blut übergegangen
war.
»Du erschaffst keinen Schutzschild, bevor du etwas
von jemandem in Empfang nimmst, den du nicht kennst?«
»Es sind doch bloß Briefe!«
»Und bei Paketen?«
»Manchmal.«
Lucivar starrte ihn an.
»Es würde die Kraft meiner Juwelen ziemlich schnell
erschöpfen, wenn ich bei jeder Sendung einen Schild erschaffe«,
protestierte der Krieger. »Abgesehen davon wird alles an den
Briefstationen überprüft, bevor man uns die Bündel übergibt, die
wir ausliefern sollen.«
Lucivar starrte ihn einfach nur weiter an.
Auf der Stirn des Kriegers bildeten sich
Schweißperlen.
»Erstens«, sagte Lucivar, »erfordert es nur sehr
wenig Kraft, um einen Schild aufrechtzuerhalten, nachdem man ihn
einmal erschaffen hat – außer die Kraft verbraucht sich, weil etwas
den Schild angreift. Zweitens siehst du alt genug aus, um der
Dunkelheit dein Opfer dargebracht zu haben. Es besteht also kein
Grund, weswegen du nicht dein Geburtsjuwel verwenden solltest, um
dich zu schützen, während du die Kräfte deines Aquamarinjuwels
anzapfst, um auf den Winden dieser Farbe zu reisen und deine
Botschaften so schnell wie möglich abzuliefern. Drittens, selbst
wenn du glaubst, die Gefahr sei nur sehr gering, zeugt es von
dümmlicher Arroganz, ohne Schutzschild unbekannte Gefilde zu
betreten – und das ist keine Arroganz, die ich in meinem
Herrschaftsgebiet dulden werde.« Er starrte den Krieger unverwandt
an und wartete ab.
»Dann sollten sich also sämtliche Boten, die nach
Ebon Rih kommen, mit einem Schutzschild versehen, bevor sie die
Briefe entgegennehmen?«, fragte der Krieger nach einer Weile.
»Richtig. Und wenn man achselzuckend darüber
hinweggehen sollte, werde ich jemandem in den Hintern treten – und
ich werde dabei nicht wählerisch sein. Vergiss auf keinen Fall,
diese Botschaft an denjenigen zu überbringen, der das Sagen in der
Briefstation hat.«
»Sehr wohl, Prinz.«
Dem Krieger gelang es, sich so weit zu beherrschen,
dass er steifbeinig den Hof überqueren konnte. Dann stürmte er
Hals über Kopf die Treppenstufen zu dem Landeplatz hinunter, von
dem aus er auf den Aquamarinwind aufspringen und Ebon Rih
fluchtartig verlassen konnte.
Lucivar schloss die Tür und sperrte ab, bevor er
Daemonar und das Wolfsjunge aus dem Schutzschild entließ.
Anschließend ging er in die Küche zurück, wobei er murmelte: »Keine
Schilde? Was bringen sie diesen Jungs bloß bei?« Da der Bote aus
Dhemlan gekommen war, würde er mit Daemon darüber sprechen müssen.
Nein, er würde ihm einen Brief schreiben. Daemon würde
begreifen, wie viel Mühe ihn das gekostet hatte, und das wiederum
würde garantieren, dass die Botschaft die ganze Aufmerksamkeit
seines Bruders erhielt.
Sieh dir das nur einmal an, dachte Lucivar,
während er den Umschlag öffnete. Da ich nun sesshaft und
gesellschaftsfähig geworden bin, jedenfalls mehr oder weniger, kann
ich ein noch größerer Mistkerl sein als früher, ohne auch nur mein
Zuhause verlassen zu müssen.
Er warf einen Blick auf Daemonar und den Welpen,
die dicht beieinandersaßen und sich still verhielten. Die Stille
würde nur ein paar Minuten andauern, also zog er das schwere Papier
aus dem Briefumschlag und warf den Umschlag auf die anderen
Papiere, die bereits auf dem Küchentisch ausgebreitet lagen. Dann
widmete er seine Aufmerksamkeit dem Inhalt des Briefes.
»Deine Gegenwart wird zu einem privaten Rundgang
durch das Spukhaus erbeten«, las er laut. Eine Einladung von
Jaenelle und Marian. Mehr als eine Einladung. »Deine Gegenwart wird
erbeten« war eine Formulierung, die im Protokoll vorkam, und die
sanften Worte änderten nichts an der Tatsache, dass es sich im
Grunde um einen Befehl handelte. Besonders wenn die Worte von
seiner Königin und seiner Ehefrau kamen. Doch …
Lucivar drehte sich um, um auf die Uhr am anderen
Ende der Küchenanrichte zu blicken.
»Beim Feuer der Hölle, Marian«, murmelte er. »Du
hast mir nicht viel Zeit gelassen, jemanden zu finden, der auf das
kleine Ungeheuer aufpasst und ein Dorf mitten in Dhemlan zu
erreichen.«
Er las die Einladung noch einmal durch, und die
Beleidigung, die in den Wörtern mitschwang, ließ ihn in Zorn
geraten. Er war ein Kriegerprinz, und er war der Herrscher von Ebon
Rih. Und diese... Einladung... hatte trotz der formellen und
korrekten Formulierung einen Beigeschmack von Sklave.
Es war egoistisch, ihm diesen verdammten Fetzen
Papier zu schicken; besonders zumal Marian ihm gestern von der
Besichtigung hätte erzählen können, damit er nicht auf Befehl
springen und herumhetzen musste, um jemanden zu suchen, der sich um
den Jungen kümmerte. Hätte es sich um irgendjemand anderen als
Marian und Jaenelle gehandelt, hätte er dieser Person gründlich die
Meinung gesagt. Und vielleicht würde er das auch noch tun, auch
wenn es sich bei der einen Frau um seine Gattin und bei der anderen
um seine Schwester handelte.
Und genau das, verdammt noch mal, blieb ihm beinahe
in der Kehle stecken. Jaenelle und Marian stammten beide
ursprünglich aus Terreille, aber sie hatten sich nie zuvor wie die
Luder verhalten, die in jenem Reich lebten. Bis jetzt.
Er schloss die Augen und zwang sich, ganz langsam
und tief durchzuatmen. Ein Mann ließ sich bei seinen Entscheidungen
nicht von einer Beleidigung lenken, die sich in Worten versteckte.
Ein Mann ließ sich bei seinen Entscheidungen von seiner Ehre lenken
– und vom Protokoll. Deshalb würde er den Befehl befolgen, auch
wenn es in ihm gärte. Er würde seine Frau nicht enttäuschen, und er
würde sich seiner Königin nicht widersetzen. Doch …
Er hatte das Spukhaus noch nicht zu Gesicht
bekommen – die Ladys hatten darauf bestanden, dass Daemon und er
das Haus erst sähen, wenn es fertig war – folglich wusste er nicht
genau, wo sich das verdammte Dorf befand.
Zuerst einmal das Dringendste erledigen. Er musste
jemanden finden, der …
Das Wolfsjunge winselte auf. Daemonar jaulte.
Lucivar schlug die Augen auf und schleuderte die
Einladung
in Richtung der Anrichte, während er sich aufmachte, Junge und
Welpe voneinander zu trennen. Doch noch bevor er diesen ersten
Schritt getan hatte, wusste er, dass es sich nicht um eine der
gewöhnlichen Rangeleien zwischen dem Jungen und dem Welpen
handelte. Binnen der Augenblicke, die er nicht aufgepasst hatte,
hatte sich mehr ereignet, denn Daemonar hatte von echtem Zorn
gepackt die Faust erhoben, und der Welpe hatte die Zähne
gefletscht, und es war klar, dass beides kein leeres Drohgebaren
war.
Angesichts dieser bevorstehenden Katastrophe gab
Lucivar ein Geräusch von sich, das durch den Horst donnerte – das
unverwässerte Urgebrüll eines wütenden erwachsenen, eyrischen
Mannes.
Alle drei versteiften sich.
Als Lucivar den Jungen und den Welpen anstarrte,
die wiederum ihn anstarrten, dachte er: Mutter der Nacht! Ich
klinge wie mein Vater!
Der Gedanke brach etwas in seinem Innern los, wie
ein Stein, der eine Lawine auslöst. Er spürte die Kaskade, spürte
den Druck des Sturmes auf seiner Haut, in seinen Knochen. Es war
nicht abzusehen, was da herannahte und wie lange er es zurückhalten
konnte. Doch die Kinder kamen natürlich an erster Stelle.
Deshalb setzte er sich in Bewegung und nahm
Daemonar auf einen Arm, den Welpen auf den anderen. Er ließ die
Papiere auf dem Küchentisch verschwinden und setzte den Jungen und
den Welpen ab – und sah sich dem nächsten Problem gegenüber,
während er die ganze Zeit über den Sturm krampfhaft
unterdrückte.
Er war allein, sie hingegen waren zu zweit – und es
galt eine gefährliche Erkenntnis zu verhindern, die sich bis in ihr
Knochenmark fressen würde und noch lange nachdem die eigentliche
Erinnerung verschwunden war, vorhanden wäre. Um wen auch immer er
sich zuerst kümmerte, das andere »Kind« würde immer wissen, dass es
nicht so wichtig war, weniger Bedeutung hatte. Und zwischen dem
Jungen und den Wölfen hätte sich für immer etwas geändert.
Also untersuchte er mit der einen Hand den Welpen
und stieß auf eine wunde Stelle, die von einem Tritt herrühren
konnte, während er mit der anderen Hand dem Jungen den Strumpf
herunterzog. Der Welpe hatte Daemonar so fest gebissen, dass die
Haut an der Knöchelinnenseite aufgerissen war. Lucivar strich mit
dem Daumen über den Kratzer, um das Blut wegzuwischen, bevor es
Daemonar auffiel.
»Es ist alles in Ordnung mit euch«, sagte er in der
Hoffnung, besänftigend auf sie einzureden. Allerdings gelang es ihm
nicht, den wilden Zorn ganz aus seiner Stimme zu tilgen. »Nichts
verletzt, nichts gebrochen.« Und keiner von beiden schlimmer
verwundet als der andere. Der Dunkelheit sei Dank!
Er hielt sie beide fest gepackt und hörte mit den
Besänftigungsversuchen auf. »Es ist mir egal, was ihr getan habt.
Es ist mir egal, wer angefangen hat. Wenn das hier noch einmal
vorkommen sollte, dürft ihr nicht mehr miteinander spielen.«
Der Welpe winselte, und Daemonar schob eine
zitternde Unterlippe vor.
Als Lucivar das Kratzen von Krallen auf dem
Steinboden hörte, drehte er den Kopf und erblickte Tassle, der im
Türrahmen stand. Mithilfe einer leichten mentalen Berührung zeigte
er dem Wolf die Erinnerung an das, was soeben vorgefallen
war.
Tassle fletschte die Zähne und knurrte beide Kinder
an.
»Hier«, sagte Lucivar und setzte den Welpen auf den
Boden. »Warum kümmerst du dich heute Nachmittag nicht um deinen
Nachwuchs, und ich sehe zu, dass ich mit meinem fertig
werde?«
Wenigstens hoffte er, dass er sich um seinen Sohn
kümmern können würde. Er hoffte, der Gefühlssturm, den jenes
Geräusch hervorgerufen hatte, würde ihn nicht außer Gefecht
setzen.
Tassle packte seinen Welpen im Genick und
marschierte von dannen.
Lucivar betrachtete die Spur von Welpenurin, die er
wegwischen
musste, dann sah er seinen Sohn an, dem jetzt die Tränen in den
Augen standen. Mit einem Seufzen hob er Daemonar hoch und strich
dem Jungen beruhigend über den Rücken.
»Will Mama«, schniefte Daemonar. »Will Mama
jetzt.«
»Ich auch, mein Junge. Ich auch.«
Er brachte Daemonar in den Salon und ließ sich im
Schaukelstuhl nieder. Das Schaukeln und der Beruhigungszauber, mit
dem er den Jungen belegte, führten dazu, dass Daemonar binnen
kurzer Zeit fest eingeschlafen war.
Sobald sich Lucivar sicher war, dass der Junge
nicht aufwachen würde, rief er eine Flasche mit einer Salbe herbei,
die Jaenelle für »Alltagswehwehchen« hergestellt hatte, und rieb
den Kratzer damit ein, um die Wunde zu reinigen. Gleichzeitig
bediente er sich einfacher Heilkunst, um »alles wieder gut zu
machen.«
Dann ließ er die Flasche verschwinden, schaukelte
seinen Sohn … und widmete sich dem Sturm, der in seinem Innern
tobte.
Es war keine Erinnerung. Nicht wirklich. Mehr als
würde man ein Gefühl erneut durchleben. Er wusste nicht, wo
oder wann, aber er war noch klein. Älter als Daemonar jetzt war,
aber nicht viel älter. Er steckte in dem kleinen Jungenkörper, saß
auf einer Bank, ganz in sich zusammengesunken, während das Echo
jenes Geräusches gegen seine Haut drückte, auf seine
Knochen. Sich in sein Herz rammte.
Die Stimme seines Vaters. Aber das Geräusch hatte
etwas Schreckliches an sich gehabt.
Todesqualen hatten darin mitgeschwungen.
Seine Schuld. Er konnte sich nicht erinnern, warum,
aber dessen war er sich sicher.
Prothvar würde Bescheid wissen.
Der Gedanke trieb ihm die Tränen in die Augen. Er
blinzelte sie zurück.
Prothvar war mittlerweile tot. Wirklich tot. Er war
vor über fünfzigtausend Jahren im Blutrausch ums Leben gekommen, im
Krieg zwischen Terreille und Kaeleer, aber gemeinsam
mit Andulvar und Mephis war er einer der Dämonentoten gewesen, die
das Schattenreich weiterhin beschützt hatten. In gewisser Hinsicht
war der Krieg, dem Jaenelle letztes Jahr ein Ende gesetzt hatte,
ohnehin nur eine Fortführung des ersten Krieges gewesen, da Hekatah
hinter beiden Konflikten gesteckt hatte.
Als Prothvar sein Dasein für Jaenelles Netze
aufgegeben hatte, um die Angehörigen des Blutes davor zu schützen,
wenn Jaenelle ihre gesamte Macht entfesselte, war er in gewisser
Hinsicht auf das letzte Schlachtfeld jenes alten Krieges
getreten.
Prothvar war also mittlerweile tot. Wirklich tot.
Andulvar und Mephis ebenso.
Was immer an dem Tag geschehen sein mochte, als er
seinen Vater dazu veranlasst hatte, jenes donnernde Geräusch von
sich zu geben, hatte sein Leben verändert, hatte ihn
verändert. Dessen war er sich sicher. Jetzt musste er herausfinden,
warum.
Es gab nur einen einzigen Menschen, den er fragen
konnte.
Er schloss die Augen – und spürte, wie ihm eine
einzelne Träne das Gesicht hinunterrann. Er wusste nicht recht, ob
die Träne dem Jungen galt, der er einst gewesen war, oder den
Familienangehörigen, die tot waren.
Während er seinen Sohn wiegte, überkam ihn das
Gewicht jener alten Erinnerung, die nur aus einem Gefühl bestand –
und erdrückte alles andere.
Surreal zog Rainier bei seiner Ankunft
augenblicklich in den Salon des Stadthauses.
»Hast du auch so eine gekriegt?«, fragte sie und
hielt ihm eine cremefarbene Einladung entgegen.
»Nein«, erwiderte er, nachdem er sie gelesen
hatte.
Sein nachdenkliches Stirnrunzeln entging ihr nicht.
»Was?«
»Nun ja, Jaenelle und Marian wissen beide, dass
jeder,
den sie zu dem Rundgang in dem Spukhaus einladen, kommen wird –
besonders sämtliche Familienmitglieder. Warum das Ganze also wie
eine Art Gehorsamsprüfung aufziehen?« Er musterte ihre absichtlich
ausdruckslose Miene. »Königinnen – besonders junge Königinnen –
unterziehen gelegentlich ihren Ersten Kreis einer Prüfung, indem
sie Forderungen stellen, die zwar nicht schädlich sind,
andererseits aber auch nicht sehr rücksichtsvoll formuliert. Der
Wortlaut der Einladung macht einen Teilnahmebefehl daraus, und da
die Besichtigung heute Abend stattfindet, wird von dir erwartet,
dass du jegliche Pläne oder Verpflichtungen über den Haufen wirfst,
die du vorher vielleicht hattest, und dem Befehl Folge
leistest.«
»Vielleicht wollten sie sichergehen, dass die
Einladungen nicht ignoriert werden.«
»Vielleicht.« Doch Rainier wirkte nicht wirklich
überzeugt.
Die Sache klang nicht nach Jaenelle oder Marian,
aber vielleicht waren sie nervös geworden, was die Besichtigung des
Spukhauses betraf, und hatten sich keine Gedanken über die
Formulierung der Einladungen gemacht.
Surreal steckte sich das Haar hinter die spitz
zulaufenden Ohren. »Egal. Uns bleibt nicht viel Zeit, also habe ich
um eine schnelle Mahlzeit gebeten. In ein paar Minuten essen wir.
Ich werde mich inzwischen umziehen. Du sprichst mit Helton und
findest heraus, wo sich dieses Dorf befindet.«
»Surreal.« Rainier sah peinlich berührt aus. »Ich
bin nicht eingeladen.«
»Hast du mir nicht erst kürzlich weismachen wollen,
du würdest mir als offizieller Begleiter zur Verfügung stehen, wann
immer ich einen brauche?«
»Ja, das habe ich gesagt.«
»Dann ist es also abgemacht. Ich werde mich
umziehen, und du findest heraus, wie wir zu dem Spukhaus
kommen.«
Er lächelte sie an, als er die Salontür öffnete.
Sie erwiderte das Lächeln im Vorübergehen. Dann rannte sie die
Treppe
hinauf. Doch vor ihrem Schlafzimmer hielt sie kurz inne. Rainiers
Bemerkung, dass der Wortlaut der Einladung nach einer Prüfung
klang, ging ihr nicht aus dem Kopf – besonders da die Einladung nur
ein paar Minuten vor ihm eingetroffen war, sodass kaum Zeit für ein
rasches Essen blieb, bevor sie aufbrechen mussten.
Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete ihr der Umstand,
dass sie erst neulich von jemandem gehört oder gelesen hatte, dem
eine ähnliche Prüfung gestellt worden war, aber sie konnte sich
nicht entsinnen, wer das gewesen war – oder warum.
Der Horst lag ruhig da. Viel zu ruhig. Außerdem
brannte keine einzige Lampe oder Kerze, obwohl der Regen und die
Wolken die Nacht hier in Ebon Rih früher als gewöhnlich hatten
einbrechen lassen.
Marian ließ die Eingangstür offen, nahm ihren
Umhang ab und hängte ihn an den Kleiderständer. Mithilfe der Kunst
schuf sie eine kleine Kugel Hexenlicht, die sie mitten in das
Zimmer hineinwarf. Dann rief sie das Jagdmesser herbei, das Lucivar
ihr gegeben hatte. Sie hantierte die ganze Zeit in der Küche mit
Messern; aus diesem Grund hatte er entschieden, dass es praktisch
wäre, wenn sie ein Messer als Waffe bei sich trüge.
Es fühlte sich anders an – weil es für einen
anderen Zweck bestimmt war. Doch das konnte sie akzeptieren. Ja,
sie hatte es sogar bereitwillig angenommen. Sie war nicht mehr die
furchtsame Haushexe, die sie bei ihrer Ankunft in Kaeleer gewesen
war, und konnte – und würde – das Messer einsetzen, um ihre Familie
zu beschützen.
Mithilfe der Kunst ließ Marian das Hexenlicht vor
sich her schweben und schlich auf die Küche zu. Dann blieb sie
stehen. Schnüffelte. Senkte das Hexenlicht näher an den Fußboden
und musterte die verräterischen Flecken getrockneten Urins, die
nicht weggewischt worden waren. Sie hob die
Hand und ließ die Kerzen in der Lampe auf dem Küchentisch
aufflammen.
Der weiche Schein der Lampe erfüllte die
Küche.
Nichts war in Unordnung.
Sie ging weiter durch den Horst, vorbei an dem
Zimmer, in dem Lucivar sich seinen Geschäften als Prinz von Ebon
Rih widmete, und auf den Familientrakt zu.
Und dann stieß sie in dem Zimmer, das ihnen als
Familiensalon diente, auf ihren Ehemann und Sohn – ein Zimmer, das
für Erwachsene gemütlich war, gleichzeitig aber auch dem wilden
Herumtoben eins kleinen eyrischen Jungen standhalten konnte.
Lucivar saß in dem Schaukelstuhl. Daemonar lag auf seinem Schoß.
Beide schliefen fest.
Marian betrachtete den Türrahmen. Sie konnte ein
ganz leichtes Vorhandensein von Macht spüren. Der Schutzschild um
das Zimmer würde Lucivar warnen, sobald jemand oder etwas die
Türschwelle überquerte. Und sobald das passierte, noch bevor er
ganz wach war oder die Augen aufgeschlagen hatte, wäre er
angriffsbereit.
*Lucivar*, rief sie sanft an einem mentalen Faden
entlang.
Sein Atem ging anders und verriet ihr, dass er wach
war und bei vollem Bewusstsein. Er öffnete die Augen nicht, doch er
ließ den Schild sinken, sodass sie das Zimmer betreten
konnte.
Sie ging in das Zimmer, rief die Kugel Hexenlicht
zurück zu ihrer Hand und legte sie dann in eine Schale aus farbigem
Glas, die auf einem Tisch in der Nähe der Tür stand.
Als sie das Zimmer durchquerte, schlug Lucivar die
Augen auf. Einen Moment lang war da verblüffter Ärger zu sehen, als
sei er aus irgendeinem Grund wütend auf sie gewesen, könne sich
jetzt aber nicht mehr entsinnen, weshalb. Dann sah er ihre rechte
Hand an – und lächelte.
Verwirrt über seine Heiterkeit, blickte sie nach
unten.
»Es ist dunkel und still gewesen«, sagte sie mit
einem Schnauben, während sie das Jagdmesser verschwinden
ließ.
Lucivars Lächeln wurde breiter. »Hast du Angst um
mich gehabt, mein Schatz?«
»Vielleicht.« Sie beugte sich hinab, legte ihm eine
Hand auf die Schulter, während sie mit der anderen leicht den Kopf
ihres Sohnes berührte, und gab Lucivar einen zärtlichen Kuss.
»Sollte ich fragen, wieso ihr beiden so müde seid, dass ihr um
diese Zeit schlaft?«
»Du willst es nicht wissen.«
Sie glaubte ihm aufs Wort.
Lucivar wandte den Kopf und sah aus dem Fenster.
»Die Sonne ist untergegangen.«
»Das ist sie, ja.«
Er blickte auf Daemonar hinab. »Sollen wir ihn
aufwecken, damit er erst später schläft, oder ihn einfach ins Bett
bringen und akzeptieren, dass der morgige Tag sehr, sehr früh
beginnen wird?«
»Bist du in der Verfassung, mit ihm fertig zu
werden?«
»Nein.« Es klang wie ein Stöhnen. »Außerdem muss
ich zum Bergfried fliegen und mit dem Höllenfürsten
sprechen.«
»Dann lass ihn uns zu Bett bringen. Ich habe in der
Taverne vorbeigeschaut und habe uns Abendbrot mitgebracht. Wir
können essen, wenn du zurückkommst.«
Lucivar verlagerte Daemonar und erhob sich.
»Schön.« Als sie den Türrahmen erreichten, blieb er stehen.
»Was?«, erkundigte sich Marian.
Lucivar starrte ins Leere. »Keine Ahnung. Bloß … Es
ist ein ereignisreicher Nachmittag gewesen, und ich habe das
Gefühl, dass ich etwas vergessen habe.«
Lucivar betrat den kleinen Salon im Bergfried und
schätzte binnen weniger Sekunden die Situation ein. Die Vorhänge
waren zugezogen. Ein loderndes Feuer brannte im Kamin, und
reichlich Holz lag in dem kupfernen Korb. Alles war behaglich für
eine kalte, verregnete Nacht hergerichtet. Sein Vater trug einen
wollenen Morgenrock über Hemd und Hose und Haus- anstatt von
Straßenschuhen. Sein Haar war sauber,
sah aber aus, als sei es nicht mit einer Bürste, sondern mit den
Fingern gekämmt worden.
Nicht ungepflegt, entschied er. Lediglich
bequem.
»Ich habe keinen Besuch erwartet«, sagte Saetan
trocken.
Lucivar zuckte mit den Schultern und beäugte dann
das Buch in Saetans Schoß. »Wird Marian dieses Buch lesen
wollen?«
»Wahrscheinlich.«
»Pfff.«
Das Geräusch brachte Saetan zum Lächeln, als er das
Buch zuklappte und auf einen Tisch neben ein Tablett legte, auf dem
sich eine Karaffe mit Yarbarah, eine Karaffe Brandy und zwei
Rabenglasbecher befanden. »Wenn du mit einer Frau zusammenleben
möchtest, musst du auf den Strömungen ihrer Launen reiten, mein
Junge.«
Lucivar hob einen hölzernen Stuhl hoch, der an der
Wand stand und brachte ihn dorthin, wo Saetan saß. Dann setzte er
sich rittlings darauf, die Arme auf die Rückenlehne gestützt. »Wir
haben mittlerweile einen Code. Wenn Marian vermutet, dass die
Geschichte sie zum Weinen bringen wird, legt sie einen polierten
Stein auf den Tisch neben ihren Sessel. Wenn ich den Stein sehe,
soll ich sie weinen lassen, ohne mich groß um sie zu
kümmern.«
»Du erträgst es sicher nicht, im Zimmer zu bleiben,
wenn das passiert, oder?«
»Nein.«
Eine lange Pause entstand. Dann sagte Saetan: »Was
beschäftigt dich, Lucivar?«
Er erzählte Saetan von Daemonar und dem Wolfsjungen
– und sah Wachsamkeit in den Augen seines Vaters auflodern.
»Ich kann mich nicht an dich erinnern«, sagte
Lucivar, der das Gefühl hatte, vorsichtig sein zu müssen. »Ich kann
mich nicht an die frühen Jahre erinnern, in denen du da gewesen
bist. Daemon kann sich an etwas mehr erinnern, glaube ich, und wenn
er mir von etwas erzählt, kann ich manchmal die restlichen Lücken
füllen, wie bei einer Geschichte, die ich
vor langer Zeit gehört habe.« Er hielt inne. »Ich kann mich nicht
an dich erinnern, aber ich erinnere mich an dieses Geräusch. Obwohl
ich es gewesen bin, der es heute Nachmittag ausgestoßen hat, und es
nicht das Gleiche gewesen ist, nicht wirklich jedenfalls, habe ich
die Erinnerung an jenes Geräusch gespürt, das gegen meine Haut
drückte und auf meinen Knochen lastete. Es ist mehr als das
gewöhnliche Gebrüll, das einen Jungen davon abhalten soll, eine
Dummheit zu begehen.«
Keine Antwort. Nur ein heftiger – und sichtbarer –
Versuch, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren.
»Komm schon«, sagte Lucivar. »Du hast uns schon
etliche Geschichten aus der Zeit erzählt, als Daemon und ich noch
klein waren.«
Immer noch keine Antwort. Dann fragte Saetan eine
Spur zu sanft: »Und diese Geschichte musst du unbedingt auch noch
in Erfahrung bringen?«
Oh, die Formulierung gefiel ihm ganz und gar nicht,
und er konnte die Warnung heraushören, aber er nickte trotzdem.
»Ja. Ich muss.«
Saetan drehte den Kopf zur Seite und starrte ins
Feuer. Lucivar wartete.
»Schon als kleiner Junge bist du ein
ausgezeichneter Krieger gewesen«, sagte Saetan, den Blick immer
noch auf das Feuer gerichtet. »Andulvar sagte, du seiest der Beste,
den er je zu Gesicht bekommen hätte, und wenn du heranwachsen und
die zu deinen Instinkten passende körperliche Kraft haben würdest,
könntest du alles überwinden, das sich dir in den Weg
stellt.«
Das war ein großes Kompliment, zumal es vom
Dämonenprinzen kam. Doch es gab mehr als die eine Art des Kampfes,
und Andulvar hatte nie in Daemons Augen geblickt, wenn der Sadist
eiskalt geworden war. Hätte er es getan, dann hätte er gewusst,
dass es einen Menschen gab, gegen den nicht einmal ein
schwarzgrauer eyrischer Kriegerprinz antreten und es überleben
konnte.
»Du und Daemon …« Saetan strich sich mit einem
Finger
über die Stirn, während sich sein Mund zu einem grimmigen Lächeln
verzog. »Selbst als ihr noch so jung wart, habt ihr die Schwächen
des jeweils anderen erkannt – oder was ihr für Schwächen gehalten
habt – und ihr habt daran gearbeitet. In deinem Fall sind es die
Worte gewesen. In seinem … Mutter der Nacht, Lucivar. Es hat Zeiten
gegeben, da wusste ich nicht recht, ob ich mich scheckig lachen
oder euch beiden die Hälse umdrehen sollte. Du hast versucht, ihm
das Kämpfen beizubringen. Und auf beiden Seiten gab es so viel
Frustration, weil ihr nicht begriffen habt, warum dein Bruder nicht
so mit den Waffen umgehen konnte wie du.«
»Es widerstrebt ihm mittlerweile nicht mehr so
sehr, diese Seite des Kampfes zu erlernen«, sagte Lucivar.
Allerdings war Daemons Hauptmotivation beim Erlernen einiger
Schlagfolgen mit den eyrischen Stangen der Umstand, dass Jaenelle
einen Partner benötigte, mit dem sie jeden Tag üben konnte, um
weiterhin ihre Kraft und ihre Muskulatur wieder aufzubauen. Und von
den Übungsstangen war es nur ein kleiner Schritt bis hin zu den mit
Klingen bewehrten Stangen, mit denen man ebenso elegant und wild
kämpfen konnte wie mit einem Schwert.
Nicht dass er dies Daemon gegenüber erwähnen würde.
Noch nicht.
Saetans Reaktion bestand aus einem leisen
schnaubenden Lachen. Doch er hatte den Blick weiterhin unverwandt
auf das Feuer gerichtet. »Damals konnte Daemon sich nicht gegen
dich behaupten, also arbeitete Prothvar mit dir, brachte dir die
Bewegungsabläufe bei und wie man die Waffen hält. Er ließ sogar
extra eyrische Waffen mit stumpfen Klingen für dich anfertigen, die
nicht zu schwer für Kinderhände waren.«
Das hatte Prothvar ihm nie erzählt. Oh, man hatte
ihm gesagt, sein dämonentoter »Cousin«, bei dem es sich um
Andulvars Enkelsohn handelte, sei einer seiner Übungspartner
gewesen, als er noch ein Kind war. Doch er hatte nicht gewusst,
dass Prothvar derart an seiner frühen Ausbildung
beteiligt gewesen war. Und er fragte sich, was aus den kleinen
Waffen geworden war. Wahrscheinlich hatte seine Mutter sie
weggeworfen, als sie ihn der Hohepriesterin von Askavi übergeben
hatte, um ihn vor Saetan zu verstecken – woraufhin sie selbst ihn
ebenfalls verloren hatte.
»Du hast ein paar Tage bei mir auf der Burg
gewohnt, und Prothvar war auch da, um mit dir zu üben.«
Ein Zittern lag in Saetans Stimme, welches rasch
mit seiner üblichen Selbstbeherrschung niedergekämpft wurde.
»Er hatte immer so sehr darauf geachtet,
Illusionszauber zu verwenden und das Schlimmste zu verbergen, wenn
er mit dir und Daemon zusammen war, obwohl er sowieso immer ein
ledernes Wams trug. Ich weiß nicht, wie es dir gelungen ist, aber
du hast ihn überredet, dir seine tödlichen Verletzungen zu zeigen.
Wahrscheinlich ist es unvermeidbar gewesen. Er war ein älterer
Cousin, ein erfahrener Krieger, der auf dem Schlachtfeld ums Leben
gekommen war, und du warst noch klein und hattest eher eine
romantische Vorstellung von einer Schlacht, statt die bittere und
blutige Wirklichkeit zu sehen.«
Lucivar rührte sich nicht. Wagte kaum zu
atmen.
Einhundert Mann kehrten aus dem Blutrausch
zurück. Fünfzehn von ihnen waren tot.
Die Anfangszeilen der Geschichte von der letzten
Schlacht des Dämonenprinzen, der Entscheidungsschlacht in dem
Krieg, der Terreille und Kaeleer vor fünfzigtausend Jahren beinahe
zerstört hätte. Über Generationen hatten Eyrier einander diese
Geschichte erzählt, aber Lucivar hatte sie von den Männern gehört,
die tatsächlich dort gewesen waren. Also wusste er, dass Andulvar
und Prothvar in der Schlacht gekämpft hatten – und dass sie die
Anführer des Heeres gewesen waren, das angetreten war, um Hekatah
SaDiablos Versuch zu beenden, die Herrschaft über die beiden Reiche
der Lebenden an sich zu reißen. Beide Männer waren so tief im
Blutrausch gewesen und so darauf konzentriert, die Schlacht zu
gewinnen, dass sie die Hiebe, die sie eigentlich hätten
niederstrecken müssen, gar nicht gespürt
hatten. Stattdessen hatten sie sich einfach von einem Herzschlag
zum nächsten in Dämonentote verwandelt – und sie hatten ihren
Feinden die Gurgeln herausgerissen, hatten gierig das Blut
verschlungen, um ihr eigenes totes Fleisch zu nähren, während sie
töteten und töteten und töteten.
Obwohl Andulvar und Prothvar Yaslana nicht länger
zu den Lebenden zählten, änderte der Umstand, dass sie aus dem
Blutrausch zurückkehrten, den Lauf der Geschichte der beiden
Reiche.
»Es wäre nichts weiter passiert«, sagte Saetan
leise, »wenn du nicht gleich im Anschluss in mein Arbeitszimmer
gelaufen wärst. Du hast so aufgeregt ausgesehen, dass ich dachte,
du seiest gekommen, um mir von einer neuen Technik oder einem neuen
Flugkunststück zu erzählen, welche du gemeistert hast. Stattdessen
hast du mich gefragt, wann du deine eigenen tödlichen Verletzungen
erhalten könntest. Und als ich in dem Augenblick meinen wunderbaren
kleinen Jungen angesehen habe, sah ich Andulvar und Prothvar vor
mir, wie sie ausgesehen hatten, als sie von jenem Schlachtfeld und
aus dem Blutrausch zurückkehrten. Ich habe Mephis vor mir gesehen,
bei seiner Ankunft im Dunklen Reich, nachdem er am gleichen Tag
gestorben war. Und ich erinnerte mich an die schmerzhafte Suche
nach Peyton und Ravenar – und wie schmerzlich es war, nie zu
erfahren, was ihnen zugestoßen war. Aber vor allem sah ich Andulvar
und Prothvar, und ich konnte dich in ihrer Begleitung sehen – als
Junge, als erwachsener Mann -, wie du von einem Schlachtfeld
heimkehrst, aber nicht mehr zu den Lebenden gehörst. Und dieser
Schmerz war nicht in Worte zu fassen. Nur in ein Geräusch.«
Lucivar schloss die Augen. Die Worte legten sich
auf seine Brust, bis sie schmerzte.
Er hatte bereits im Blutrausch auf Schlachtfeldern
gestanden – und manchmal war er der Einzige gewesen, der
zurückgekehrt war. Deshalb hatte er einen klaren Blick dafür. Der
Blutrausch war kein Kampfschauplatz mit sichtbaren Markierungen,
aber ein Krieger konnte ihn spüren,
wusste genau, ab wann die Grenze überschritten war, kannte die
Form des inneren Schlachtfelds. Wenn ein Mann einmal in den
Blutrausch geriet, diesen inneren Kampfschauplatz betrat, hatte er
sich der Schlacht vollkommen verschrieben. Es gab kein Zurück, kein
Ausweichen. Deshalb war der Kampf im Blutrausch von einer Wildheit
gekennzeichnet, die alles überstieg, was sich auf einem
herkömmlichen Schlachtfeld abspielte. Kriegerprinzen konnten ganz
klar zwischen den beiden Dingen unterscheiden.
Nachdem er in die Burg gezogen war, um Jaenelle zu
dienen, hatte er eines Abends Prothvar überrascht, bevor sein
Cousin sich fertig angezogen hatte. Bevor die Illusionszauber an
ihrem Platz waren. Er hatte die Wunden mit den Augen eines Kriegers
betrachtet – und dass Prothvar derart verletzt aus dem Blutrausch
zurückgekehrt war, sagte ihm mehr über den Krieger, als sämtliche
Geschichten, die er in den Jagdlagern über ihn gehört hatte. Als
Jugendlicher hatte er geglaubt, die Geschichten über Prothvars
Fähigkeiten seien übertrieben, wie Geschichten es nun einmal zu
sein pflegten.
Als Mann, der den Körper seines Cousins ansah,
hatte er begriffen, dass die Geschichten ihm noch nicht einmal
annähernd gerecht wurden.
Er konnte sie sehen, als stände er neben Saetan und
warte darauf, dass sie die Grenze überschritten und aus dem
Blutrausch zurückkehrten.
Er wartete auf sie.
In dem Augenblick überkam ihn ein Verdacht, und ihm
war, als könne er Daemons Lippen an seinem Ohr spüren und die
Stimme seines Bruders hören.
Wörter können Waffen sein, und unser Vater ist
sehr geschickt mit dieser besonderen Klinge. Sieh hin – und zwar
genau. In dem, was er dir nicht gesagt hat, liegt der Grund
verborgen, weshalb er dir die Geschichte nicht erzählen
wollte.
Also dachte er darüber nach, was er soeben erfahren
hatte. Und er dachte über das Wenige nach, was Andulvar über die
Schlacht gesagt hatte.
Dann sah er seinen Vater an und dachte:
Lügner.
Während Saetan ein Taschentuch herbeirief und sich
unauffällig die Nase putzte, trat Lucivar an den Tisch und schenkte
Yarbarah in einen Rabenglasbecher ein. Er erwärmte den Blutwein
über einer Zunge Hexenfeuer und streckte Saetan dann das Glas
entgegen.
Saetan ließ das Taschentuch verschwinden und griff
nach dem Becher.
Lucivar ließ das Gefäß nicht los.
Der Widerstand reichte. Er erhielt Saetans ganze
Aufmerksamkeit, als er ihm den Becher überließ, nach dem zweiten
griff – und ein weiteres Glas Yarbarah erwärmte und
einschenkte.
Eyrische Krieger tranken ein kleines Glas Yarbarah
im Rahmen mancher Zeremonie, aber normalerweise würde kein lebender
Mann je einen ganzen Becher trinken.
Er kehrte zu seinem Stuhl zurück und nippte an dem
Blutwein, den Blick unverwandt auf das Gesicht seines Vaters
gerichtet.
»Onkel Andulvar hat mir erzählt, dass du dich
geweigert hast, in dem Krieg zu kämpfen. Du hast gesagt, als Hüter
hättest du kein Recht, dich in die Belange der Reiche der Lebenden
einzumischen.«
»Ja«, erwiderte Saetan, dessen Stimme kaum noch ein
Flüstern war. »Das habe ich gesagt.«
»Es muss ihn ziemlich geärgert haben, als er aus
dem Blutrausch zurückkehrte und dich dort stehen sah, einen Schritt
von der Grenze entfernt – der entscheidende Schritt, der dich von
dem Kampf getrennt hat.«
Der Hauch eines grimmigen Lächelns erschien auf
Saetans Zügen und war im nächsten Augenblick verschwunden. »Ich
glaube nicht, dass er mir jemals verziehen hat. Nicht
vollständig.«
»Komisch, dass er sich nie Gedanken darüber gemacht
hat, warum du überhaupt dort gewesen bist.«
»Es war ein Schlachtfeld voller Männer im
Blutrausch, Lucivar. Tausende wurden niedergemetzelt.«
»Also war der Höllenfürst dort, um seinen engsten
Freund und dessen Enkel zu finden und ihnen zu helfen, sich in
Dämonentote zu verwandeln.«
»Ja.«
Lucivar lächelte nur und sagte: »Lügner.«
Keine Antwort. Nur sichtbare
Selbstbeherrschung.
»Ich bin ein genialer Krieger im Blutrausch,
und ich glaube, ich durchschaue dich besser, als Andulvar es je
getan hat.«
Immer noch keine Antwort. Er erwartete auch
keine.
»Die entscheidende Schlacht«, sagte Lucivar sanft.
»Der richtige Ort – und die richtigen Männer – die Hekatahs
Versuch, die Reiche unter ihre Kontrolle zu bringen, Einhalt
gebieten konnten. Der Mann, der Hekatah Einhalt gebieten
konnte. Solange Andulvar Yaslana, der Dämonenprinz, Krieger in die
Schlacht führen konnte, schwanden Hekatahs Aussichten auf den Sieg
mit jedem Kampf. Deshalb musste sie ihn ausschalten, ihn
vollständig vernichten.
»Du hattest erklärt, dass du nicht an den Kämpfen
teilnehmen würdest. Ein Hüter hat nicht das Recht, sich in die
Belange der Lebenden einzumischen. Das hast du gesagt. Du hältst
dich an deinen Ehrenkodex, koste es, was es wolle. Sowohl Hekatah
als auch Andulvar wussten das.«
»Worauf willst du hinaus, Lucivar?«
Er vernahm die Warnung. Sah etwas Tödliches in den
goldenen Augen seines Vaters aufflackern, bevor Saetan seine ganze
eindrucksvolle Selbstbeherrschung wiedergewann. Doch er würde nicht
aufhören, würde etwas ansprechen, das fünfzigtausend Jahre lang
verborgen gewesen war.
»Das Heer, das an dem Tag gegen Andulvar und seine
Männer angetreten ist, all die Männer im Blutrausch – sie waren nur
Kanonenfutter. Sie sollten die Kraft in Andulvars schwarzgrauen
Juwelen aufzehren, ihn verwunden, schwächen, die Männer um ihn her
töten. Doch Hekatah hatte nicht erwartet, dass sie siegen
würden. Ein weiteres Heer sollte das Schlachtfeld erreichen.
Frische Krieger, die dazu ausersehen waren, gegen Überlebende
anzutreten, die
schon seit Stunden gekämpft hatten. Das waren die Krieger,
die die Schlacht gewinnen sollten. Sie sollten siegreich aus
dem Blutrausch zurückkehren.
»Doch sie erreichten das Schlachtfeld nie,
stimmt’s? Denn sie trafen auf einen anderen Feind. Einen, mit
dessen Gegenwart sie nicht gerechnet hatten. Einen, der nicht mit
der Klinge kämpfte. Einen, dessen Macht und Können und Wut … Tja,
wie du schon sagtest – Tausende wurden niedergemetzelt.«
Er erwartete keine Reaktion von Saetan, und es gab
auch keine. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er überhaupt
wollte, dass Saetan zugab, gegen den Ehrenkodex verstoßen zu
haben.
»Wenn Andulvar, Prothvar und ihre überlebenden
Männer an jenem Tag nicht siegreich aus dem Blutrausch
zurückgekehrt wären, hätte Hekatah den Krieg zwischen Kaeleer und
Terreille gewonnen, und beide Reiche wären zu dem Albtraum
geworden, zu dem Terreille viele Jahre später tatsächlich werden
sollte.« Lucivar trank einen Schluck Yarbarah als persönliche
Ehrbezeigung für die gefallenen Krieger. »Ich werde also nicht
fragen, warum du an dem Tag dort gewesen bist. Aber ich danke dir,
dass du dort gewesen bist – und dass du den einen vorsichtigen
Schritt vom Blutrausch entfernt gestanden hast.«
Sie sahen einander an und wussten beide, dass
inmitten des Schweigens der Verrat eines Mannes an sich selbst
zwischen ihnen hing – und ein Geheimnis, das ein Geheimnis bleiben
würde.
»Gibt es sonst noch etwas?«, wollte Saetan nach
einer Weile wissen.
Lucivar starrte in seinen Becher. Es wäre ein
Leichtes, es einfach abzutun und nicht anzusprechen. Schließlich
fühlten sie sich beide emotional angeschlagen. Aber …
»Ich kann mich nicht an dich erinnern, aber du hast
im Laufe meiner ersten Jahre meinen inneren Wesenskern geformt, und
deine Leidenschaft und dein Ehrgefühl waren die Schmiede, die
diesen Kern unzerbrechlich werden ließen,
trotz allem, was danach mit mir geschehen ist. Ich weiß nicht, was
ohne das aus mir geworden wäre, aber ich bin mir sicher, ich wäre
es nicht wert gewesen, Hexe zu dienen. Dafür möchte ich dir
ebenfalls danken, und … ich bin stolz, dich zum Vater zu
haben.«
»Genau wie ich stolz bin, dich zum Sohn zu haben«,
erwiderte Saetan sanft.
Zeit zu gehen, Junge, bevor du noch ganz
rührselig wirst. Mithilfe der Kunst ließ er den Becher zurück
auf das Tablett schweben. Dann stand er auf und streckte sich.
»Tja, ich mache mich besser auf den Heimweg. »Wenn das kleine
Ungeheuer aufwacht, und Marian sich alleine um ihn kümmern muss …«
Er runzelte die Stirn.
»Was?«, fragte Saetan.
Lucivar massierte sich das Genick. »Ich werde
einfach das Gefühl nicht los, dass ich etwas vergessen habe.«
»Hmm. Tja, entweder fällt es dir von selbst wieder
ein, oder du wirst es merken, wenn es dich einholt und dich in den
Hintern beißt.«
Lucivar lachte. »Darauf darf ich mich dann wohl
freuen.«